Er ist schon fast legendär, der Kleinkrieg zwischen Vincent Gallo und Roger Ebert um die völlig missglückte Projektion von The Brown Bunny in Cannes 2003, als Ebert den Film außer sich vor Wut den schlechtesten Film in der Geschichte des Festivals schimpfte. Zwar ist der Streit zwischen den beiden, der zwischenzeitlich in üblen Verfluchungen mündete, längst beigelegt (nicht zuletzt weil Ebert Gallos ein Jahr später in Toronto gezeigte, neue Schnittfassung durchaus gefiel) – den Titel „schlechtester Film in der Geschichte des Fesitvals“ trug The Brown Bunny zumindest in seiner ursprünglichen Version aber weiterhin. Bis dieses Jahr im Wettbewerb von Cannes ein Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza lief, der Ebert dermaßen in Rage versetzte, dass er sich bei Vincent Gallo entschuldigte und den Titel für den miesesten Cannes-Beitrag aller Zeiten an Kinatay weiterreichte. Zwar waren die Zuschauerreaktionen insgesamt nicht ganz so extrem und hasserfüllt wie seinerzeit bei Brown Bunny, doch auch aus Mendozas Film sollen die Leute, so wird zumindest berichtet, in Scharen geflohen sein und nach Ende der Vorstellung ihrem Unmut lautstark Luft gemacht haben.
Dieser Schock wirkte beim französischen Produzenten Didier Costet, der bei der Deutschlandpremiere von Kinatay auf dem diesjährigen Münchner Filmfest anwesend war, sichtlich nach und so bat er das Publikum bereits im Voraus sich doch bitte auf die sicher schockierende Erfahrung einzulassen und nicht gleich aus dem Saal zu rennen. Diese Warnung wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn obwohl einige wenige Zuschauer das Kino vorzeitig verließen (wenn auch nicht mehr als in anderen Vorstellungen), verlief die Projektion ganz ohne Buhrufe und Radau, stattdessen gab es nach dem Film sogar eine recht angeregte Diskussion mit Costet. Interessant wie sich die Wahrnehmungen des Festivalpublikums in Cannes und München zu unterscheiden scheinen, ob das nun an unterschiedlichem Grad an Leidenschaft liegt oder daran, dass in der Münchner Spätvorstellung verhältnismäßig wenige Sektschlürfer bei verhältnismäßig vielen Cineasten (u.a. Fabrice du Welz) anwesend waren, sei mal dahingestellt.
Angeheizt wurde die Kontroverse in Cannes zusätzlich von der Jury um Isabelle Huppert, die Brillante Mendoza den Preis für die beste Regie verlieh. Kinatay setzte damit den Erfolg fort, den das philippinische Kino mit Regisseuren wie Lav Diaz oder Raya Martin seit langem auf westlichen Filmfestivals feiert. Tatsächlich ist der Regiepreis nicht unverdient und die Empörung um den Film nur schwer nachvollziehbar. Die Hauptfigur von Kinatay, Peping, ist ein junger Familienvater und Polizeischüler in Manila, der in der Ausbildung nicht genug verdient, um seine Frau und seine kleine Tochter ernähren zu können und deshalb nachts einem Zuhälter beim Geld eintreiben behilflich ist. Der Film deckt einen Zeitraum von nur 24 Stunden ab und zeigt zunächst Alltagsszenen aus den Straßen von Manila, dann die Hochzeit von Peping, die wegen des Geldmangels sehr unspektakulär verläuft, aber doch den Eindruck einer harmonischen Kleinfamilie vermittelt. Erst im Wechsel vom Tag zur Nacht liegt ein unvermittelter Bruch: die Nachtszenen sind in HD gedreht, grobkörniger, dunkler, hektischer, nervöser als das 35mm-Material, das am Tag zum Einsatz kommt. Dem formalen Bruch folgt ein inhaltlicher, ein Bruch im Leben zweier Menschen, denn in dieser Nacht geschieht etwas für Peping Unerwartetes: eine Prostituierte, die seinem Boss Geld schuldet, wird in ein Auto gezerrt, niedergeschlagen, gefesselt und entführt. Tatsächlich beginnt jetzt eine Tour de Force für Peping und für den Zuschauer, dessen Perspektive eng an die des jungen Polizisten geknüpft ist. Die 30-minütige Fahrt aus dem Rotlichtviertel Manilas in einen ruhigeren Vorort hat Mendoza in Echtzeit gefilmt, die Straßen und Lichter der Stadt ziehen scheinbar endlos vorüber, während am Boden die geknebelte Frau stöhnt und wimmert. Die Gangster lassen in ihren Kommentaren keinen Zweifel, dass sie etwas Schreckliches mit ihr vorhaben und so sitzt Peping auf seinem Sitz, geschockt, gelähmt, zweifelnd, was er tun soll. Er bekommt eine Gelegenheit zur Flucht, um Hilfe zu holen, er zögert aber und lässt sie verstreichen. Es sind quälende Minuten, in denen der Regisseur den Zuschauer ganz mit Peping und seinem moralischen Konflikt alleine lässt, ohne ihm auch nur den Hauch von Distanz zu ermöglichen.
