Eigentlich wollte ich zur diesjährigen Berlinale einen Artikel mit dem Titel und Thema „Warum ich nicht mehr zur Berlinale gehe“ (zu Ende) schreiben um ihn an dieser Stelle zu veröffentlichen. Irgendwie hat man ja das Gefühl, sich zu diesem Festivalgroßereignis in Deutschland äußern zu müssen. Und natürlich sich zu erklären, wenn man ewig nur rummotzt, zetert und stänkert – weil es ja doch immer wieder „auch Gutes und Großartiges“ zu sehen gibt. Natürlich gibt es auf der Berlinale auch schöne Filme zu sehen. Aber können die Filme was dafür? Und müssen sie dann unbedingt im Zusammenhang mit der Berlinale erwähnt werden?
Ich hatte einfach keine Lust mehr. Bin zu Hause geblieben. Und wurde krank, habe wenig gemacht. Und es war trotzdem besser, als die letzten 4 Jahre Berlinale. Und geschrieben habe ich dann doch nichts. Denn das war es mir einfach nicht mehr wert: Meine schöne Berlinalefreie Zeit mit sowas zu bekleckern. Wen dennoch interessiert warum, wieso, weshalb – und dass ich hoffentlich wieder erst eine Akkreditierung zur Berlinale nutzen werde, wenn Kosslick abgetreten ist, oder sich das Forum wieder ent-expanded hat (von mir aus das Expanded auch einfach in Forum rückbetitelt wird, und die restlichen Filmchen nach Hause geschickt werden) – kann das ziemlich toll an dieser Stelle nachlesen. Da flut/schwall-redet mir einer förmlich parallel aus der gepeinigten Seele, und auch wenn ich mit Knörer oft in vielem Anderen nicht übereinstimme, gibt es hier keine Zweifel: Ganz genau so ist es! Da liegt der Hund begraben! Danke, danke, danke!
Zum Schluss aber zumindest ein kleiner Auszug aus meinem persönlich-tänzelnden Textversuch mich der Berlinale zu erwehren: „Bye, Bye, Berlinale. Du hast Sehnsüchte in mir geweckt, ich habe mir Hoffnungen gemacht, und Avancen versucht, es lief zunächst auch gar nicht mal so schlecht. Aber schlussendlich hast du mich, trotz aller Bemühungen (deiner- wie meinerseits) enttäuscht, und ich habe dich verlassen. Wir passen wohl einfach nicht zusammen.“
Beim wiederholten Dösen / Stichlesen durch diverse Aufstellungen von Titeln diesjähriger Festivallieblinge, nominell Venedig, entdeckte ich, dass Michele Placido schon wieder einen Gangster-Historienfilm gedreht hat. Nun ist es nicht so, als hätte sich der italienische (Alt-)Superstar als Regisseur bisher exzessiv mit Gangstern und Mafia befasst, doch eine glorreiche Vergangenheit in diversen antimafiösen Werken des großen Damiano Damiani (u. a. EIN MANN AUF DEN KNIEN, ALLEIN GEGEN DIE MAFIA), ebenso wie in Michele Soavis jüngerem Mafiaploitation-Revival ARRIVEDERCI AMORE, CIAO sowie einem krönenden Auftritt als Silvio Berlusconi in Nanni Morettis Polit-Schlomödie DER KAIMAN, wirft doch die Frage auf, was es denn mit diesen Vorlieben dieses italienischen Vaters der Nation auf sich hat. Denn sein neuer Film, VALLANZASCA – GLI ANGELI DEL MALE („Vallanzasca – Die Engel des Bösen“?) ist bereits sein zweiter Gangsterploitationer als Regisseur nach dem stilistisch