…und als Dach ein Himmel voller Zauber – Das perfekte Geheimnis (2019)




    Seht ihr den Mond dort stehen?

    Er ist nur halb zu sehen,

    Und ist doch rund und schön.

    So sind wohl manche Sachen,

    Die wir getrost belachen,

    Weil unsre Augen sie nicht sehn.

    (Matthias Claudius – Der Mond ist aufgegangen)


Der Mond als Himmelskörper illuminiert und spendet Hoffnung, so rund, geheimnisvoll, von ausgesuchter Schönheit ganz aus sich selbst heraus. Auch in Bora Dağtekins jüngstem, ganz und gar nicht geheimnisvoll erfolgsverwöhntem Komödienhit “Das perfekte Geheimnis” thront er ruhend über allen irdischen Belangen am Himmelszelt, wird scharfgestellt, wieder in den Hintergrund dirigiert, aus dem er sich doch durch eigene Strahlkraft erneut befreit, immerzu lachend dabei auf das, was eine Gruppe alter Freunde beim gemeinsamen Abendessen unterm wachsamen Zyklopenauge so treibt. Ein heiteres Spielchen – alle Smartphones auf den Esstisch, alle Nachrichten, Eingänge, schmutzigen Geheimnisse an die kleinteilige Öffentlichkeit. Streit ist somit vorprogrammiert. Was diese augenscheinlich so diversen Menschen eint, ist nicht so sehr sozialer Stand, Ansehen oder gemeinsam verlebte Vergangenheit, sondern Unaufrichtigkeit schlicht – sowie die Art und Weise in der sie sich tragen, körperlich wie verbal, innerhalb, vor allem aber auch außerhalb der gediegen bürgerlichen Interieurs. Gastgeber Rocco (Wotan Wilke Möhring) ist Chirug der ästhetisch-plastischen, also den Naturzustand zu verhüllen suchenden Schule, dementsprechend klein das einzige Zufluchtsdreieck zwischen Bergen angehäuften Schnickschnacks. Der heimische Balkon.

Das Gros der annähernd zwei Stunden Laufzeit über existiert er zuvorderst als von einer zusätzlichen Glaslegierung zur Kameralinse gerahmtes Sehnsuchtsörtchen hinter Großaufnahmen angeregt Plaudernder. Doch betritt man ihn, ist alles so sanft, das Übertrumpfungs-, Potenz- und vornehmliche Jungsgeprotze weicht geradewegs in die Nachtstille hinaus, während man schwelgt und sich einem in Abgrenzung zu großzügig rausgehauenen, letztlich jedoch unsicheren Derbheiten wirklich intimen Tonfall hingibt. Von diesem stillen Örtchen her wirkt Gevatter Mond seine Magie, manchmal unterstützt von signalisierend ätherischen Klängen, meist ganz ohne sie. Auge zu Auge steht Pepe (Florian David Fitz) ihm hier gegenüber, das seinige kraft eines Bondschen gun barrel shots durchs mitgebrachte Teleskop auf Augenhöhe vergrößert scheint das Gestirn durch die zweifache Verglasung von Linse und Brille direkt in die Seele, im Umkehrschuss allerdings auch wieder zurück. Ist es diese geheimnisvolle Verbindung, die ihn schlussendlich ermächtigt einen jahrelang gehüteten Aspekt seiner Persönlichkeit freizulegen?

Ums Gravitationsfeld einer anderen zentralen, schon früh ebenfalls dem beruhigenden Schein zugetanen Figur verdichten sich Hinweise auf metaphysisches Wirken: Bianca (Jella Haase) – vermeintlich naive Freundin des durchtriebenen Überlebenskünstlers Simon (Frederick Lau) – ist das, was wir gemeinhin meinen, nehmen wir das Adjektiv “aufrichtig” als Synonym zu “ehrlich” in den Mund: die gute Seele, das Herzchen der Gruppe, ihr warmes, zugetanes Gesicht direkt verschwestert mit dem Monde. Verbunden wird sie schon früh nicht nur mit der emotional entkleidenden Terrasse, auf der sie als einziger Partygast dezidiert die magischen Qualitäten dieser Nacht anspricht, sondern gleichfalls mit einer Reihe an mondförmigen Symbolen: Ihr Gastgeschenk, ein Traumfänger, der jedoch vom Haushund zerfetzt nie so wirklich in den unheiligen Hallen ausstrahlen darf, das Amulett an ihrer Halskette, ein zackig visualisierten Schein aussendendes Handytattoo, schlussendlich der Verlobungsring, der von Simons Untreue angetrieben auf dem Tische tanzt – sich immerfort dreht, strauchelt wie zu Beginn des Jahrzehnts Christopher Nolans Kreisel, im Gegensatz zu diesem keine Fragen offenlässt und schließlich fällt, die Beziehung für unwiederbringlich erklärt. Pepe und Bianca, sie mehr als er, stehen für das märchenhafte Element der Inszenierung, fernab von den Pfaden des reinen Schauspielkinos und speziell auch der geradezu erschreckend vielkopierten italienischen Vorlage “Perfetti sconosciuti” (Paolo Genovese, 2016). Poetischer Realismus im Jahre 2019 – mit WhatsApp und Sexting.