Was Mendoza in Cannes von Roger Ebert und anderen vorgeworfen wurde, war neben technischen Argumenten wie der angeblich unprofessionellen Beleuchtung und Wackelkamera in den Nachtszenen, vor allem die Brutalität und der angebliche Zynismus, mit der der Regisseur der im Film gezeigten Gewalt gegenüberstehe. Kinatay ist allerdings weder brutal, noch zynisch und auch nicht wirklich pessimistisch, er ist im Gegenteil ein zutiefst moralischer und engagierter Film. Dass man die Vergewaltigung, Ermordung und Zerstückelung einer jungen Mutter ohne ironische Brechung, ohne splatterhafte Übertreibung und ohne Verfremdung zeigen kann, dass man noch dazu rigoros und ohne Distanz den Blickwinkel eines erst unfreiwilligen, aber eben doch beteiligten Helfers einnimmt, das scheint offenbar viele Zuschauer zu verstören. Dass die Eskalation von Gewalt und Folter etwas Beiläufiges hat, ist nicht zynisch, sondern ehrlich. Man sollte sich immer wieder vor Augen führen, dass das, was Mendoza zeigt, eigentlich keine mystifizierte Reise ins „Herz der Finsternis“ ist (wie viele Kritiker in ihren Besprechungen suggerierten), die man danach mit einem wohligen Schaudern wieder von sich stoßen kann. Nicht umsonst hat er gerade die düsteren Szenen in HD gedreht, ein Material das man fast instinktiv mit Adjektiven wie „realistisch“ und „dokumentarisch“ in Verbindung setzt, demgegenüber die Szenen am Tag in gestochenem 35mm schon eher etwas Unwirkliches an sich haben. Die Gewalt, die Mendoza zeigt, ist schlicht Alltag – Alltag in Manila, aber auch überall sonst auf der Welt. Und so sehr der Film auch ein Porträt der philippinischen Gesellschaft ist, der Korruption, dem Alltag zwischen postkolonialer Moderne und nur oberflächlich verdrängter Gewalt, so ist er in seinem Kern universal. Die gesellschaftliche und finanzielle Abhängigkeit, die die ethischen Werte des Einzelnen untergräbt, und der fehlende Widerstand dagegen, der sie unwiederbringlich zerstört, das ist kein Thema, das sich auf die Philippinen beschränkt. Dabei ist Kinatay in der Wahl seiner Mittel eigentlich ein einfacher, recht unspektakulärer Film. Was ihn interessant macht, ist die Unbeirrtheit und die Gnadenlosigkeit, mit der Mendoza verdrängte Mechanismen der Gewalt – in der Gesellschaft und in jedem Einzelnen – beobachtet und ans Licht holt. Die Aufregung, die er verursacht hat, liegt vielleicht tatsächlich darin begründet, dass der Film den Zuschauer involviert, ihm keine Ausflüchte und kein Verdrängen lässt, sondern die inneren Konflikte Pepings zu denen des Publikums macht, dass sich den implizierten moralischen Fragen selbst stellen muss.
Es ist wohl leider nicht zu erwarten, dass Kinatay eine große Festival- und Kinokarriere beschieden sein wird, trotz oder wegen des Theaters in Cannes. Umso verdienstvoller, dass das Münchner Filmfest ihn dieses Jahr in seiner neuen Fokus Fernost-Reihe laufen ließ und Mendoza schon seit Jahren fördert und immer wieder einlädt – 2009 gab es mit Serbis sogar noch einen zweiten seiner Filme im Programm. Auf den Philippinen selbst wurde Kinatay zunächst mit einem Aufführungsverbot belegt (Mendoza hat inzwischen erreicht, dass es für fünf Jahre ausgesetzt wird) und auch im westlichen Festival- und Arthausbetrieb, in dem Publikum und Macher nach mehr Realismus im Weltkino rufen und damit meist leider doch nur mehr Selbstbestätigung und Exotismus meinen, wird einem wirklich unbequemen Film wie Kinatay wohl leider nur eine Randstellung beschieden sein.
Der Hollywood Reporter analysiert jedenfalls schon mal in der ihm eigenen, in seiner vollständig auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten schonungslosen Offenheit: “Unlike such other Mendoza works as „Foster Child“ or „Serbis,“ which capture with warmth or exotic social phenomena distinctive to the Philippines, „Kinatay’s“ sketchy slice of crime world nastiness can be found anywhere. This makes it a hard sell even to art houses, as their target audience often looks for stronger cultural flavor.”
Der in unserem Kreise der Mitblogger ja, wie kaum ein anderer Regisseur (außer vielleicht Godard) zum Zankapfel gewordene, von der Mehrheit von uns aber doch mehr oder weniger enthusiastisch gemochte Peter Greenaway scheut sich seit jeher nicht, seine persönliche Sicht auf das Medium Film als Kunstform in Interviews und Vortägen kund zu tun und stilisiert sich seit ca. 20 Jahren, darin stets zwischen Größenwahn und Selbstironie schwankend, zum visuellen Propheten eines „neuen“ Kinos des digitalen Zeitalters.
Seine rekurrenten Beteuerungen, dass das Kino tot sei, kann selbst ich als eingefleischter Fan des großen Maestro schon nicht mehr hören und zum Glück sträuben sich die besten Filme Greenaways gegen die rigiden Systematiken ihres saturnischen Schöpfers, was eigentlich auch in seinem Sinne ist, nur dass ihm dieser selbst manchmal zu entgleiten scheint vor lauter Abgesängen und Nekrologen auf das („alte“) Kino, dem er in seinen polemischeren Tiraden visuelles Analphabetentum bescheinigt.
Ob man diese und andere von Greenaways fixen Ideen wiederum bierernst nimmt und als ästhetischen Faschismus auslegt, oder analog zum Tenor seiner Filme als teils ironische, bewusste provokante Denkanstöße begreift, bleibt jedem selbst überlassen.
