Hyperbolische Zeiten – Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen (2019)




    Life is very precious – even right now.

    (Günther Kaufmann in Götter der Pest [Rainer Werner Fassbinder, 1970])


Gewusel, bis zu sechsfach gebrochen, auf Monitoren, im Abgefilmten der Sicherheitskameras; Gewusel, einfach verstärkt, im Hier und Jetzt, beim Bezug des neuen Geheimbüros. Wir und das Andere – eine Ausschnüffelung. Dazwischen: Robert Sigls poppig-gelbes Hemd großflächig auf die umliegende Wand geklatscht, Metaphorik, Figuren, aufgespachtelt mit der ganz groben Kelle, auf die Leinwand – die unsere Leinwand. Kaum sind die ersten Minuten von Dominik Grafs jüngstem Fernsehkrimi aus dem Polizeiruf-Universum, “Die Lüge, die wir Zukunft nennen”, ins Land gezogen, beginnt sich zu verdichten, um was es geht: Blicke, einer zur stillen Beschattung verdächtiger Börsenumtriebe abgestellten Polizeieinheit auf ihr Objekt der Begierde, vom mechanisch anonymisierten großen Ganzen auf sie, von uns auf alle und schließlich in uns selbst hinein. Ein Film, der vor Leben birst, weil er nicht achtgeben muss auf die Feinheiten – das obliegt anderen.

Impressionsstakkato aus dem Polizeialltag gegen Laserstakkato aus den Musik- und Trinkhallen: Kostümiert abhotten zu antiquierter Rockmusik, zwischenmenschliche Banalitäten auf der Fahrt zur Party, Kids am Schlagzeug, ein weiblicher Zorro, Horrorregisseur Robert Sigl als Graf Dracula – ein grotesker Karneval. Es muss derjenige sein, der in Douglas Sirks “The Tarnished Angels” (1958) an Rock Hudsons Hoteltüre klopfte, kurz als tuchbehangenes Leben reindrängte und dann erfolglos weiterzog. Einundsechzig Jahre später erfahren wir, was aus ihm geworden ist – es geht ihm auch nicht besser, als es Rock damals ging. Menschenketten, die um Häuser ziehen, eine Epiphanie – am Folgetag erfreuen sie sich wieder an steigenden Aktiengraphen. Insiderhandel, ein Spiel mit dem Feuer, aber auch: Aufregung während auf den Monitoren nebendran alltäglichster Büroschwachsinn regiert. Umkodiertes RTL II, die Freuden des Prekariats, ein Kehrspiegel, man tanzt auf dem Tische zum Takt der emporschnellenden Kurve.

Sogleich das Gegenstück: Die ausgeleierte Freudlosigkeit der Rangoberenbüros, Schritte hinter fernen Fenstern zu den Klängen des nahen Opernhauses, kleine Rechtecke im dunklen Beton. Immer wieder divers vergrößerte Rechtecke als Portale in andere Welten – das Rot einer Ampel verschwimmt im Fokus, dann wird es scharfgestellt zu einzelnen Entitäten, ganz gleich einer pendelnden Bewegung. Rotsehen, eine glänzende Analogie, denn was spielt sich ab hinter diesen Portalen? Zerstörung daheim, das Suchen nach Wanzen, Misstrauen gegenüber dem Brötchengeber, den man selbst betrügt. Wie kommen die Menschen dazu? Ganz simpel. Vereinzelte Gitarrenanschläge dringen in die Bildräume ein, zittrige, aber nach und nach erstarkende Rockfetzen via Schnitt dezidiert dem drohend abschattenden Bürokomplex zugeordnet. Irrationalität bricht sich von dort ausgehend ihre Bahnen, schon zückt anderswo einer der Polizisten das Messer gegen die eigene Familie.