So sehr die gefassteren Naturen den aufgekratzten Reigen dem Vollmond zuschreiben, sich wieder und wieder in plötzlich esoterischer Schuldfortweisung bestätigt sehen durch den ihn anheulenden Hund, so sehr geht er in Verkehrung dieser Zustandszuschreibungen eine Verbundenheit mit denen ein, die diese gleichsam zulassen. Behutsam gleitend fährt Moritz Antons Kamera nach außen, die Glastüre nehmend wie ein stiller Beobachter, um als Mittler anzustoßen allerdings auch umgehend wieder aufzufangen, wie Carlotta (Karoline Herfurth) und Leo (Elyas M’Barek) nach einem anfänglichen Kleinstreit vorsichtig mit den Händen erneut anbandeln. Und während die unromantisch aufploppenden Textnachrichten (“Ich hab Bock zu ficken”) von Biancas Exfreund den freundlich im Hintergrund weilenden Mond wieder und wieder auf der zum Gruppenverewigung gereckten Selfiespiegelung der Realität ausblocken, damit das Drama auch im Freien am Laufen halten, trägt Roccos pubertierende Tochter ihn geschrumpft in die vier Wände hinein. Als Kontaktbild beim nächtlichen Anruf, ihres ist das einzige in einem Film prall der telefonischen Interaktion das als kreisrunde Portraitblase auf dem Display erscheint, aus gutem Grunde: Einfühlsamer als im Beratungsgespräch zum bevorstehenden ersten Mal wird der Papa nicht mehr, ein Novum, eine veritable Christophoruserscheinung, Magie.

Es gibt noch eine weitere Form von Aufrichtigkeit, die ganz von der Wahrheitsfindung abgespalten existiert, jene die Leo draußen unterm Mondesschein zwingt das Ende seiner eigenen Beziehung in Kauf zu nehmen, um Pepes versehentlich ihm zugeschriebene Empfindungen zu schützen. “Wenn man einen Menschen liebt, dann versucht man, ihn zu schützen.”, sinniert letzterer einmal über die Liebe, abstrakt wie ganz konkret als Person manifestiert, und trifft damit auch den Kern dessen, wovon Dağtekin erzählt: Die wenigsten Personen in “Das perfekte Geheimnis” sind genuin gute Menschen oder auch nur Freunde, doch unter dem übergeordneten Einfluss einer höheren Instanz, vielleicht auch nur einer fixen Idee von Zuneigung, ringen sie sich bisweilen etwas ab. Bora Dağtekin glaubt an das Schöne, das Zärtliche im weithin Kompromittierten, seine als neoliberaler Spott missgedeuteten, in Wahrheit aber unmittelbar mit den gemeinhin Verlachten fühlenden “Fack ju Göhte”-Komödien bezeugen dies ebenso wie der Mond, der auch dann noch von droben über der Brücke, auf der sich ein gemeinsamer Lebensweg zuspitzt, eine rettende Sternschnuppe heruntersendet, als alles bereits verloren scheint.