Hier seine neuesten Gedankenblasen, usrpünglich übers deutsche Fernsehen durch den Äther gepustet:
Und hier noch als Bonus der recht gut Greenaways bisherige Karriere resümmierende einleitende Beitrag aus Kulturzeit mit einem herrlich pathetischen Sprecher…
„‚It seems very pretty‘ she said when she had finished it, ‚but it’s rather hard to understand!'“
Mit diesem von Alice auf das rätselhafte Gedicht „Jabberwocky“ gemünzten Zitat aus Lewis Carrolls „Through the Looking Glass“ (1872) beginnt „MALPERTUIS“, das Wunschprojekt des Flamen Harry Kümel, den man wohl als filmischen Vertreter des belgischen magischen Realismus bezeichnen könnte, eine Stilrichtung die die Nachkriegsliteratur dieses Landes stark prägte.
Genau wie Carolls tiefsinnigen Nonsens prägt auch Kümels Verfilmung des gleichnamigen Romans (1943) von Jean Ray, dem „belgischen Poe“ das Paradox der Unmöglichkeit gleichzeitig zu erleben und zu begreifen, von Unmittelbarkiet und Reflektion und die verschachtelte Struktur des Films mündet am Ende in den selben Schlussgedanken wie Carrolls zweites Alice-Abenteuer: „Life, what is it but a dream?
Der Matrose Jan (Mathieu Carrière), kommt nach langer Zeit auf See in seiner Heimatstadt an, doch es ist keine Heimkehr des Odysseus, der nach langer Irrfahrt nur eben noch zu Hause in Ithaka Ordnung schafft. Vielmehr begleiten wir staunenden Zuschauer den Seemann nun auf seiner gerade erst beginnenden, sozusagen oneironautischen („traumfahrerischen“) Reise in die labyrinthische Welt von Malpertuis (=“Fuchsbau“), dem unheimlichen Anwesen seines Onkels Cassavius, gespielt von niemand geringerem als Orson Welles, der wohl am Set äußerst unleidlich und betrunken gewesen sein und sich nur mit Regisseur Kümel vertragen haben muss.
Zunächst gerät Jan auf der merkwürdigerweise vergeblichen Suche nach seinem Elternhaus in den nebelverhangenen und fast menschenleeren Gassen von Brügge in den bizarr-bunt ausgestatteten Venus-Club, als er einer Frau in einem wallenden blauen Mantel nachrennt, die er für seine Schwester Nancy (Susan Hampshire) hält. Dabei wird er selbst von zwei rätselhaften Männern beobachtet, die ihm seit seiner Ankunft am Hafen folgen. Er gerät in eine Schlägerei, bei der er niedergeschlagen wird und wacht in den Armen seiner Schwester Nancy, mit der er ein fast inzestuöses Verhältnis zu haben scheint, im Haus seines Onkels Cassavius auf: Malpertuis.
Voller Schrecken darüber, an diesem Ort zu sein, will Jan sofort aufbrechen, doch schließlich überzeugt ihn sein anderer Onkel Charles Dideloo (genial neckisch: Michel Bouquet) zumindest der Verkündung des Testaments des im Sterben liegenden Cassavius beizuwohnen. Nach und nach begegnet Jan den vielen in Malpertuis wohnenden Gestalten, deren bloße profane Menschlichkeit durch ihre geheimnisvolle und teils beängsitgenden Aura eher fraglich ist. Als es zur Testamentverlesung durch den langbärtigen Hausdiener Eisengott (Walter Rilla) kommt, erwartet alle eine unangenehme Überraschung: wer etwas von dem reichhaltigen Erbe erhalten will, darf Malpertuis nie mehr verlassen…
Die zunehmend verworrener werdende Handlung ist im Grunde genommen nur ein loses Gerüst für die märchenhaften und unheimlichen Phantasmagorien die Kümel hier entfesselt: Erotische Begierden in kerzenerleuchteten Bibliotheken, Türen die mal in dieses, mal in ein anderes Zimmer führen, ein etwas übereifriger Taxidermist und schmelzende Kruzifixe sind nur einige der Kuriositäten die uns Kümel in wunderschön komponierten Bilder des späteren „Highlander“-Kameramanns Gerry Fisher vorsetzt und mit unaufdringlicher und subtiler Musik von Georges Delerue („L’important c’est d’aimer“) unterlegt.
Nicht nur für alle Enthusiasten des phantastischen Kinos ist „Malpertuis“ ein wahres Juwel, das seinerzeit zwar in Cannes wie viele große Filme durchfiel, aber zu einem Geheimtipp avancierte und angeblich auch in Deutschland recht gut im Kino lief. Nach „Daughters of Darkness“ (1971) ist dies nun schon das zweite Meisterwerk des (halb)vergessenen Harry Kümel, dass ich gesehen habe und ich freue mich schon auf „De komst van Joachim Stiller“ (1976), das sich als das dritte entpuppen könnte.