beschissenen, aber interessant geschriebenen und spaßbringenden Unterweltaufstiegskitsch ROMANZO CRIMINALE, der nun erst fünf Jahre zurückliegt. Ist er vielleicht, so wie einst Gian Maria Volonté, eine Galeonsfigur des engagierten, antimafiösen, roten italienischen Kinos? Filme über die 68iger, den Nachhall des Erdbebens von Aquila oder politische Korruption im Nachkriegs-Italien lassen derartiges vermuten. Oder vielleicht doch nur einer, der mit italienischen Mythen Tiefkühl-Calzoni füllt und sie dann als saucoolen Ramsch dem jubelnden Volk vorwirft? Die obszöne Kunstgewerblichkeit, mit der er seine Filme gerne einschmiert, sowie das nostalgische Machismo seiner perfide mit falben Schönlingen wie Kim Rossi Stuart (übrigens der Sohn von Giacomo „Die toten Augen des Dr. Dracula“ Rossi-Stuart!) besetzten Protagonisten könnten Indizien sein. Oder ist Placido am Ende vielleicht noch einer der alten Recken, die verdienstvoll gegen das Aussterben des Genrekinos in Italien ankämpfen? So wie die nach wie vor aktiven Claudio Fragasso und Dario Argento? Jedoch… Weiterlesen…
Ähnlich wie bereits beim Fazit zum Filmfest München, gibt es nun auch zum Fantasy Filmfest wieder eine Wertungstabelle, die während des Nürnberger Festivals laufend aktualisiert wird. Leider fehlen ausgerechnet unsere beiden einzigen regelmäßigen Filmbewerter Christoph und Alex S. diesmal beim FFF. Trotzdem sind immerhin vier regelmäßige Teilnehmer dabei (darunter auch unser zukünftiger Gastautor Marian), wobei die Filmausbeute allerdings nicht mit dem Filmfest München vergleichbar sein wird, nachdem niemand von uns eine Dauerkarte besitzt. Viel wird daher wohl von spontaner Lust und Stimmung abhängen…
Abkürzungen wie gehabt: () = unter Vorbehalt (wegen Sichtungsumständen, Müdigkeit o.ä.) * = vorher abseits des FFF gesehen ** = wiederholt gesehen sowie: B/C/AS/S = Benjamin/Christoph/Alexander S./Scott
Filmtitel
Alexander P.
Andreas
B/C/AS/S
Marian
Sano
AMER (Hélène Cattet, Bruno Forzani)
6.5 *
8 **
9 * (C) 8 (AS)
8
5
EVIL – IN THE TIME OF HEROES (Yorgos Noussias)
* (B)
THE PACK (Franck Richard)
6 (B)
5
OUTRAGE (Takeshi Kitano)
8
7 (B)
8
6
FROZEN (Adam Green)
2.5
4
5
4
THE APE (Jesper Ganslandt)
6
7
6
DER DOPPELGÄNGER (Christopher Lenke, Philip Nauck)
4
2
4
KABOOM (Gregg Araki)
8.5
5
7.5
THE LOVED ONES (Sean Byrne)
8
7
8
THE KILLER INSIDE ME (Michael Winterbottom)
4
3
7
METROPIA (Tarik Saleh)
6 (S)
SOLOMON KANE (Michael J. Bassett)
3
MONSTERS (Gareth Edwards)
6
7
7 (S)
7
THE HUMAN CENTIPEDE (Tom Six)
9
3.5
2
CENTURION (Neil Marshall)
1
1
6
GALLANTS (Derek Kwok, Clement Cheng)
8.5
BLACK DEATH (Christopher Smith)
5.5
14 BLADES (Daniel Lee)
4
LOVE CRIME (Alain Corneau)
8.5
1.5
RED HILL (Patrick Hughes)
4
WE ARE WHAT WE ARE (Jorge Michel Grau)
6
6
8
IP MAN 2 (Wilson Yip)
6
7
RUBBER (Quentin Dupieux)
7
REYKJAVIK WHALE WATCHING MASSACRE (Julius Kemp)
4.5
5
FOUR LIONS (Chris Morris)
3
3
SYMBOL (Hitoshi Matsumoto)
6.5
8
HARRY BROWN (Daniel Barber)
5
Das Fazit in bewährter Listenform:
***
Alexander P.