Die Blick sind erkennende, man erfasst sich selbst im Raster, bemerkt auch jene Sicherheitskameras, die die eigenen Bewegungen auslesen – größere Einzelaufnahmen im Bilderfluß, nicht zusätzlich gerahmt, Details wie die wissenden Augen, die nur den zum näheren Blicke Gewillten und Begünstigten offenstehen. Uns also. Spiegeleien auf einem Caféfenster, die getrübte Leinwand auf der Leinwand, wer geht rein? Wir! Allein der unsrige Blick ist wahr, sonst nichts – Einordnungen müssen wir schon selbst vornehmen. “Der ganze Kapitalismus beruht doch auf dem Vorteil, den man anderen gegenüber hat.”, doziert Kommissarin Eyckhoff (Verena Altenberger) einmal; ob sie ahnt, dass es ihn nicht in Gänze gibt, diesen Vorteil, dass er Teil der titelgebenden Lüge ist.

Alles eine Perspektivenfrage, die Kamera – nicht zuletzt auch Martin Farkas eigenes Arbeitsgerät – ist eine Waffe, die Klarheiten schafft. Doch was ist der Preis dafür, sie auf einen Menschen zu richten? Gottfried Keller erkannte in “Der grüne Heinrich” über die Waffen:

Die künstliche Verlängerung des menschlichen Armes durch eiserne Waffen ist gewiß die Hauptursache der unaustilgbaren Streitsucht; denn wenn die Männer sich von Hand zu Hand angreifen müßten, so würden sie ohne Zweifel die wilde Bestialität, nicht maskirt durch den kalten Stahl, eher inne werden und das öftere Zusammentreffen scheuen.

(Gottfried Keller – Der grüne Heinrich, Erstfassung, 1855, Kapitel 1.08)

Ganz so verhält es sich ebenfalls mit jener künstlichen Verlängerung, die wir unseren Augen beinahe alltäglich zuteilwerden lassen und von der Graf erzählt – je weniger Zwischenstationen das menschliche Abbild durchlaufen muss, je näher wir dessen Ursprung erleben, desto mehr ergreift uns auch dessen tagtägliches Leiden. Auf den Überwachungsbildern herrscht Mechanik, in den Kneipen und Bars, die uns wie ihnen bald zur zweiten Heimat geraten, Hektik im Schauspiel. Schweinerock baut auf, dann Weitersaufen mit dem unbekannten Mädel am Tresen – Polizeibeamter Tobias Rast (Dimitri Abold) weiß, wie die Welt sich dreht. Näher am Rhythmus deutschen Pärchenkomödiengutes war der Polizeiruf, war das seriöse deutsche Fernsehen, war Graf nie – näher am Leben demnach auch nicht.

Im Selbstversuch dehnen sich Rasts Beine zwischen zwei begrenzenden Geländern aus – wird nichts, das Leben ist nicht zu meistern. Die tragikomische Variante von Fassbinders “Götter der Pest” (1970) – der Schwarze taumelt nicht tödlich getroffen an Häuserfronten entlang, er wird den Kopf voll Schnaps und Bier an den Füßen vorübergezogen. Auflösungserscheinungen ins vermeintlich Prekäre, das in uns allen wohnt. Am nächsten Morgen legt sich seine einfach zwischen parkenden Autos – “Was ist mir denn jetzt schon wieder passiert?!”, stößt sie hervor. Das ist symptomatisch für den Lauf der Dinge in diesem Film. Ruhepole existieren bloß unvermittelt, wie Inseln, im reißenden Strom, als nächtliches Dinner im Hotelzimmer, die alte Jugendhütte, vollbekleidete Akrobatik unterm tröstenden Nass des Duschstrahles – mehr für ihn selbst, sein nimmermüdes, kokskrankes Herz als die es durch ihr Wirken noch Belebenden. Hyperbolische Zeiten sind das – die Dekade kurz und gut.