Manchmal bringt einem auch die Überzeugung, dass auch zu den problematischten Filmen auf die ein oder andere Weise vielleicht doch ein Zugang zu finden wäre, der sie wenigstens bis zu einem bestimmten Maß zu ihrem Recht kommen lässt, sowie der Wille, eher nach den gelungenen als den misslungenen Seiten zu suchen, nichts mehr. Wider Erwarten ist der neue Film von Jim Jarmusch ein solcher Fall. Nicht, dass ich ein übermäßig großer Jarmusch-Fan wäre (habe allerdings auch nichts gegen ihn), aber der Trailer machte mir tatsächlich viel Lust auf den Film, während der Verriss von Roger Ebert und die Abweisung des Films in Cannes nicht wirklich abschreckten, sondern eher zusätzlich neugierig machten. Viel mehr hatte ich vorab nicht mitbekommen, weil es sich nicht selten als sinnvoll erweist, die eigene Rezeption nicht durch allzu ausgiebige Vorab-Informationen ungewollt im Übermaß beeinflussen zu lassen. Geändert hätte es wohl nichts daran, dass mir „The Limits of Control“ vollkommen schal und tot erscheint. Ein lebloses Konstrukt. Was nicht zwingend etwas schlechtes sein muss, weil sich auch unter einer solchen Maßgabe auf vielerlei Weise Gewinnbringendes entwickeln kann. Das Potenzial dazu ist auch im vorliegenden Fall fast durchgehend vorhanden. Es geht in weiten Teilen des Films um nicht viel mehr als einen mysteriösen namenlosen Mann, der viel läuft und wartet und Kaffee trinkt und gelegentlich andere mysteriöse namenlose Menschen trifft – dann werden Streichholzschachteln ausgetauscht und ein Weisheit suggerierender Spruch gereicht, und das alles in einer Darbietung, die Brücken zu Gangster-, Agenten-, Rache- oder Auftragskiller-Filmen, bevorzugt lakonischer französischer Art, zu schlagen versucht. Dieser äußerst reduzierte inhaltliche Minimalismus, die exzessive Stilisierung des Films und sein verblüffend umfassender Verzicht auf Psychologisierung wären ein ausgezeichneter Ansatz zu einer Reflexion über Zeichensysteme, über Codierungen filmischer Narration und Genre-Mechanismen gewesen. Ein konsequentes Überdrehen der Ästhetik ins Abstrakte, ins Surreale oder zumindest Ambivalente hätte den Stil dabei womöglich ein tragendes Eigenleben entwickelt lassen, in der tatsächlichen Ausführung jedoch läuft die Gestaltung schnell zielsicher auf einen Nullpunkt zu, der keine Möglichkeiten mehr eröffnet und kein Interesse generiert. Die Bilder und Kompositionen lassen an ihrem glatten, öden Hochglanz-Chic alles abperlen, sind in ihrer Leblosigkeit nur noch Behauptung und Demonstration. Bei einer anderen Arbeit von Kameramann Christopher Doyle, „Invisible Waves“, nannte Cargo- und Perlentaucher-Kritiker Ekkehard Knörer eine nicht unähnliche Art der Bebilderung „totgeboren“, was wohl recht treffend ist, mir im dortigen Fall allerdings noch ausgesprochen funktional und erstaunlich stimmig im Sinne einer Entsprechung und Übersetzung von Innen- in Außenwelten erschien (zugegebenermaßen hat ein Zweitsichtungsversuch Zweifel an diesem Eindruck entstehen lassen). Bei „The Limits of Control“ wiederum schlägt all das Gewollte und Drapierte, das um seiner selbst Willen Eingerichtete, Dekorierte, Ausgestellte voll durch, weil der Film sich nicht für Innenwelten, Emotionen oder Zustände interessiert (für Motivation oder Psychologie ohnehin nicht, wobei das keineswegs ein grundsätzlicher Nachteil ist) und zudem mit seiner Absage an jede Art von Lebendigkeit und (sozialem) Wahrhaftigkeitsgehalt dieser Praxis der Bebilderung erst recht den Resonanzboden entzieht, sie stattdessen an einen Gesamtzusammenhang verweist, in den sie sich kaum fügen will, so sehr wie jedes Bild nur für sich selbst steht und nur auf sich selbst gerichtet ist. Die penetrante, plumpe Aufdringlichkeit der (wenigen) Dialoge und der erzählerischen Struktur, die inhaltliche und formale Abläufe immer wieder als nicht zu hinterfragenden, klugen Einfall heraus zu kehren und als nur allzu bewusstes und beabsichtigtes Mittel zu betonen versucht, macht es nicht besser. Weil den Bildern zudem jede Offenheit zum Entrückten, alles Schwebende und Fließende und Uneindeutige abgeht, prallt auch die vom Film und seinen Figuren immer wieder nahegelegte (richtiger: gepredigte) Bedeutungs- und Möglichkeitenvielfalt, etwa ins Eingebildete oder Träumerische hinein, an ihrer sterilen, starren Oberfläche ab. Inhalt und Form lassen jede Kreativität, jeden Einfallsreichtum vermissen, von Verspieltheit ganz zu schweigen. Es ist noch nicht einmal so, dass ich die Dekoration um ihrer Selbst Willen prinziell ablehnen würde (im Gegenteil kann sich daraus mit der entsprechenden Originalität und Leidenschaft Tolles entwickeln), aber in diesem kalten Hochgestylten ist keine Lust, keine Experimentierfreude, kein Fetischismus, stattdessen lediglich Leere und ein mit punktuell forcierter Bedeutungsschwere angereichertes, konstruiertes, uninspiriertes Nichts ohne innere Spannung, ohne Faszinationskraft, Bewegung, Dynamik, Intensität. Eine Totgeburt, fürwahr, die sich spätestens ab der Hälfte zum quälend öden Ärgernis auswächst und jede Lust erlahmen lässt, sich die nichtsdestotrotz mitschwingenden bzw. aufgedrückten Diskurse (ob zur Philosophie oder zur Genre-Historie, denn selbst die Verweise zum Gangsterfilm à la Melville kommen kaum über die Behauptung hinaus) doch irgendwie zu erkämpfen. In seinem Präsentationsduktus ist der Film fast noch schlimmer als die jüngsten Werke von Kim Ki-Duk, und im Gegensatz zu den letzten Ausfällen von Coppola oder Argento noch nicht einmal mit Humor zu nehmen, nicht trotz, sondern gerade wegen all der hier weiterhin vorhandenen technischen Professionalität, die aber den Spielraum des Zuschauers eben nicht erweitert, sondern bis zum Ersticken verengt und limitiert. Kurzum: der Tiefpunkt meines bisherigen Kinojahres, nicht nur eine saftige Enttäuschung, sondern ein Totalausfall, der in der zweiten Hälfte zur Unerträglichkeit tendiert.
