Schulterblick ins Ungewisse – Occhiali neri (2022)

Rom – das wissen nur die Eingeweihten oder vor Ort Gewesenen, ausformuliert wird dieser Raumbezug nie, denn dimmer, immer dimmer wird der filmische Blick bereits lange bevor ein vom sie stalkenden Serienmörder provozierter Verkehrsunfall Dario Argentos jüngster Filmheldin, dem Edelescort Diana (Ilenia Pastorelli), das Augenlicht raubt. Mit der Aufblende auf diese Stadt, eine Stadt, eröffnet „Occhiali neri“ noch, dann entkoppelt sich das Kameraauge sogleich und reckt den Hals empor ins Grüne, in die Wipfel über den Straßen. Erhobenen Hauptes folgt sie Dianas Weg zu einem Klienten; ortlos, ätherisch, wieder und wieder entlang Baumkronen abbiegend. Kein Auge für den Verkehr. Bald bilden sich disparat ablaufende Alleen um einen Split in der Bildmitte, ein Kaleidoskop entgegengesetzter Richtungen. Prinzipiell doch geradeaus, aber eigentlich rechts, links, zur Mitte, an den Rand. Eine eigentümliche Entörtlichung, für die sein Name so gar nicht steht. Das Vergangene, kartografisches Bindeglied so zahlreicher mal verfallener, mal von bösen Geistern über ihren irdischen Verfall hinfort belebter Prunkbauten im Werk Dario Argentos ab „Profondo rosso“ (1975), existiert hier nicht mehr. Zu Gunsten einer Gegenwart, die immerwährende Dunkelheit verheißt. Weiterlesen…

Die 5 und das (musikalische) Übermaß der Liebe in Paul Thomas Andersons Phantom Thread und Licorice Pizza

 

Konsekutive Filme eines Regisseurs zu einem gleichen oder ähnlichen Thema sind immer eine spannende Sache. Der Blick auf die Frau, die in zwei verschiedenen historischen Sphären Konzepte von Weiblichkeit verhandelt in Paul Verhoevens ELLE (2016) und BENEDETTA (2021); David Cronenbergs in direkter Folge entwickelte Studien über Gewalt und Intimität in den Mikrokosmen des organisierten Verbrechens in A HISTORY OF VIOLENCE (2005) und EASTERN PROMISES (2007) – oder jetzt der neue Film von Paul Thomas Anderson, der sich im Zusammenspiel mit PHANTOM THREAD (2017) zu einem Liebes- und Beziehungsfilm-Diptychon fügt, welches sich trotz sehr unterschiedlicher atmosphärischer Dispositionen und Stimmungslagen im Kern als Doppelstudie über Paar-Beziehungen am Rande gesellschaftlicher Norm entpuppt. Auf der einen Seite die neurotische amour fou zwischen autistischem Modedesigner des britischen Hochadels der 50er und seiner ihn gerissen sabotierenden Geliebten aus dem aristokratiefernen Milieu – auf der anderen Seite der hochstapelnde, schauspielende Minderjährige, der im aufgeputschten Kalifornien der 70er Jahre alles auf eine Karte setzt, und sich an die Fersen einer 10 Jahre älteren Schüler-Fotografin hängt. Weiterlesen…

Wehmut im Gegenschnitt – Die Rettung der uns bekannten Welt (2021)

Einige bleiben stehen, die andern gehen, bewegen sich über einsam zurückgelassene Blicke hinweg von ihnen fort – diesen traurigen wie profanen Vorgang des Zwischenmenschlichen würde Til Schweigers großgestig, im Kleinen jedoch letztlich subtil betitelter “Die Rettung der uns bekannten Welt” regelrecht zelebrieren, wenn er ihn nicht als so grausam, wahrlich welterschütternd empfände. Die Kunst des Hinterherstarrens auf verlorenem Posten, die Wehmut im Gegenschnitt; manchmal im Fortgang, manchmal gefroren, stets besonders im eigenen Kopfe: die geliebten, aber ob der überhandnehmenden Seltsamkeiten entfremdeten Halbgeschwister, die tote Frau als Rat stiftende Apparition, das durch allerhand externe Partymanöver belebte Grab der Mutter. Die das Leben des manisch-depressiven Paul (Emilio Sakraya), seines überforderten Vaters (Til Schweiger) sowie der zwei jüngeren Geschwister einschneidenden Beziehungseckpfeiler sind visuell rascher etabliert, als die Worte aus irgendwem hervorbrechen. Weiterlesen…

Round ’n‘ round the boogeyman goes – Halloween Kills (2021)