Top 5:
1. THE HUMAN CENTIPEDE (Tom Six) 2. CRIME D’AMOUR (Alain Corneau) 3. KABOOM (Gregg Araki) 4. THE LOVED ONES (Sean Byrne) 5. BLACK DEATH (Christopher Smith)
***
Andreas
Top 5 (den zuvor schon in München gesehenen AMER ausgeklammert):
1. CENTURION (Neil Marshall) 2. LOVE CRIME (Alain Corneau) 3. FOUR LIONS (Chris Morris)
Wobei FROZEN und REYKJAVIK WHALE WATCHING MASSACRE nüchtern betrachtet noch weitaus lausiger als FOUR LIONS waren, sich aber durch ihre spaßigen ersten Hälften einen deutlichen Trash-Bonus verdient haben.
***
Marian
Top 5 (alphabetisch):
AMER (Hélène Cattet, Bruno Forzani) THE LOVED ONES (Sean Byrne) OUTRAGE (Takeshi Kitano) SYMBOL (Hitoshi Matsumoto) WE ARE WHAT WE ARE (Jorge Michel Grau)
Flop 3:
1. CENTURION (Neil Marshall) 2. THE HUMAN CENTIPEDE (Tom Six) 3. FOUR LIONS (Chris Morris)
***
Sano
Top 3:
1. KABOOM (Gregg Araki) 2. THE KILLER INSIDE ME (Michael Winterbottom) 3. IP MAN 2 (Wilson Yip)
Flop-Liste gibt’s keine, weil ich zum ersten Mal auf dem FFF keinen schlechten Film gesehen habe. Enttäuschend waren höchstens einzelne Aspekte bestimmer Filme, insgesamt war es aber ein überraschend tolles FFF.
Schon vor einigen Tagen startete das jeden Sommer stattfindende Fantasy Filmfest in Berlin und tourt nun mit über 60 Filmen von 17.8. bis 9.9.2010 durch insgesamt acht deutsche Städte. Zu den präsentierten Filmen gehört unter anderem AMER, den wir nachdrücklich empfehlen möchten und der eindeutig zu den Filmen des diesjährigen Programms gehören dürfte, die am stärksten von einer Kinosichtung profitieren und daher nach Möglichkeit auf der großen Leinwand gesehen werden sollten. Wir sahen den Film bereits beim Filmfest München und ergriffen nach der Vorstellung kurzentschlossen die Gelegenheit, ein Interview mit den Regisseuren Hélène Cattet und Bruno Forzani zu führen, die sich als außerordentlich sympathisch und enthusiastisch erwiesen und im Gespräch den Eindruck bestätigten, dass es sich bei AMER um eine labour of love zweier leidenschaftlicher Giallo-Fans handelt. Weiterlesen…
Schon bei der vorletzten Berlinale hatten wir eigentlich geplant, abschließend eine Wertungs-Übersicht aller von ET-Autoren gesehenen Filme zu erstellen, was damals und auch sonst seither (wie so vieles) dann aber doch bei jeder Gelegenheit aufs Neue im Sande verlief. Beim diesjährigen Münchner Filmfest, bei dem wir zu dritt wohl letztlich rund ein Drittel des über 200 Filme umfassenden Programms abgedeckt haben, klappt es nun aber doch endlich mal. Genauere Anmerkungen zu einzelnen Filmen folgen demnächst vielleicht noch in gesonderten Beiträgen, hier soll es zunächst nur um ein nicht weiter erläutertes Fazit in Form von Wertungen und Listen gehen.
Anmerkung: das 10er Wertungssystem wird von allen drei Bewertern in der Verteilung recht unterschiedlich ausgelegt (die 6 drückt beim Einen womöglich eine ähnliche Wertschätzung wie die 7 eines Anderen aus etc.) und ist insofern natürlich nur bedingt vergleichbar, sondern jeweils vor allem im Kontext der jeweiligen Auslegung zu sehen. Und wie sich von selbst verstehen sollte, ist das alles natürlich auch nicht in Stein gemeißelt.
Abkürzungen: () = unter Vorbehalt (wegen ungünstigen Sichtungsumständen bzw. starker Müdigkeit) * = bereits gesehen gehabt (und beim Filmfest nicht nochmal gesehen) ** = wiederholt gesehen
Filmtitel (gemäß Filmfest-Ankündigung)
Alexander P.