(Nachtrag: kurios, dass ich zwar an Knörers „Invisible Waves“-Text dachte, mir aber glatt entging, dass er, wie ich mir eigentlich spätestens nach Ansicht des Films hätte denken können, auch bereits zu „The Limits of Control“ einen Verriss mit ähnlichem Tenor schrieb – und dabei so präzise die entscheidenden Punkte trifft, dass ich mir wohl fast die Hälfte meines Textes hätte sparen und darauf verweisen können. Was soll’s, von diesem Film kann ohnehin nicht oft genug abgeraten werden.)
„Ich möchte Filme machen, die sich wie eine Skulptur anschauen und wie eine Oper anhören… Wenn man nahe an Phoque von Brancusi herangeht, dann kann man von jeder Seite kommen und es ist immer richtig. Genauso habe ich von einem Film geträumt, bei dem man nicht weiß, welches die erste Rolle ist.“
Jean-Luc Godard würde wahrscheinlich eine andere Bezeichnung bevorzugen, aber ich nenne das einfach mal ganz trivial-anglizistisch den Trailer, bzw. den Teaser seines (wie zumindest ich insgeheim hoffe) nicht nur nächsten, sondern auch letzten Lang“films“ SOCIALISME (vorraussichtlich im Cannes-Wettbewerb 2010, nehme ich an).
Meine zugegebenermassen exzessive, aggressiv-ablehnende Haltung zu Godard ist in der Vergangenheit unter mir und meinen werten Mit-Autoren schon häufig Anstoss fuer blutrünstige Diskussionen gewesen und angesichts dieses Clips, der wahrscheinlich den fertigen Film angemessen wiederspiegelt, zweifle ich keinen Moment daran, dass Godard, unter allen lebenden Autorenfilmern mein ganz persönlicher „pain in the ass“, mir in einem Jahr mit diesem „Film“ (sofern ich ihn mir zumuten sollte) ganz ähnliche Tiraden ekstatischen Hasses entlocken wird wie mit NOTRE MUSIQUE vor knapp vier Jahren. Immerhin scheint sich JLG nun auch der allgemeinen HDV-Euphorie angeschlossen zu haben, was natürlich irgendwie interessant ist.
Übernächstes Wochenende, am Samstag, den 6. Juni und Sonntag, den 7. Juni, findet in der Schauburg Karlsruhe das 2. Widescreen-Weekend mit dem Thema „In VistaVision, Technicolor und Perspecta sound“ statt. Nachdem die Schauburg sich mit ihrem alljährlichen und in dieser Form in Deutschland einzigartigen Todd-AO-70mm-Festival (das dieses Jahr nunmehr zum fünften Mal stattfinden wird, traditionell am ersten Oktober-Wochenende) bereits einen Namen gemacht hat, was die Wiederbelebung historischer und heute nahezu ausgestorbener Kinoformate angeht, wird dieses Spektrum seit letztem Jahr mit den immer am ersten Juni-Wochenende stattfindenden Widescreen-Weekends zusätzlich erweitert. Letztes Jahr lag der Schwerpunkt auf CinemaScope und 4-Kanal-Magnetton, dieses Jahr werden im Rahmen des VistaVision-Themas acht Filme gezeigt, darunter Meilensteine dieses Formats wie „Vertigo“ (in einer Restauration als 70mm-Kopie) und selten gezeigte Schätze wie „One-Eyed Jacks“ (als 35mm-Reduktionskopien im Technicolor-Druckverfahren, das im Gegensatz zu alten 70mm-Kopien keinerlei Farbfading verspricht) aufgeführt. Alle wichtigen Informationen zu diesem Festival gibt es an dieser Stelle, für weiterführende Informationen zu VistaVision im Allgemeinen ist zudem das Widescreenmuseum zu empfehlen.
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Was gerade Fragen von Kinohistorie, Technik, Projektion sowie vergangene und zukünftige Umwälzungen hinsichtlich des Kinos als Filmaufführungsort betrifft, gibt es immer wieder interessante Beiträge im Blog „Kinoperspektiven“, dessen ursprünglicher Berliner Fokus sich schnell zu allgemeinen Betrachtungen erweitert hat, gelegentlich allerdings auch in ganz andere Bereiche abschweift.