Kalkulierte Exzesse, im Golfwagen durch den Tagungsraum, traurige Luftballons in grau-brauner Tristesse – auch sie könnten Menschen sein. Früh wird klar, wie unwichtig die Berufe – und mit ihnen auch der Krimirahmen – der Ausbruchsträumenden für das Leid in ihren Seelen ist, Hohn: die kleinen eingesprochenen Einzeldossiers über Aufnahmen im entrückten Augenblick Erstarrter zu Beginn. Eine Absage an die reine Verschriftlichung, das Bild ist universell. Das graf- und auch schüttertypisch Vulgäre der narrationsimmanenten Kapitalismusdiskurse wird erweitert, aufgefächert durch die Inszenierung. Man ist für das Wesentliche einfach nicht mehr bereit. Oberkommissar Maurer und Rast lassen sich widerstandslos vom wildgewordenen Rumpelstilzchen, das einst Freund und Kollege Calli (Sascha Maaz) war, zusammenknallen, die herangezogene Altärztin (Gisela Hahn!) kürzt sich fast trotzig in den alleinigen Fokus von Farkas Kamera gerückt die Nägel, bevor sie zur Tat schreiten kann. Ganz, als würde ohnehin nichts mehr eilen.

“Vielleicht handelt es sich um ein langschwielendes [Ein Verhörer? Doch es passt nur zu vortrefflich.] Eifersuchtsdrama.”, mutmaßt Roman Blöchl (Sigl) auf der vordersten Zeitebene – den Nachermittlungen – zum Hergang des Kollegenzwistes, dann haucht auf der mittleren Maurer zu abermaligen Stakkatofluten von verbleichenden Lebenszeugnissen aus der hintersten, dem Ungewissen und Unbewegten, seinen letzten Seufzer. Eine Kontinuität des menschlichen Elends. Die Lehre daraus? Beschwichtigend wirken die Kollegen auf die ihre Spuren aufgelesen habende Eyckhoff ein: “Wir wollten dich nicht irgendwo mitreinziehen.” Doch man hängt schon von Haus aus mit im Netz, eine karriereschonende Lösung muss her. Gelogen wurde schon vorher, es wird lediglich beschlossen, sich nicht mehr mit Gedanken darum zu bekümmern. Wieder Sirk, Imitation of Life – macht man sich nur lange genug etwas vor, so wird es wahr.

Eyckhoff verwandelt sich in einer abschließenden Begegnung mit dem ihr zur Seite gestellten IT-Experten nahezu nahtlos, mit kleinsten Montagelotstöllen allein, Stotterern, die beide Figuren in ihrem Gang Millimeter versetzt erscheinen lassen, in die Orchestratorin des Ganzen, die ihn schon längst verführt hatte. Ein Schluckauf im Rezeptionssystem. Wahre Liebe, böse Triebe – letztlich ist es egal, jeder benutzt jeden. Das Vorankommen in allen Belangen er 2010er Jahre wird mit Maurer festlich zu Grabe getragen.Trefflicher Scherz, dass die verdiente Redakteurin Cornelia Ackers zeitnah nach Erstausstrahlung kurzerhand, wohl jedoch nicht allein dieses bitteren Reigens wegen, ihrer Position enthoben wurde. “Strafversetzt”, im Gegensatz zu den von ihr betreuten Charakteren. Eine Welt ohne Buße, sie kann nicht sein – die irritierendsten Fortschreibungen verfasst das Leben schön selbst.


Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen – Deutschland 2019 – 89 Minuten – Regie: Dominik Graf – Produktion: Cornelia Ackers, Philipp Kreuzer, Marlene Schlegel – Drehbuch: Günter Schütter – Kamera: Martin Farkas – Schnitt: Claudia Wolscht – Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem, Botanica, Antonin Dvorak, Friedrich Silcher – Darstellende: Verena Altenberger, Robert Sigl, Andreas Bittl, Dimitri Abold, Wolf Danny Homann u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum von BR/maze pictures GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Januar 15th, 2020 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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