Andreas
Christoph
36 VUES DU PIC SAINT LOUP (Jacques Rivette)
7
8*
8
ACCIDENT (Cheang Pou-Soi)
–
7.5*
9
AMER (Hélène Cattet, Bruno Forzani)
6.5
8
9
DIE AUTOBIOGRAFIE DES NICOLAE CEAUSESCU (Andrei Ujica)
9
8.5
9.5
BELAIR (Bruno Safadi, Noa Bressane)
–
7
–
BERGBLUT (Philipp J. Pamer)
–
–
1
CAFÉ NOIR (Jung Sung-Il)
–
(5)
–
CARLOS (Olivier Assayas)
9.5
–
10
COPIE CONFORME (Abbas Kiarostami)
4
3
–
THE DARK HOUSE (Wojtek Smarzowski)
–
3
–
DES HOMMES ET DES DIEUX (Xavier Beauvois)
6.5
8
–
DEUX DE LA VAGUE (Emmanuel Laurent)
7
–
–
DEV. D (Anurag Kashyap)
–
6
8.5
THE DOUBLE HOUR (Giuseppe Capotondi)
–
–
7
DRAQUILA – ITALY TREMBLES (Sabina Guzzanti)
–
–
6.5
UN DÍA MENOS (Dariela Ludlow)
–
7
–
EIGHTEEN (Jang Kun-jae)
–
7
7.5
THE FOUR TIMES (MIchelangelo Frammartino)
6
7.5
–
GREETINGS FROM THE WOODS (Mikel Cee Karlsson)
–
3.5
–
HOTEL ATLÂNTICO (Suzana Amaral)
–
4.5
–
I TRAVEL BECAUSE I HAVE TO, I COME BACK BECAUSE I LOVE YOU (Marcelo Gomes, Karim Aïnouz)
–
7
–
I WISH I KNEW (Jia Zhang-Ke)
–
6.5
–
ILLÉGAL (Olivier Masset-Depasse)
–
3
(3)
IN THE WOODS (Angelos Frantzis)
6
9
10
JE SUIS HEUREUX QUE MA MÈRE SOIT VIVANTE (Claude & Nathan Miller)
9
6
9.5
LOS JÓVENES MUERTOS (Leandro Listorti)
7
8.5
9
KHARGOSH (Paresh Kamdar)
5.5
3.5
–
DER LETZTE ANGESTELLTE (Alexander Adolph)
6.5
–
7
DAS LETZTE SCHWEIGEN (Baran Bo Odar)
5.5
–
6.5
LIFE DURING WARTIME (Todd Solondz)
–
4.5
–
LIKE YOU KNOW IT ALL (Hong Sang-soo)
–
8*
7.5
LITTLE BABY JESUS OF FLANDR (Gust Van den Berghe)
–
5
–
LOLA (Brillante Mendoza)
–
7*
–
LSD: LOVE, SEX AUR DHOKHA (Dibakar Banejee)
5.5
–
5
MR. NICE (Bernard Rose)
–
6
8
MUNDANE HISTORY (Anocha Suwichakornpong)
–
7
6.5
MY SON, MY SON, WHAT HAVE YE DONE? (Werner Herzog)
6.5
6
8.5
PAJU (Park Chan-ok)
–
7.5
8.5
PERSÉCUTION (Patrice Chéreau)
6.5
5
–
THE PORTUGUESE NUN (Eugène Green)
4
9.5
4
POSSESSED (Yong-Joo Lee)
–
–
6
DIE PRINZESSIN VON MONTPENSIER (Bertrand Tavernier)
9.5
–
–
REDLAND (Asiel Norton)
6
6
8.5
LE REFUGE (Francois Ozon)
6.5
–
–
THE ROAD (John Hillcoat)
–
7
–
SHIT YEAR (Cam Archer)
7
–
–
THE STRANGER’S LAND (Xavier Marrades)
–
7
–
TE CREÍS LA MÁS LINDA… (PERO ERÍS LA MÁS PUTA) (José Manuel Sandoval)
–
8
–
TETRO (Francis Ford Coppola)
7.5
7
9
TODOS VÓS SODES CAPITÁNS (Oliver Laxe)
–
8
–
TRANSIT (Philipp Leinemann)
–
–
6
UNCLE BOONMEE WHO CAN RECALL HIS PAST LIVES (Apichatpong Wheerasethakul)
4.5
9
3.5
UNTER DIR DIE STADT (Christoph Hochhäusler)
3
7
9
VALHALLA RISING (Nicolas Winding Refn)
6.5
6
9.5
DER WANDERER (Avishai Sivan)
–
7
–
WHITE MATERIAL (Claire Denis)
7.5
7.5
–
A WHITE NIGHT (Masahiro Kobayashi)
–
2
4.5
WOMAN ON FIRE LOOKS FOR WATER (Ming Jin Woo)
–
8
–
ZAPPING-ALIEN@MOZART-BALLS (Vitus Zeplichal)
–
–
2
***
Ältere Filme, erstmals gesehen:
DER BALL (Ulrich Seidl)
7.5
–
–
BRÜDER LASST UNS LUSTIG SEIN (Ulrich Seidl)
7.5
–
–
DER BUSENFREUND (Ulrich Seidl)
–
6
7
COPACABANA MON AMOUR (Rogério Sganzerla)
–
9.5
10
EINSVIERZIG (Ulrich Seidl)
7
–
–
GOOD NEWS: VON KOLPORTEUREN, TOTEN HUNDEN UND ANDEREN WIENERN (Ulrich Seidl)
