Gespräch mit Hélène Cattet & Bruno Forzani (AMER)



Schon vor einigen Tagen startete das jeden Sommer stattfindende Fantasy Filmfest in Berlin und tourt nun mit über 60 Filmen von 17.8. bis 9.9.2010 durch insgesamt acht deutsche Städte. Zu den präsentierten Filmen gehört unter anderem AMER, den wir nachdrücklich empfehlen möchten und der eindeutig zu den Filmen des diesjährigen Programms gehören dürfte, die am stärksten von einer Kinosichtung profitieren und daher nach Möglichkeit auf der großen Leinwand gesehen werden sollten. Wir sahen den Film bereits beim Filmfest München und ergriffen nach der Vorstellung kurzentschlossen die Gelegenheit, ein Interview mit den Regisseuren Hélène Cattet und Bruno Forzani zu führen, die sich als außerordentlich sympathisch und enthusiastisch erwiesen und im Gespräch den Eindruck bestätigten, dass es sich bei AMER um eine labour of love zweier leidenschaftlicher Giallo-Fans handelt. Der experimentelle und fetischistische Stil des Films, der ihn, wie auch Rochus Wolff in seiner treffenden Kritik erläutert, eher zu einem sinnlichen „Meta-Giallo“ als zum vielfach annoncierten „Neo-Giallo“ macht, stößt allerdings nicht überall auf Gegenliebe. Auch auf Eskalierende Träume gingen die Meinungen durchaus auseinander: während Andreas und Christoph gerade von der extremen Stilisierung und Fetischierung sehr angetan waren, mochte Alex P. den Film zwar grundsätzlich, hätte aber lieber einen klassischen Giallo gesehen, während er gerade der extremen Fetischierung (nicht zuletzt männlicher Körper) weniger abgewinnen konnte und mutmaßte, AMER sei vielleicht eher „ein Giallo für Frauen und Schwule“ (ein Eindruck, den Andreas, sich selbst als Gegenbeispiel einbringend, nicht teilen konnte, auch wenn der Film zweifellos und angesichts seiner Prämisse auch zwangsläufig aus einer weiblichen Perspektive „erzählt“ ist, was ihn natürlich deutlich von vielen eigentlichen Gialli unterscheidet). Im Gespräch mit den Regisseuren wird unter anderem dieser Aspekt aufgegriffen, aber auch auf Vorbilder, Arbeitsweisen und weitere Pläne des Dous eingegangen. Das Interview wurde von Andreas und Christoph gemeinsam geführt, wobei Christoph den größten Teil der Fragen bestritt und mehrfach persönliche Ansichten einbrachte, die nachfolgend durch Ich-Formulierungen in den Fragesätzen gekennzeichnet sind.

Eskalierende Träume: Zunächst würde uns interessieren, ob ihr während der Vorbereitung des Films keine Bedenken hattet, euch mit eurem Langfilm-Debüt einer vermeintlich altmodischen Ästhetik anzunähern, die eindeutig als typisches Produkt der 70iger angesehen wird in ihrer Exzessivität und ihrer extremen Stilisierung?

Bruno: Nein, eigentlich nicht. Wir sind ja schon seit 10 Jahren zusammen und haben diese Ästhetik vor AMER bereits in fünf Kurzfilmen (Anm. d. Red.: u.a. CHAMBRE JAUNE) verwendet. Wir haben all diese Filme mit gleichgesinnten Freunden gedreht und waren uns immer darüber im Klaren, dass wir uns “in einer anderen Zeit” bewegen. Wir sind das gewohnt.

Hélène: Wir haben uns von Kurzfilm zu Kurzfilm dieses Universum aus Klang und Bildern geschaffen und AMER ist eine direkte Weiterführung unserer Kurzfilme.

B: Da er auch eine Art Abschluss unserer bisherigen Kurzfilme darstellt, haben wir uns überhaupt keine Gedanken gemacht, in welcher Zeit wir uns bewegen. Wir lieben dieses Kino. Letztlich hat es uns die Zuversicht und die Kraft gegeben, überhaupt Filme zu machen. Ohne den Giallo könnten wir das gar nicht.

H: Ja, wir lieben die Ästhetik der 70iger, ihre Musik, ihre Mode, ihre Farben, einfach alles. Die Wahrnehmung der 70iger entspricht unserer eigenen Wahrnehmung der Welt.