Dementsprechend lockt in dieser Welt unrealisierter Möglichkeiten kein Happy End im eigentlichen Sinne, es ist allein die alte Ordnung sezierend scharf in Kitsch aufgelöst – bloß ist das auch etwas Gutes? Was bisweilen, von Kritikern wie Wolfgang M. Schmitt jun. etwa, als schäbige Beteuerung und unterschwellige Homophobie gelesen wurde, ist eigentlich komplexer und präziser. “Das perfekte Geheimnis” öffnet und schließt mit je einer Episode aus der alleinigen Perspektive jener Männergruppe, um die sich die Frauen als geladene Partnerinnen scharten, die jedoch weit weniger zentral ist, als diese rahmenden Elemente, dieser bloße Aufhänger uns weiszumachen versucht. Lediglich für den tröstenden, aber nun einmal einem starren Wollen folgenden Erinnerungsabend festgefilmte Illusion ist das vorangestellte Amateurvideo der Jungs; gerade deshalb strebt man diesen nostalgischen Verhältnissen gegen alle das löchrig gewähnte Freundschaftsempfinden möglicherweise weiter zersetzende Reflexion schließlich abermals zu. Eine Wahrheit wäre bei dem gestrigen Spiel nicht rausgekommen, so versichern Rocco, Leo und Simon Pepe unisono, ihre Liebe zu ihm, den sie durch mal mehr, mal weniger penetrantes Maskulinistengelaber zutiefst verletzten. Wohlfeile Worte, deren wahrer Kern schon längst bewiesen war. Den kopflos-aggressiven Liebesbeweis – das Verkloppen eines übergriffigen Schwulenfeindes – hätte es zumindest für zwei der drei gar nicht unbedingt gebraucht. Ihr Handeln ist das des Unreflektierten, der händeringend etwas gut machen will, um postwendend wieder in vertraute Muster zu fallen – etwas, das der Film allein dadurch, wie er einzelne Schlüsselmomente – Alpha und Omega, Leos stiller Liebesbeweis und dieser krachlederne – in seinen erzählerischen Fluss integriert, sehr wohl preisgibt, jedoch niemals rein für didaktische Wirkung bloßstellt. Weniger Frauen und Männer als eine spezifische, in Position (Rocco und Familie) wie Möglichkeiten zur Neupositionierung (Simon, Carlotta & Leo) bessergestellte, priviligierte Gesellschaftsschicht; eine die sich gegenseitig etwas vorprotzt und dabei den Zugang zu eigenen existentiellen Nöten verschütt gehen lassen hat. Unser Handeln wird von denen geprägt, die Zugang zu unseren Räumlichkeiten haben; unsere Entschuldigungen jedoch von denen, an die wir uns in diesen Räumen gewöhnt haben. Dementsprechend bleiben frühere Zoten über eine mögliche Beziehung Pepes zu einer älteren Frau gänzlich uneingeordnet – auch von diesem selbst; ein spürbarer Bruch. Alt, das möchte hier zwischen vielgestaltigen Formen der Selbstoptimierung und Pennälerhumor eh fast niemand sein. Derart nah am vermaledeiten Gefühl, das einen beschleicht, dreht sich nach einer Reihe kraftmeierischer Roasts unter Kumpels der Wind in die eigene Richtung, war im deutschen Kino selten etwas. Florian David Fitz gleitet in diesen Momenten in den Hintergrund, nicht allein der Schlagabtäusche an der Tafel, vielmehr auch der Bildkadrierung, wird minutenlang zum hübschen Hipsterdekor, aus dessen Haltung, den nun weit entfernten Augen dennoch, befreit von Partizipation, alles von existentieller Wichtigkeit drängt. Eine brennend uneitle Darbietung, möglicherweise die bislang größte seiner Karriere, die weit über die allgemeine Umschreibung des dazugehörigen Filmes als Starvehikel herausweist. Humor lässt sich auf diesem klimatischen Eskalationspunkt nicht mehr so recht von Tragik differenzieren, die Reaktionen im Publikum fallen divers aus: Identifikation mit Quälenden und Gequälten, in Selbstherrlichkeit wie Qual, wild durcheinander, unberechenbar, fordernd, äußerstensfalls überfordernd. Lachen ist bei Bora Dağtekin keine eingleisige Publikumsbespaßung – zwischen heitererm Aufleben und sardonischem Schmerzgelächter ist alles drin. „Das perfekte Geheimnis“ gehört zu jenen Filmen, die nicht umsonst ein ausführliches Kondensat versemmelter Outtakes anhängen – damit man erleben kann, dass die Menschen (aber ja, für signifikante Teile des Kernpublikums eben auch Vorbilder) hinter diesen Figuren eigentlich viel cooler sind.