5
–
–
ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT (Rainer Werner Fassbinder)
8.5
–
–
DIE LETZTEN MÄNNER (Ulrich Seidl)
–
–
8.5
LOOK 84 (Ulrich Seidl)
7.5
–
–
DER WIND WIRD UNS TRAGEN (Abbas Kiarostami)
–
(5)
–
ZUR LAGE: ÖSTERREICH IN SECHS KAPITELN (Ulrich Seidl, Michael Glawogger, Barbara Albert, Michael Sturminger)
8
–
–
***
Unsere inoffiziellen Eröffnungs- und Abschlussfilme in Münchner Kinos abseits des Festivals:
DAS LETZTE SCHWEIGEN (Baran Bo Odar, Deutschland 2010) ist schwanger mit zahlreichen Plumpheiten, die man nur schwer gern haben kann, doch über allem steht ein stilistischer Ansatz, der, wenn auch nicht überraschend, so vielleicht zumindest im deutschen Kino der letzten Jahre für sich stehen kann. Tatsächlich handelt es sich – was aus den Ankündigungen nicht unbedingt ersichtlich wird – im Wesentlichen um einen ausgesprochen altmodischen (oder auch: konventionellen) und leider teilweise auch ins Stereotype abgleitenden Polizeithriller. Stereotyp deshalb, weil er auf Drehbuchebene einen verquasten Mix aus deutschem Fernsehkrimi – oder was man damit augenblicklich verbindet – und amerikanischem Killer-Thriller präsentiert. Der sensible, bedächtige Polizeibeamte, der sich gegen einen vorschnellen Vorgesetzten durchsetzen muss, der Ex-Polizist, der seinen Fall nicht loslassen kann und dem Jüngeren zur Hilfe eilt, die Mutter des ersten Opfers, die als tragisches Accessoire am Rand und als sentimentales Ergänzungsstück so unvermeidlich ist… und dann natürlich – und hier überrascht der am positivsten mit Selbstdisziplin – der Mädchenmörder selbst, überragend zwischen unterkühlter Schmierig- und mitleiderregender Leutseligkeit von Ulrich Thomsen gespielt, und sein einstiger Helfer, von Wotan Wilke-Möhring mit seinem üblichen, dicken Anstrich gemimt. Herausragend die Rückblende, in der die beiden in Thomsens Wohnung sitzen und ihre Gefühle, Absichten sowie die vermuteten sexuellen Abgründe auseinander herauszukitzeln versuchen. So punktgenau wie hier ist auch der übrige Film inszeniert, doch nicht selten kann er sich solche Konzentration nicht leisten angesichts eines Drehbuchs, dass dem abstrakten Effekt, der sich auf der Bild- und Tonebene herausbildet, ständig ins Gehege kommt. So „schön“, so gelackt wie hier hat deutsches Unbehagen schon lange nicht mehr ausgesehen, mit solch penetranter Akkuratesse sind die kastenförmigen Bienenwaben von Thomsens Hochhaus ins Scope-Bild gepresst, so agressiv und beklemmend ist der Stilwille des Films und so hochglänzend nahezu alle Bilder, dass sich recht schnell ein entrücktes Gefühl, eine unvermeidliche Distanz einstellt – eine Abbildung von Realität ist das nicht mehr, sondern eine Interpretation. Weiterlesen…