„Halloween Kills“, der immerhin schon zwölfte Teil der langlebigen Reihe um den lahmbeinigen Bürgerschreck Michael Myers, zweite Fortsatz eines zweiten Reboots und Mittelteil einer neuen Trilogie beginnt, wie in Zukunft idealerweise jedes Franchise seine bloß vordergründig endenden Bahnen ziehen sollte. Als Fußreise, als Fahrt aufnehmende Geisterbahnfahrt durch den Ort, an dem alles anfing und zahllose Male wiederbegann, kommentiert von Figuren, die ursprünglich nie dort waren. Als Remix. Zwei weitere Verkettungen nach wie neben dem Rückblick und schon befindet man sich mittendrin in zweifacher, dreifacher, mannigfacher Hinsicht – ungefragt tief ins filmische Universum, seinen Kanon, die irrelevanteren Teile seiner Hintergründe verfrachtet, als Fremde, als Reihennerds direkt neben der von einem anderen Werk her ausblutenden Jamie Lee Curtis auf der Ladefläche eines rasenden Pick-ups in Richtung bloß weg in die Nacht; kurz: im strammen Tempo der Inszenierung, die keine Fragen aufwirft, jedoch alle beantwortet. Das Alte und die Gegenwart eben auch des Franchisekinos so unmittelbar nebeneinander zu schachteln, ist ein simpler Trick mit großer kinetischer Freude. Weiterlesen…

100 deutsche Lieblingsfilme #75: Es ist nur eine Phase, Hase (2021)

Kommt man später einmal in schlimmstenfalls eingeweihten, scheußlich cinephilen Kreisen, bestenfalls aber breitem rezeptionsgeschichtlichem Konsens auf das deutsche Populärkino der Wechseljahre hin zu den neuen wilden Zwanzigern zu sprechen, so wird man sich hoffentlich erinnern an das, was heute noch als künstlerisch tadelhaft gilt: Jene bemerkenswerte Auffächerung, die die vorwiegend romantische Komödie nach Schweigerschem Patentrezept ungefähr zehn Jahre nach ihrem gemeinhin verhassten Urknall hinlegte. Originär filmisch heraussezierte Weisheiten hinterm literarischen Niveau davonflatternder Kalendersprüche bei Florian David Fitz, das ungezwungen Emanzipatorische bei Anika Decker und Karoline Herfurth, der messerscharfe Blick aus leichter Hand Bora Dağtekins – jetzt: Florian Gallenberger, der schon mit seinem letzten Kinofilm eine pilcherwürdige Altersabschiedsreise ins Sublime überführte und nun ansetzt, das Stiefkind des teutonischen Gegenwartskinos mit internationalem Arthouse auszusöhnen. Vermutlich abermals abseits des Blickes all jener, die die Offenheit neuer Konzepte stets lautstark einfordern, ihnen dann aber selbst nie mit ebensolcher begegnen wollen. Die Reifephase dann eben ohne sie. Weiterlesen…

Reibungsenergien ‘31: Ein Kurzkommentar zu „Fabian, oder der Gang vor die Hunde“ (2021)

Dominik Grafs neuer Film ist ein ganz schöner Brocken, ein dreistündiges Gesellschaftsporträt der frühen 30er Jahre in Berlin, angesiedelt im Auge des Sturms, am Kulminations- und Siedepunkt verschiedener konträrer gesellschaftlicher Tendenzen und Kräfte, die zum letztendlichen Zerreißen der Weimarer Republik und damit zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt haben. Graf inszeniert seinen Film folgerichtig als gewaltigen Strudel der Bilder und Eindrücke, der Gelüste, Bestrebungen und Emotionen – und auch wenn ich nicht jedes der vielen verschiedenen disparaten Elemente, die der Film zur Auserzählung seines komplexen Kräftespiels nutzt, als gelungen eingebunden betrachten würde (mit dem Split-Screen treibt man es zuweilen etwas zu weit), so hat sich der Film dennoch festgesetzt in mir, und lässt mir auch zwei Wochen nach der Sichtung keine Ruhe. Immer wieder zurückdenken muss ich dabei ausgerechnet an den leisesten Abschnitt des Films, an die feine Kontrastdramaturgie, die Graf in der letzten halben Stunde fährt, wenn er von der lauten, unübersichtlichen Vorkriegshölle Berlins in Fabians ländliche Heimat nahe Dresden wechselt, und den Protagonisten dort ein wenig Stille und innere Einkehr finden lässt (wunderschön vertont vom „Adagio Religioso“ aus Béla Bartóks drittem Klavierkonzert). Die Vergeistigung und Entrückung dieses letzten Akts deutet sich natürlich schon vorher an, in Fabians Tendenz, der Welt mit einem gewissen Ekel zu begegnen (exemplarisch die Szene, in der er seinem Verleger einen eitrigen Verband wechseln muss), und der manchmal fast etwas passiven Art, sich von den politisch-moralischen Kräften seiner Zeit zerreiben zu lassen. Inmitten all dieser Dynamiken wirkt Fabian zugleich beteiligt wie unbeteiligt, dürstend sowohl nach Bindung als auch nach (moralischer) Distanz, ein Teilchen im Sturm, das sich ausprobiert und sondiert, am Ende aber im Kräftesturm zerfällt. Weiterlesen…

Rückblick 2020: Listen & mehr

Auch dieses Jahr gibt es einen gesammelten Jahresrückblick bei Eskalierende Träume, der mit Listen, Texten, Bildern, GIF-Slideshows, Trailern und Musik auf das (vor allem, aber nicht nur) Kino- und Filmjahr 2020 zurückblickt.