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Was weniger historisch, sondern eher am aktuellen Betrieb orientierte deutsche Filmfestivals angeht, steht Ende Juni das Filmfest München an. Hinsichtlich des Programms ist bislang lediglich bekannt, dass die alljährliche Retrospektive sich dieses Jahr Stephen Frears widmet und der ebenfalls alljährlich vergebene (und von der Aufführung einiger Werke des jeweils Ausgezeichnenten begleitete) CineMerit-Award an Michael Haneke verliehen wird. Beides nun nicht gerade besonders originelle Entscheidungen, eigentlich sogar, gerade im Zusammenspiel, das am wenigsten spannendste Retro-Angebot des Filmfestes München der letzten Jahre, aber das hängt sicherlich auch mit meiner Auffassung zusammen, dass ich bei Festival-Retrospektiven entweder selten zu sehende (bzw. selten ins Bewusstsein gerückte) Entdeckungen, wie sie in letzten Jahren die Retrospektiven zu Herbert Achternbusch oder der Makhmalbaf-Familie anboten, oder visuell überragende Werke, die von einer Wiederbegegnung auf der großen Leinwand besonders profitieren, bevorzuge. Beides trifft im vorliegenden Fall eher nicht zu, weil beide Filmografien weitgehend problemlos verfügbar und bekannt sind, während mich bei kaum einem der Filme beider Regisseure (obwohl ich einige ihrer Werke sehr schätze) eine Sichtung auf großer Leinwand übermäßig reizt. Aber da hat eben jeder seine eigenen Präferenzen. Andererseits kommt mir das auch recht gelegen, weil ich mich nach der Retro-Dominanz der Berlinale beim Münchner Filmfest ohnehin weitgehend auf die aktuellen Filme konzentrieren wollte. Dahingehend wird sicherlich auch dieses Jahr wieder einiges aus dem Cannes-Programm nachgespielt werden, wobei ich vor allem auf einige Filme der Cannes-Nebensektionen hoffe, während der Wettbewerb trotz vieler großer Namen dieses Jahr nach den Berichten zu urteilen offenbar dann letztlich doch nur wenige große Filme aufzubieten hatte (die ständigen unfertigen Fassungen, wie dieses Mal bei Tarantino und Noé, sind auch so ein Fall für sich) – einen „Vengeance“, „Wild Grass“, „A Prophet“ oder „Antichrist“ würde ich mir aber natürlich dennoch jederzeit gerne anschauen wollen. Noch viel schöner wären allerdings einige der auch dieses Jahr wieder ziemlich grandiosen Cannes-Restaurationen (allen voran natürlich „A Brighter Summer Day“), aber die schaffen es üblicherweise leider nur in den seltensten Fällen nach Deutschland. Ansonsten gibt es das komplette Programm des Filmfestes München ab 10. Juni auf der Homepage, im Rahmen einer Pressekonferenz wird es aber wohl bereits am 4. Juni vorab bekannt gegeben. (Nachtrag: einen ersten groben Überblick über die Filme der einzelnen Sektionen gibt es nun in der Pressemitteilung vom 4. Juni anlässlich der Programm-Pressekonferenz. Konkrete Filmtitel werden darin allerdings nur vereinzelte genannt.)
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Zwei auf ihre Weise bemerkenswerte Trailer sind in letzter Zeit aufgetaucht zu, nun ja, doch eher verwunderlich anmutenden neuen Filmen von Enzo G. Castellari und Werner Herzog.
Zum Einen: der Trailer zu „Caribbean Basterds“, ein offenbar in Venezuela gedrehter „Clockwork Orange“-Rip-Off mit Ego-Shooter-Anleihen, der zunächst eher den Eindruck eines billig runtergedrehten Actioners für den schnellen Videotheken-Verzehr macht. Jedenfalls sieht das nicht gerade nach dem Spätwerk eines erfahrenen Kinoregisseurs aus, sondern eher nach einer durch den DV-Look dezent amateurhaft anmutenden Schlock-Granate, aber gerade die unverhohlene Exploitation-Attitüde inklusive des schönen Einfalls, das falsch geschriebene „Basterds“ von Tarantinos neuem Film zu übernehmen, nachdem Tarantino seinerseits den Titel von Castellaris „Inglorious Bastards“ übernommen hatte, ist vielleicht nicht ohne Reiz und angenehm trashig dürfte das Ganze ohnehin werden (den nun schon seit vielen Jahren geplanten letzten großen Italowestern von Castellari mit Franco Nero würde ich indes sicherlich bei weitem lieber endlich in Produktion gehen sehen), weckt aber auch Erinnerungen an die Flut von preisgünstigen DV-Exploitern, die ein anderer Italo-Exploitation-Veteran, Bruno Mattei, in den letzten Jahren vor seinem Tod (2007) überwiegend auf den Philippinen abgedreht hat.
Zum Anderen: der (Promo-)Trailer zu „Bad Lieutenant“, dem schon seit der ersten Ankündigung vielerseits mit Befremden erwarteten Copfilm von Werner Herzog mit Nicolas Cage. Der Trailer scheint die Aussagen, es würde sich nicht um ein Remake handelt, zu bestätigen, denn die Ähnlichkeiten mit dem Film von Abel Ferrara halten sich, vorsichtig ausgedrückt, offenbar wirklich sehr in Grenzen. Vielmehr stellt der ziemlich unfassbare Trailer mit seinen One-Linern und dem Overacting von Cage ein Werk für die Fußstapfen des „Wicker Man“-Remakes in Aussicht. Ein (womöglich auch in der ein oder anderen Weise durchaus beabsichtigter, im Sinne von humorig angelegter) wahnwitzig-bizarrer Totalausfall wäre vermutlich auch reizvoller als ein lahmer Geht-so-Film. Wirklich Gutes verspricht dieser Trailer jedenfalls wahrlich nicht, Spaß macht er dafür umso mehr…
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Und in eigener Sache: ja, noch immer sind die Eskalierenden Träume noch nicht wirklich in Schwung gekommen, noch immer gibt es kein halbwegs brauchbares eigenes Blogdesign (oder wenigstens einen Banner), und noch immer gibt es technische Probleme. Zwar gibt es durchaus Absichten, das in Angriff zu nehmen, aber bei einem gerade in seiner Gesamtheit eben doch recht lethargischen und chaotischen Haufen (von dem so mancher, ich bspw., auch immer wieder mal in diesem fiesen Kreislauf steckt 😉 ) liegen Absichten und Taten halt manchmal etwas auseinander. Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel der diesjährigen Berlinale, die vier von uns durchgehend besucht haben, und eigentlich war geplant, zeitnah dann auch vier verschiedene Rückblicke zur Berlinale zu posten. Was wurde daraus? Drei Monate später hat keiner von uns Vieren auch nur eine Zeile Rückblick geschrieben – das spricht wohl für sich… Deshalb lässt sich auch weiterhin wohl nicht wirklich absehen, wann hier regelmäßiger als bisher Leben in der Bude ist bzw. das Ganze überhaupt mal wirklich startet. Mal sehen, was die nächsten Monate bringen, zumindest gibt es schon ein paar neue Ideen, und potenzielles Material in Form von selbst geführten Interviews und angefangenen Essays haben ein paar der Aktiven ohnehin bereits zu Genüge angesammelt, und dieses Material wird hoffentlich auch Verwendung finden. Nun, diese Anmerkungen nur mal am Rande.