B: Wir haben AMER in Südfrankreich gedreht, an Orten, an denen ich aufgewachsen bin. Die Gialli sind für mich fast so etwas wie Familienfilme. Viele von ihnen wurden in meiner Gegend gedreht. Meine Mutter und meine Tante waren ähnlich gekleidet und mein Leben spielte sich an den gleichen Orten ab. Daher sind die Bilder der Gialli für mich wie persönliche, intime Bilder meiner eigenen Kindheit.

Eine kleine triviale Frage, weil es sich gerade anbietet: Wurde die alte Villa im Film schon in anderen Filmen als Kulisse verwendet? Uns hat sie stark an eine Villa erinnert, die des Öfteren in Filmen von Jess Franco auftaucht.

B: Nein, in dieser Villa wurde vorher noch nie gefilmt. Sie liegt in der Nähe der Wohnung meiner Eltern und steht seit 25 Jahren leer. Als ich klein war, schlichen meine Freunde und ich häufig um das Haus und fürchteten uns. Wir dachten, es wäre ein Spukhaus, da es ein wenig aussieht wie die Villa in Dario Argentos DEEP RED. Daher hatte dieses Haus für uns etwas sehr Unheimliches, Mystisches an sich, und als wir beschlossen, AMER in meiner Heimatstadt zu drehen, hatte ich endlich die Gelegenheit, mich in dieses Haus zu begeben, sein Inneres zu erforschen – das war…Wow!

Hélène, ich würde gerne noch einmal die Frage wiederholen, die ich dir schon im Kino gestellt habe. Es war faszinierend, einen Film zu sehen, der sich wie ein Giallo anfühlt, jedoch eine weibliche Perspektive einbringt. Bei aller Liebe zum Genre muss man ja doch gestehen, dass viele der klassischen Gialli durchaus auch einen sexistischen, gelegentlich sogar direkt misogynen Anstrich haben. Daher noch einmal: Auf welche Weise fühlst du dich als Frau von der Erotik der klassischen Gialli angezogen?

H: Mich fasziniert es, in den Gialli die Fantasien ihrer männlichen Macher zu sehen und ich mag ihre weiblichen Charaktere wie zum Beispiel Edwige Fenech in DER KILLER VON WIEN oder meine persönliche Lieblingsheroine, gespielt von Florinda Bolkan in A LIZARD IN A WOMAN’S SKIN. Bruno bevorzugt übrigens eher Edwige Fenech. (lacht)
Ich liebe diese Figuren also sehr, aber sie werden immer ausschließlich mit männlichen Augen gesehen und von ihren Regisseuren nie anders gezeigt. Ich wollte ein bisschen tiefer gehen und diesen weiblichen Typus aus einer weiblichen Perspektive zeigen, gerade weil ich diese Figuren so mag.

B: Und natürlich die Rolle des Mannes zu vertauschen, ihn zum Objekt der Begierde zu machen und ihm einen schönen Mord zu bescheren.

H: Genau! (lacht) Einen schön inszenierten Mord an einem Mann, das war sehr wichtig.

Dem kann ich nur zustimmen. Vielen Dank übrigens für die vielen Prachtkerle! (alle lachen) Da sich AMER für mich tatsächlich wie ein ausgesprochen weiblicher Film anfühlte: Wie teilt ihr euch den Regiestuhl?

H: Wir teilen uns nichts. (lacht)

Ihr macht einfach alles gemeinsam?

B: Genau.

H: Das Schreiben war wie ein Ping-Pong-Spiel. Ich habe einen Entwurf geschrieben, ihn Bruno gegeben, er hat ihn überarbeitet, mir wieder zurückgegeben und so weiter. Während der Vorbereitungen haben wir uns dann oft gestritten und viel diskutiert, was schrecklich und sicherlich der unangenehmste Teil der Arbeit war. Aber wir haben alles zusammen erarbeitet und während der Dreharbeiten war dann wieder alles in Ordnung zwischen uns. Auf jeden Fall hat keiner den anderen dominiert.

B: Und da der Giallo ein Genre ist, in dem das Spiel mit Perspektiven eine große Rolle spielt, pendelt der Film auch manchmal hin- und her zwischen meiner männlichen und Hélènes weiblicher Perspektive, es ist ein Wechselspiel.

Genau das haben wir auch als besonders faszinierend empfunden – wie sich diese beiden Perspektiven ständig aneinander reiben.
Wie lange dauerten die Dreharbeiten?

B: 39 Tage.

Aus persönlicher Neugier gefragt: wie viel haben euch die Rechte für die Soundtrack-Stücke von Cipriani, Nicolai und Morricone gekostet? Die italienischen Musikverlage sind ja bekannt für ihre horrenden Forderungen.