SHIT YEAR ist ein Film des amerikanischen Independentregisseurs Cam Archer, sein zweiter Spielfilm nach dem von Gus van Sant produzierten WILD TIGERS I HAVE KNOWN, der 2006 seine Premiere auf dem Sundance Festival feierte. Seitdem entwickelte der Film sich zu einem kleinen Independent-(Festival-)Hit, der im Juni 2008 von Salzgeber sogar einen kleinen deutschen Kinostart und eine anschließende DVD-Veröffentlichung spendiert bekam. Näheres zu TIGERS hier und hier, einen ersten Eindruck vermittelt auch der Trailer:
SHIT YEAR (zu dem es leider noch keinen Trailer gibt) scheint noch einmal ein ganzes Stück experimenteller geworden zu sein. Der Film wurde auf 16mm und in Schwarz-Weiß gedreht und handelt, so liest man, von einer erfolgreichen Schauspielerin, die ihre Karierre aufgibt und sich in ihre Haus in die Berge zurückzieht – und in der dortigen Isolation feststellt, dass sie mit ihrer Schauspiellaufbahn auch sich selbst aufgegeben hat.
„After making Wild Tigers I Have Known, the first [movie], I started to feel disenchanted by the creative process. I started thinking, what would it be like if I stopped making art. How would that affect my identity? Would I now mean something else? Do I define my work, or does my work define me? Could I exist without it? What I am getting out of it any more? I started to feel that it was losing the thrill that it once had [for me]. I had been obsessed, and I was starting to feel burdened, and that was shitty. I knew I didn’t want to make a movie about a filmmaker [to explore these ideas], but an actress seemed more interesting to me — someone who is already stepping into other identities and removing themselves from themselves. And then I thought, what if that actress is retiring?“ (…) Mehr
Die Hauptrolle in SHIT YEAR spielt Ellen Barkin („played to perfection“ – Variety), die in Deutschland leider nicht so bekannt ist wie in den USA – am Ehesten kennt man sie vielleicht noch aus THE BIG EASY (aber auch aus Solondz‘ PALINDROMES, aus Hills JOHNNY HANDSOME, aus Jarmuschs DOWN BY LAW). Auch mit Blick auf ihre eigene Karriere eine sicher interssante Besetzung.
Jay Weissberg schwärmt in „Variety“ weiter vor allem über die Kameraarbeit:
„Together with d.p. Aaron Platt, he’s [Cam Archer] created a world of striking images that combine elements from such black-and-white photographic masters as Garry Winogrand and Ansel Adams.“
Insgesamt scheint SHIT YEAR in Cannes durchaus gemischt aufgenommen worden zu sein (siehe z.B. Eric Kohn bei Indiewire), es gibt sogar Berichte, dass während den Vorstellungen nicht wenige den Saal verlassen hätten (was in Cannes ja eigentlich nie ein schlechtes Zeichen ist). Für mich klingt SHIT YEAR zunächst aber nach einer sehr spannenden Kombination aus formalem Experimentierwillen und sehr persönlich-reflektivem Inhalt – genug um mir den Film anzusehen.
Als „Mystery-Thriller in der Tradition von M. Night Shyamalan, erzählt als Liebesmelodram“ wird der Film LA DOPPIA ORA auf der Homepage des Münchner Filmfestes beschrieben. Giuseppe Capotondis Regiedebüt gewann auf dem Filmfestival in Venedig 2009 gleich drei Preise, darunter den Coppa Volpi für die beste Darstellerin, der an Ksenia Rappoport ging.