Das Wesen der liebenswerten, deutschen Filmkritik – deutsch und brilliant auf den Punkt gebracht von Loriot:
Ich bin auf der Seite des Herrn mit dem krausen Haar – solche Oberflächlichkeit, solch triviales Verlangen nach Unterhaltung muss mit harten Worten abgestraft werden!
Der alte Hegelsockenhalter Rosenkranz legte in seiner „Ästhetik des Hässlichen“ fest, dass im Kotzen „die Endlichkeit der Unfreiheit zu einem Zustand der Unfreiheit im Endlichen“ werde. Denn „der Überdruss verkehrt den geordneten Gang der Natur und degradiert den Mund zum After.“ Wahrscheinlich dachte Thomas Bernhard genau daran, als er die Künstler, sowieso schon „Söhne der Widerwärtigkeit“ und „Erztöchter und Erzsöhne der Unzucht“, auch noch als „die größten Erbrechenerreger“ titulierte. Sowie natürlich insgesamt zu den „Onanierpflichtigen auf dem Erdball.“ Kunst hat ein Riesenmaul, ist aber, recht betrachtet, nur ein After, der einen Pups lässt, dergestalt, dich das Mäuslein beisst, wenn du die Nase mitten hinein steckst. Wenn man in etwa versteht, was ich vielleicht meine.“
Passion- oder die Leidenschaft die manch Einem Leiden schafft
Jean-Luc Godard wurde in seiner Karriere mit Namen der unterschiedlichsten Couleur bedacht: Beginnend bei „Onkel Jean- dem schrecklich ungezogenen Kind“ über den „Maitre Penseur des Kinos“ und endend bei „dem Heiligen des Films“. Zur Einordnung des Films Passion möchte ich zuerst einige wichtige Entwicklungslinien Jean-Lucs aufzeichnen, die zum besseren Verständnis des Films dienen.
Der wohl prominentste Film des Regisseurs ist zugleich sein Debutfilm: A bout de Souffle. Allgemein bekannt ist, das dieser Film auf manigfache Weise mit filmischen Konventionen bricht. Jean-Luc, der für das 1951 von André Bazin gegründete Cahiers de Cinema polemische Kritiken über von ihm hoch geschätzte Filme beispielsweise Bergmans oder Eisensteins schrieb, gilt in den sechziger Jahren als ein Erneuerer des Film- eine zutreffende Bezeichnung, die auch in den achtziger Jahren noch äußerste Gültigkeit besitzt. In den siebziger Jahren beschäftigt sich Jean-Luc mit Video und Fernsehen, Einflüsse, welche die Filme der achtziger Jahre wie Passion prägen.
Der 1981 gedrehte Film Passion besteht aus mehreren Handlungsfragmenten, die sich nicht zu einer Geschichte oder mehreren Episoden zusammen fügen, sondern sowohl inhaltlich als auch formal in einer Collage belassen bleiben.
Passion handelt von einem polnischen Regisseur der einen Film mit dem Titel Passion dreht. Dabei besteht der Film (im Film) aus Tableau Vivants – lebendigen Bildern- von berühmten Malern wie Rembrandt, Delacroix, El Greco und anderen (Bildbeispiele siehe unten). Doch die Dreharbeiten stocken wiederholt und werden schließlich abgebrochen, da der Regisseur Jerzy (Jerzy Radziwilowicz) mit dem Licht nicht einverstanden ist und auch sonst seine Vorstellungen nicht umsetzen kann. Die Dreharbeiten geraten in Verzug, der Produzent ist unzufrieden, die Statisten erscheinen nur noch vereinzelt. Ersatz für diese werden in einer nahegelegenen Fabrik gefunden.
Eine weitere Handlungsebene hat mit dieser Fabrik zu tun. Isabelle (Isabelle Huppert) ist dort eine Arbeiterin und setzt sich für die Gründung eines Betriebsrats ein. Auch sie scheitert mit ihren revolutionären Vorhaben und wird von dem Fabrikbesitzer (Michel Piccoli) entlassen.
Der Fabrikbesitzer hat mit Hanna (Hanna Schygulla), der Inhaberin des Hotels in dem die Filmcrew residiert, ein Verhältnis. Im Verlauf des Films löst sich ihre Verbindung. Hanna liebt den Filmregisseur Jerzy, der sie gerne für eine Rolle in seinem Film besetzen würde, am liebsten als Statistin eines Rubens- Tableau Vivants.
Jerzy ist hin und her gerissen zwischen Isabelle, der Fabrikarbeiterin, und Hanna- beide teilen ihn sich als Geliebten.