B: Das war nicht einfach. Die Verhandlungen haben sich letzten Endes über anderthalb Jahre hingezogen, bis alle Musikrechte geklärt waren.

H: Aber wir wollten einfach unbedingt genau diese Stücke, deshalb war Bruno dabei sehr beharrlich.

Wir waren ziemlich begeistert von der Intensität der Soundeffekte des Titelstücks aus DER SCHWANZ DES SKORPIONS im Vorspann von AMER. Das war vermutlich eine bewusste Neuabmischung?

(Beide lachen)
B: Ja, klar.

Beim Betrachten des Films ist relativ offensichtlich, dass ihr es genossen habt, diesen Film machen zu können. Gab es beim Dreh irgendwelche speziellen Schwierigkeiten oder einen Punkt, an dem ihr dachtet „Oh mein Gott, das läuft alles aus dem Ruder“? Oder wo ihr gemerkt habt, dass ihr manche Dinge nicht wie geplant realisieren könnt, weil etwas dazwischen kam oder nicht genug Geld zur Verfügung stand?

B: Ja, die Vorspann-Sequenz war zunächst ganz anders geplant, aber die Spezialeffekte, die wir im Sinn hatten, wären zu teuer geworden. Wir haben die ursprüngliche Idee dann während des Drehens aufgegeben und uns für eine andere Lösung entschieden.

H: Aber wir sind wirklich glücklich mit der Vorspann-Sequenz, so wie sie jetzt ist. Vielleicht war es letztlich sogar gut, dass wir sie geändert haben.

Wir fanden den Film sehr erotisch, sehr sinnlich, vor allem im mittleren Abschnitt, aber auch im letzten Kapitel. Offensichtlich war das auch euer Ziel. Findet ihr den Film denn selbst erotisch?

B: Auf jeden Fall.

H: Aber es ist kompliziert. Nachdem wir den Film nun schon so oft gesehen haben, fällt es uns schwer, während des Sehens nicht an die Dreharbeiten zu denken. Vielleicht ändert sich das, wenn wir ihn mit etwas mehr persönlicher Distanz in vielen Jahren wieder sehen.

B: Während des Entstehungsprozesses hatten wir auf jeden Fall große Lust, einfach Kino zu machen – tatsächlich all diese Sinneseindrücke zu visualisieren, in Bilder umzusetzen.

H: Wir hatten das Projekt vorab schon sehr genau im Kopf und wussten, wo wir hin wollten.

Jedes Mal, wenn man einen Film sieht, den man wirklich mag, ist man hinterher natürlich neugierig auf die nächsten Projekte der entsprechenden Filmemacher. Habt ihr schon genauere Vorstellungen von eurem nächsten Langfilm, oder widmet ihr euch als nächstes wieder einem Kurzfilm?

B: Tatsächlich arbeiten wir bereits an einem neuen Film, aber wir haben auch schon ein Konzept für einen Kurzfilm, den wir vielleicht machen werden, aber das ist momentan noch nicht sicher. Wir schreiben jedenfalls gerade am Drehbuch eines neuen Kinofilms, der sich erneut um Begehren, Körper und das Giallo-Genre drehen wird – aber diesmal aus einer männlichen Perspektive. Insofern wird er vielleicht nicht ganz so erotisch… (lacht)

Wie lange wart ihr mit dem Schneiden von AMER beschäftigt? Aus wie vielen Einstellungen besteht der Film eigentlich insgesamt?

B: Wir brauchten 10 Wochen für den Schnitt, insgesamt arbeiteten wir mit 2200 Einstellungen.

H: Der Schnitt ging wirklich relativ schnell, was auch nur funktionierte, weil wir schon vorab genaue Vorstellungen hatten, aus welchen Einstellungen sich die Szenen zusammensetzen würden. Wir haben dafür auch genaue Skizzen angefertigt und sogar mit einer Videokamera vorab viele Testaufnahmen gemacht.

Habt ihr bereits als Jugendliche Gialli gesehen, womöglich sogar im Kino?

B: Als Jugendlicher konnte ich sie nicht im Kino sehen, sondern nur auf VHS. In den letzten Jahren hatte ich jedoch Gelegenheit, einige der Filme auch im Kino zu sehen, beispielsweise in Kinematheken oder auf Festivals – ich glaube SUSPIRIA lief 2003 hier beim Filmfest in München.

Wir mussten dafür eine Fahrt nach Wien auf uns nehmen, wo 2007 eine exzellente neue Kopie von SUSPIRIA auf einer riesigen Leinwand in einem 800-Plätze-Kino gezeigt wurde. Überwältigend.