„With this tasty genre piece, first-time director Giuseppe Capotondi proves there is life in Italian cinema beyond ponderous glossy dramas and pneumatic sex comedies. Mixing film noir, thriller, love story and supernatural horror, The Double Hour has some of the dour provincial atmosphere and subtly menacing tone of 2007 Italo murder mystery The Girl by the Lake; but it’s more intricately plotted, and takes us into much more intriguing dream-and-reality territory.“
Was auf dem Papier so klingt, als könnte Capotondi versuchen an einige der atmosphärischen, extravaganten italienischen Genremixe (mit Haupteinfluss des Giallo) der 70er anzuknüpfen, sieht im Trailer schon eher nach einem kühlen, unglamourösen psychologischen Thriller mit Euro-Noir-Anleihen aus:
Capotondi hat vor seinem Debütfilm hauptsächlich Musikvideos gedreht, so dass es nicht verwundert, dass der Soundtrack ziemlich ausgewählt ist und etliche Progressive Rock Bands vereint (u.a. „Godspeed You! Black Emperor“). Dazu hat Pasquale Catalano einen Score komponiert, einige seiner früheren Arbeiten (aus LE CONSEGUENZE DELL’AMORE von Paolo Sorrentino) kann man sich bei Youtube anhören. Klingt ein bißchen nach Philip Glass, aber in der Tat erstmal sehr atmosphärisch und viel versprechend.
Ein amerikanisches Remake soll angeblich auch schon in Planung sein.
Die Reihe „Neue Deutsche Kinofilme“ war 2009 am Tiefpunkt, als die Jury um Caroline Link den Förderpreis Deutscher Film in den Kategorien Regie und Drehbuch nicht vergeben wollte – aus Mangel an geeigneten Kandidaten und weil sie sich durch eine Vorschlagsliste bevormundet fühlte. Insofern wird diese Sektion 2010 sicher besonders im Fokus stehen, zumal die Jury mit u.a. Christian Petzold erneut mit Köpfen besetzt wurde, von denen nicht zu erwarten ist, alles unkritisch abzuwinken, was ihnen in der Reihe so vorgesetzt wird.
Mit dem frisch aus Cannes kommenden UNTER DIR DIE STADT von Christoph Hochhäusler, DER LETZTE SCHÖNE TAG von Ralf Westhoff und DER LETZTE ANGESTELLTE von Alexander Adolph sind schon mal drei Hochkaräter im Programm, die allerdings alle nicht für den „Förderpreis Deutscher Film“ in Frage kommen dürften, da es sich bei allen dreien um relativ erfahrene Regisseure handelt.
Ein möglicher Kandidat für den Preis wäre dagegen DAS LETZTE SCHWEIGEN des HFF München-Absolventen Baran bo Odar, mit dessen Nominierung den Kuratoren der „Neuen Deutschen Kinofilme“ durchaus ein kleiner Coup gelungen sein könnte.
Odars 60-minütiger, in Cinemascope gedrehter Debütfilm UNTER DER SONNE, dessen stylischen Trailer man sich auf der offiziellen Homepage des Regisseurs anschauen kann, war ein Festivaldauerbrenner von Max Ophüls über Sao Paolo bis Slamdance und erhielt hymnische Kritiken der deutschen wie ausländischen Presse (ebenfalls nachzulesen auf der offiziellen Homepage). Ein bißchen wirkt er wie der abgründigere kleine Bruder von Hendrik Handloetgens 80er-Kindheitserinnerung und Beatles-Hommage PAUL IS DEAD. UNTER DER SONNE wurde in Erlangen, dem Ort Odars Kindheit, gedreht.
„Ich bin in einer typischen, deutschen Kleinstadt in den 80er Jahren aufgewachsen. Ein Ort, der überall in Deutschland wieder zu finden ist: Endlose Reihenhaussiedlungen, spießige Kleingärten, die dicht an dicht gereiht sind, heiße Asphaltstrassen, Steintischtennisplatten, leere Garagenhöfe, schreiende Kinder in Schwimmbädern aus Beton, Schürfwunden am Knie, Lakritzschnecken in weißen Papiertüten, Puffreis… Kindheitserinnerungen, die diese Zeit prägen und das Gefühl des Wohlbehüteten und des Sicheren wiedergeben. Aber auch für die Leere und Langeweile, die für diese Zeit steht. Allen geht es eigentlich gut und dennoch stimmt etwas in dieser heilen“ Welt nicht.