Jede der Personen hat Wünsche und Sehnsüchte, aber vor allem Passionen: Die Dreharbeiten als Leidensgeschichte des Regisseurs, der gescheiterte Arbeiteraufstand als Leidensgeschichte Isabelles und die Liaisons vor allem zwischen dem Regisseur, der von zwei Frauen begehrt wird als Leidenschaft. Auch Polen nimmt als Folie eine wichtige Rolle ein, denn die politische damalige Situation (die Zerschlagung der polnischen Solidarität) dient als Metapher zugleich für das Scheitern und generell für die Leidensgeschichte der Menschen. Kurz gefasst beinhaltet der Film die auf vielen Ebenen veranschaulichte Suche nach Identität in der Arbeit, im Leben, der Kunst und der Liebe- und aller Scheitern. Die Tableau Vivants des Filmes offenbaren dem aufmerksamen Betrachter und Kunstkenner nun noch eine weitere Facette dieses Films. Die Geschichte der Tableau Vivants reicht weit zurück. Im späten achzehnten Jahrhundert war das Tableau Vivant ein beliebtes Gesellschaftsspiel in hochgestellten, gebildeten Kreisen. Berühmte Gemälde oder Skulpturen wurden theatralisch durch Personen nachgestellt und avancierten zu einer Modeerscheinung.
Hier sei nur kurz auf Johann Wolfgang von Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ verwiesen, in welchem die zwei Tableau Vivants eine heraus gestellte Rolle einnehmen: Die Rolle, welche die Romanfiguren in den Tableau Vivants nachstellen fassen ihre Rolle in der Handlung des Romans quasi als Schema ihrer Existenz zusammen. In Jean-Lucs Film finden sich einige Analogien zu dem Verständnis der Tableau Vivants der damaligen Zeit, denn auch in Passion fungieren die lebendigen Bilder als Speicher archetypischer Identität: das potenzierte Dasein des Menschen. Diese Sinngebung bei Goethe trifft auch auf die Tableau Vivants in Passion zu. Die Tableau Vivants in Passion stehen als Paradigmen für die Leidenschaften des realen Lebens. Diese Aussage soll an einem Beispiel verbildlicht werden: In einer Versammlung der Arbeiterinnen klagen diese über die Mühsal der Arbeit, die Unterdrückung durch den Arbeitgeber und überlegen sich Möglichkeiten zu einem Aufstand. Begleitet werden diese Gespräche vom Largo des Introitus aus Mozarts Requiem und Zitatfragmenten aus Texten über das Leid vergangener Revolutionen. Daraufhin handelt die nächste Szene im Filmstudio, wo mehrere Tableau Vivants, unter anderem „Die Erschießung der Aufständischen vom 3. Mai 1808“ vom Requiem musisch untermalt nachgestellt werden. Die Kamera zeigt das Tableau Vivant dabei nicht statisch, sondern taucht in das lebendige Bild ein, gleitet über Gesichter und zeigt Details. Zum einen erschwert dies das Erkennen der Vorbilder aber zum anderen zeigt die Kamera hierin ihre Überlegenheit der Malerei gegenüber: Im Film können Details betont werden, die dem Betrachter sonst entgingen. Doch vor allem ist der Film ein Bewegungsbild, die Kamera kann in das Gemälde eintauchen und muss nicht statisch verharren. Die Tableau Vivants sind jedoch niemals zur Gänze still gestellt, die Statisten zwinkern, bewegen die Hände und beleben so das Bild und brechen die Illusion ein getreues Abbild zu sein.
Die Hauptfigur der Figurengruppe „Der Erschießung der Aufständischen vom 3. Mai 1808“, die von den Gewehrläufen bedroht wird, ist dabei unschwer mit dem gekreuzigten Christus zu assoziieren. Kurz darauf ist das Tableau Vivant des Gruppenporträts der „Königsfamilie Karls IV“ zu sehen.
Der Gegensatz zwischen diesen beiden lebendigen Bildern greift die realen Erfahrung der Arbeiterinnen auf, die im Gespräch thematisiert wurden. Diese haben sich über den sozialen Konflikt zwischen Armen und Reichen unterhalten, über Revolution und Herrschaft.“Die Erschießung der Aufständischen vom 13. Mai 1808″ steht dabei bildlich für Revolution und Unterdrückung wohingegen das Porträt der Königsfamilie für die reiche Gesellschaftsschicht steht. Die Tableau Vivants setzen die Aussagen der Arbeiterinnen also in einer zeitenthobenen ästhetischen Fiktion um. Nur kurz möchte ich noch auf eine weitere Ebene des Films hinweisen, die ich schon kurz angerissen habe: die Medienreflexion. In Passion reflektiert sich das Medium Film über die Tableau Vivants selbst. Besonders prägnant zeigt sich dies schon in dem ersten lebendigen Bild: „Der Nachtwache“ von Rembrandt.
Im Film wird davon gesprochen, dass das Bild eigentlich eine „Tagwache, bestrahlt von der Sonne“ darstellen würde. Hiermit wird auf die Technik der „amerikanischen Nacht“ hingewiesen. (Dies ist ein Aufnahmeverfahren des Hollywood- Illusionskinos, das es ermöglicht mittels Filtern und Blenden Nachtaufnahmen am Tag zu drehen.) Gleichzeitig verweist Jean-Luc damit auf Truffauts Film „La Nuit Américane“, einem der bekanntesten Repräsentanten des Films im Film. Passion ist unzweifelhaft ein Film der zur Leidenschaft oder zum Leidensweg werden kann. Damit Letzteres nicht eintritt empfehle ich jedem Interessierten, sich vor der Filmsichtung dessen Handlung zu Gemüte zu führen, denn die fragmentarischen Handlungsstränge des Films sind ohne Vorkenntnis der Geschichte schwer zu entwirren und die vielen Zitate kaum zu identifizieren! Zudem werden Bild und Ton asynchron verwendet ganz im Sinne der Illusionsbrechung. Und natürlich gilt, umso öfter man den Leidensweg begeht, umso mehr Leidenschaft für diesen Film entsteht!
Meine Buch- Empfehlung für Leidenschaftliche: Paech, Joachim: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard. Frankfurt am Main 1989.