Dağtekins Kino ist keine Kapitalismushuberei, es lebt schlicht in dessen Verhältnissen und lässt den Blick sengend nah am Zeitgeist schweifen, ohne dabei unentwegt mit dem Finger auf vermeintliche wie realexistente Übel zu zeigen, ist letztlich näher bei der einzelnen Person im Großen als dem Großen um das Einzelne. Auszüge, von der flinken Hand des Cartoonisten überzeichnete Verdichtungen sind seine Filme. Dennoch gibt es einen Preis für die Aufrechterhaltung des Status Quo, den er nie direkt in Worte übersetzt: mit Bianca scheidet das jüngste und sensibelste Glied dieser Menschenkette am Ende wieder aus ihr aus, ohne Reue, ohne den Regeln des RomCom-Spiels gehorchende Blitzüberzeugung samt anschließender Umkehr – eine echte Zäsur, die den Rückfall in die relative Frauenausblendung, die Jungsfreundschaftenfantasie des Anfanges überhaupt erst ermöglicht. Aber auch ein erhebender Moment in seiner unbedingten Konsequenz – mit ihr zieht das Potential tiefgreifenderer Umbrüche von dannen. Obwohl schon seit seinem Regiedebüt wichtigster darstellerischer Dauergast sympathisiert Bora Dağtekin stets nicht zuerst mit Elyas M’Barek, sondern mit Jella Haase. Er ist sein Chishū Ryū, aber sie ist seine Setsuko Hara. In der vordergründigen Schlichtheit und Exzentrik ihrer feingeschliffenen Figuren brechen sich sensible Erkenntnisse Bahn: zu Empathie im dröhnend lauten Spaß, zur gesellschaftlichen Teilhabe der abgehängt als dumm Verschrienen, hier zu den Eintrittsvoraussetzungen abgeschlossener Freundeskreise. Nicht zuletzt auch gemeinsam mit ihr hat Dağtekin einen sehr viel herausfordernderen Stoff aus der Vorlage herausdestilliert, in dem es uns, nicht dem Drehbuch obliegt, nach dem Vorhang eigene Schlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen, der uns selbst eine Positionierung wie Biancas, eventuell auch im eigenen realen Umfeld, abverlangt. Verbindendes Glied zwischen seinen Arbeiten ist nicht, was sie als zumeist hochberedte wie uhrwerksgleiche Drehbuchfilme ausformulieren, sondern was sie verschweigen – die eigenen kleinen, perfekten Geheimnisse. Denn im Gegensatz zu seinen eifrigsten Kritikern glaubt der Regisseur an die Intelligenz seines Publikums, trotz oder gerade beflügelt durch dessen relative Masse. Am Ende des Jahrzehntes, das in Deutschland kinematografisch ganz in seinem Zeichen stand, ist Bora Dağtekin immer noch der Filmemacher mit der leichtesten Hand im Gegenwartskino, der einzig legitime Erbe der verkannten Feingeister des deutschen Populärfilmes: Kurt Hoffmann oder Wolfgang Schleif etwa, die sich im festen Glauben an die Kunst wie deren Rezipienten weder politisch noch künstlerisch allzu hochtrabend-selbstgefällige Eigenverortungen abringen konnten, stattdessen dem Individuum das Kino als Zauberkraft überantworteten, aus dessen Zwischentönen Selbstermächtigung sprach.


Das perfekte Geheimnis – Deutschland 2019 – 111 Minuten – Regie: Bora Dağtekin – Produktion: Lena Schömann, Bora Dağtekin – Drehbuch: Bora Dağtekin, nach dem Originaldrehbuch „Perfetti sconosciuti“ von Paolo Genovese, Filippo Bologna, Paolo Costella, Paola Mammini & Rolando Ravello – Kamera: Moritz Anton – Schnitt: Sabine Panek – Musik: Egon Riedel, Paloma Faith, Gloria Gaynor – Darstellende: Jella Haase, Elyas M’Barek, Florian David Fitz, Karoline Herfurth, Frederick Lau u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum der Constantin Film AG]

Dieser Beitrag wurde am Montag, Januar 20th, 2020 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “…und als Dach ein Himmel voller Zauber – Das perfekte Geheimnis (2019)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (20-01-20) on Januar 20th, 2020 at 18:25

    […] bei Eskalierende Träume vertraut bin, empfehle ich alle drei einmal blind weiter. Er schreibt über den Mond und die deutsche Variante von „Das perfekte Geheimnis“, Dominik Grafs „Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ und den Schweiger-Tatort […]

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