Diese Banalität lag wie eine kuschelige Decke über uns, beschütze uns und lag doch schwer auf unseren Schultern. Tauchte man erst einmal unter ihre Oberfläche, entdeckte man ihre erschreckende und gähnende Tiefe und Leere.
Die Entscheidung in meiner Heimatstadt zu drehen, fiel relativ schnell. Schon beim Schreiben des Drehbuches hatte ich ganz bestimmte Orte und Plätze im Kopf, die mir in meiner Jugend über den Weg liefen. So drehten wir die Reihenhaussiedlung und ihre Häuser, dort wo ich selber gewohnt habe: bei meinen Eltern und bei meiner früheren Nachbarin. Auch das Schwimmbad und die darum liegenden Wälder waren Orte, an denen ich meine Kindheit verbrachte.“
Insofern wirkt DAS LETZTE SCHWEIGEN erstmal wie die verlängerte Version von Odars Erstling. Wieder Nikolaus Summerer als Kameramann, wieder Cinemascope, wieder Erlangen und Umgebung als Drehort (siehe Making Of-Bericht hier), wieder die 80er als Ausgangspunkt, wieder die Provinz, ihre Oberflächen und ihre Abgründe. Diesmal aber mit einer ungeheuer prominenten Besetzung: Ulrich Thomsen, Burghart Klaußner, Kathrin Saß, Wotan Wielke Möhring. Der viel versprechende Trailer ist schon seit Monaten online:
DAS LETZTE SCHWEIGEN basiert auf dem Kriminalroman DAS SCHWEIGEN von Jan Costin Wagner, der Teil einer Trilogie um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa ist (also tatsächlich Skandinavien-Krimis von einem deutschen Autor).
Das Breitwandformat, die erfolgreiche Romanvorlage, die internationale Besetzung (wieder mit einem Dänen) wecken Erinnerungen an Anno Sauls unterschätzten, an der Kinokasse leider völlig untergegangenen Thriller DIE TÜR (der in München zufälligerweise im Rahmen der Hommage an Mads Mikkelsen ebenfalls zu sehen sein wird). Zudem war Baran bo Odar Regieassistent bei Maren Ades knallharter Provinzstudie DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN. Diese Kombination in der Verbindung mit Urbildern deutscher Kinogeschichte (von M bis zu ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG) lässt auf jeden Fall hoffen, dass hier ein außergewöhnlicher deutscher Genrefilm entstanden sein könnte.
Die erste Retrospektive (mit dem/der CineMerit-Award-Preisträger/in wird noch eine weitere, vermutlich etwas kleinere folgen) des diesjährigen Münchner Filmfest steht fest: Ulrich Seidl. Und zwar mit allen Kurz- und TV-Filmen. Zitat:
Das FILMFEST MÜNCHEN präsentiert in der Retrospektive erstmalig alle Filme von Ulrich Seidl – eine Werkschau, die 30 Jahre umfasst: Von EINSVIERZIG, Seidls erstem Kurzfilm auf der Wiener Filmakademie, und DER BALL, „der Grund, warum man mich aus der Filmakademie rauswarf“ – bis hin zu aktuellen Projekten. Neben den Kinofilmen werden auch seine für das Fernsehen produzierten Filme (SPASS OHNE GRENZEN, DER BUSENFREUND, DIE LETZTEN MÄNNER u.a.) sowie einige kaum bekannte Kurzfilme zu sehen sein.
Da Cannes-Gewinner UNCLE BOONMEE WHO CAN RECALL HIS PAST LIVES von Apichatpong Weerasethakul eine Co-Produktion des Münchners „Haus der Kunst“ ist, stehen die Chancen nicht schlecht, dass auch er in München zu sehen sein könnte. Zumindest die letzten drei Jahre waren die Gewinner der Goldenen Palme (4 WOCHEN, 3 MONATE UND 2 TAGE, ENTRE LES MURS, DAS WEISSE BAND) auch immer beim Filmfest verteten.