B: Wir sind sehr fetischistisch, was das 35mm-Material und das Kinoerlebnis angeht. Ich habe auch gelegentlich als Filmvorführer gearbeitet, bevor wir mit dem Filmemachen anfingen. Insofern haben wir AMER definitiv für die Kinoaufführung konzipiert.

H: Ja, für die große Leinwand.

B: Aber es ist toll, dass die Bildformate von Filmen heute nicht mehr beschnitten und verstümmelt werden wie zu VHS-Zeiten. Man hat endlich die Möglichkeit, Filme auch zuhause in sehr guter Bild- und Tonqualität zu sehen. Aber wir haben den Film fürs Kino gemacht.

Die Verbesserungen im Heimkino-Bereich sind natürlich wichtig und erfreulich, auch dahingehend, dass Filme wie AMER nur selten einen regulären Kinostart in Deutschland bekommen – aber zumindest wird es nach dem Filmfest München auch im Rahmen des Fantasy Filmfests noch Aufführungen in einigen deutschen Städten geben. Wo wir gerade bei kinotechnischen Aspekten sind: werdet ihr euren nächsten Film wieder auf Super16 drehen?

H: Ja, wir lieben das Format. Es ist in unserem Fall nicht so sehr eine finanzielle Entscheidung, sondern wir lieben einfach die stärkere Körnigkeit und die physische Beschaffenheit des Materials.

Was sind eure Giallo-Lieblingsfilme?

B: Oh, da gibt es eine Menge!

Dann vielleicht anders gefragt: Welcher war der erste Giallo, den ihr gesehen habt, der also gewissermaßen eure Begeisterung entfacht hat?

B: Mein Erster war TENEBRE, als ich 12 Jahre alt war.

H: Mein erster Giallo war auch einer von Argentos Filmen, DEEP RED, den mir Bruno 1998 gezeigt hat.

Angesichts der zahlreichen Großaufnahmen von Augen in AMER hat euch offenkundig auch Lucio Fulci inspiriert.

B: In der Tat, ganz besonders der schon erwähnte LIZARD IN A WOMAN’S SKIN oder NEW YORK RIPPER. Und ZOMBI 2 ist einer meiner Favoriten, ich liebe die Szene mit dem Hai und dem Zombie.

Um wieder auf AMER zurück zu kommen: war der Film erfolgreich in Frankreich und Belgien?

B: In Belgien durchaus, aber in Frankreich hatten wir leider keinen besonders engagierten Verleiher.

H: Aber er war ein großer Kritikererfolg und nach den ersten Besprechungen wurde der Film auch von vielen Zuschauern gespannt erwartet.

Gab es bestimmte Experimentalfilmer abseits des Giallo-Genres, die euch beeinflusst haben?

H: Klar, da gibt es einige, Kenneth Anger zum Beispiel, oder Maya Deren, aber auch einige Experimentalfilme aus den letzten Jahren.

B: Und was die experimentellen Aspekte von Gialli und Italowestern angeht, sind wir auch große Fans von Giulio Questi.

Danach eskalierte das zuvor bereits sehr angenehme und angeregte Gespräch vollends zu einem Nerd-Talk unter vier enthusiastischen Giallo-Fans, bevor die beiden dann leider zu einem anderen Termin weiter mussten…

Das Interview wurde spontan im Juni 2010 in München, Deutschland geführt. Es ist Teil der Prominenz-Initiative von Eskalierende Träume.

Dieser Beitrag wurde am Montag, August 23rd, 2010 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, Andreas, Blog, Christoph, Festivals, Filmschaffende, Interviews veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Gespräch mit Hélène Cattet & Bruno Forzani (AMER)”

  1. Alexander P. on August 23rd, 2010 at 03:17

    Nur um das kurz klarzustellen, weil es in der Einleitung missverständlich formuliert ist: Was mich damals gestört hat, war nicht die Fetischisierung männlicher Körper, sondern die extreme Fetischisierung von Giallomotiven, bzw. des Giallo an sich, die sich aber als Experiment oder auch als etwas Avantgardistisches ausgibt. Ich will damit nicht behaupten, dass sich beides grundsätzlich ausschließt, aber die Art wie im Film beides quasi eins in eins gesetzt wird, als sei reiner Selbstbezug oder Essentialismus schon etwas Gewagtes, Neues, Radikales, Innovatives hat mich gestört. Dass er aus dem Fetischismus auch eine faszinierende Sinnlichkeit gewinnt, steht auf einem anderen Blatt…

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