Die meisten Beitragenden der 2019-Liste sind wieder dabei und wir freuen uns zudem über einige Neuzugänge beim Rückblick auf 2020: Björn Schmitt (Teil des Dreier-Teams hinter den neu gegründeten Tagen des experimentellen Films, die Mitte Mai 2021 in Frankfurt an den Start gehen), Frank Castenholz (Weird Magazin), Johannes Lehnen (Filmemacher) und Tilman Schumacher (critic.de).

Vorgaben zu Form, Umfang und Fokus der Beiträge gab es keine – entsprechend vielfältig ist auch diesmal die nachfolgende Sammlung geworden, was vereinzelt auch die Schreibweise bzw. Sprache der Titel betrifft.

Vor dem Start hier noch ein Einblick in das ET-Büro, wo unter schwierigen technischen Voraussetzungen die Notizen und Beiträge aufbereitet werden mussten (weshalb es immer etwas dauert, bis alles endlich in Form gebracht ist und veröffentlicht werden kann):

 

Aber schließlich war alles beisammen und geordnet, wobei die ersten und letzten beiden Beiträge diesmal aus (bild)dramaturgischen Gründen von der sonstigen alphabetischen Sortierung nach Vornamen abweichen. Und nun beginnt die Reise durchs Jahr…

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Zehn Jahre Schlingensief und der Filmschnitt als Diskursstifter mit „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ (2020)

Auf der Leinwand spielt sich ein Kuddelmuddel überkonstrastreicher Mehrfachbelichtungen ab – streng begutachtet wird es im enthüllenden Gegenschnitt von Christoph Schlingensief, der sogleich bestimmt, einige Teile und Effekte in der Postproduktion herauszunehmen, die eigene Schöpfung im Nachgang dekonstruiert sowie anders arrangieren will. So öffnet Bettina Böhlers Portrait des vor nunmehr zehn Jahren unzeitig allen irdischen Kontroversen entrissenen Enfant Terrible; ein Vorstoß, der programmatisch ist für die sich entspinnende Herangehensweise an einen allzu bekannt Gewähnten. “Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” beginnt und endet mit, bettet dazwischen sanft: Dekonstruktionen, materialästhetisch, inszenatorisch oder profan rekapitulierend, alles ist mehrebig und von verschiedenster Quelle. Interviews folgen intimen Interviews der Kindheit, diesen Filmausschnitte, jenen Talkrunden und multimediale Happenings, dann wird variiert und neu gemischt. Dokumentarfilm als Kartenspiel – nie weiß man, was als nächstes ausgeteilt wird. Der Schnitt aus Böhlers eigenen, vielgewandten Händen ist meisterhaft, ein Arrangement an Auszügen, die Leben und Werk Schlingensiefs in beständig wechselnde Relationen setzen. Relationen, die genauso gut gänzlich anders ausfallen könnten, das scheint ihr der Schlüssel zum Werk. Weiterlesen…

Contortions of a mind in perpetual decline – Portraits of Andrea Palmer (2018)

„Portraits of Andrea Palmer“, the first feature film for both and directed in conjunction by a certain „C. Huston“ and film preservationist collective Vinegar Syndrome’s Joe Rubin (billed under his film board nom de guerre „J[ohn]. Lyons“), is in many ways an unusual venture – when measured against its date of production, even a deeply anachronistic one. For it is not merely a superficial hommage to the long-gone Golden Age of Porn that raged in American cinemas for some approximately 15 years from the very late 60’s to the mid-80’s, elicits it’s filmic (as in analogue filmmaking, granularity and a color cast unique to employed – 16mm here – stock) as well as organisitional (as in centered around, not working with unsimulated renditions of intercourse) structure, shares it’s curious interest in gloomy subject matter coupled with precise gaugings of female suffering, but actually possesses a profound understanding of it’s highly specific employment of filmed sex like few, if any, modern efforts. Weiterlesen…

Zeitnah gesehen: Acid Babylon (2020)

Gemeinhin sollte man annehmen, dass Filme, die derart huldigend von einem bekannten Schauplatz zum nächsten eilen, wie Cosmotropia de Xams jüngst im Würgegriff der Coronakrise gänzlich digital uraufgeführter „Acid Babylon“ es handhabt, unwillkürlich zur reinen Fanrevue verkommen müssten. „Build on the cosmic spirit of these places“, heißt es im Abspann über ihn selbst sowie seine durch „Lucifer Rising“ (Kenneth Anger, 1980), „Phenomena“ (Dario Argento, 1985) oder „Malpertuis“ (Harry Kümel, 1971) in nicht unbeträchtlichen Teilen des filmkulturellen Gedächtnisses abgelegten Schauplätze. Ein guter Leitfaden für diese strukturell überwältigende, narrativ oder gar didaktisch jedoch schweigsame Versuchsanordnung. Hier werden sie noch einmal ganz neu angelegt, diese Gedächtnisorte des Abseitigen. Weiterlesen…