Menschen, die auf Rechtecke starren – Tatort: Tschill Out (2020)




    Was liegt am Strand und redet undeutlich?
    Eine Nuschel.

    (Lieblingsscherz meines Oberstufenmathematiklehrers)


Kreisende Möwen über schimpfenden Bauern, kathartischer Zaunbau mit wundgeklopften Fingern, das alles inmitten leerer Landschaften – der jüngste Tatort um Til Schweigers Rabaukenermittler Nick Tschiller hat wenig gemein mit dem, wofür die einstigen Prestigeepisoden des NDR vormals Aufsehen einheimsten. “Tschill Out” ist, wie der im imperativen Tone gehaltene Titel bereits andeutet, kein Film über einen Mann, der in der Abgeschiedenheit von Vergangenheit wie Zukunft gleichermaßen heimgesucht wird, sondern einen, der diese beiden Störenfriede selber heimsucht – und sei es nur, weil das verdrängte Helfersyndrom unkontrolliert kickt. Will heißen: Er könnte hier spielend leicht ein weiteres Mal anstehen, der große Actionreißer – doch fährt die Fähre nach Neuwerk, wo Tschiller vom Disziplinarverfahren vorerst schachmatt gesetzt strauchelnde Jugendliche coacht, bloß einmal am Tag.

Stattdessen also sportliche Ertüchtigung als Aktionssequenz, beim gruppeninternen Turnen lässt Regisseur Eoin Moore Schweigers eigenen Sprung kurzerhand aus. Verständlich, legte sich der Gute doch bäuchlings in die Pampe, wie er später Heimleiterin Patti (Laura Tonke), vielmehr allerdings den Zuschauenden gesteht, die gleichsam nicht dabei waren. Es gibt mehr Kontinuitäten zwischen dem von Christian Alvart losgetretenen Tschillerepos und dieser verzögerten Fortführung als unmittelbar evident. Schwäche wird ausgespart, aber der heimlich im Abseits der Leinwände Schwache weiß selbst nur zu gut, dass sie da ist und gibt sich ihr hin, bis er dann wirklich keinen mehr hochbekommt. Was visualisiert wird, was nicht – das ist von größter Bedeutung in Moores Film: Alle erfolgsgekrönte Bewegung – und sei sie noch so grobkellig, eingerostet vielmehr – gegen das Vordringen ins wirklich Intime.

Supertotale vom Laufen in wüstenartiger Wattferne, der von Lieblingskollege Gümer (Fahri Yardım) leichtsinnigerweise im Landheim versteckte, sich andererseits prächtig unter die verstörten Seelen einfügende Kronzeuge vorweg, Schweiger hintendran – die berühmte Endsequenz aus Truffauts “Les quatre cent coups” (1959) mit mobilem Anhang im Schlepptau. Schweiger, der Pädagoge, den Antoine Doinel nie hatte – im Grunde ist er ja ohnehin stets am tollsten, wenn verlebt, aber grad noch so vom Leben der Anderen beseelt; vier Fernseh- und ein Kinotatort sowie sein eigener “Schutzengel” (2012) legten bereits beredt Zeugnis ab. Je älter Schweiger wird, desto mehr verwandelt er sich in den lakonischen James Coburn Deutschlands (“Mit mir kann’se reden.”) – er, dem so gerne ausgiebige Nuschelei vorgeworfen wird, bekommt hier fürwahr die Zähne nicht so recht auseinander. Einleuchtend, ist dies doch, wenn wirklich unüberhörbar, Mal um Mal deutlich Teil seiner Figuren, Markenzeichen in harter Schale verschütt gegangener Unsicherheiten.

Unruhender Fels in einem schönen Impressionsfilm – stilllebenhafte Unbewegtheit um die Landeier, die zittrige Angespanntheit der Stadtbilder; aus diesem Kontrast bezieht “Tschill Out” viel Elegantes über seine Figuren, auch ohne Action handelt er weiterhin unentwegt von Bewegung. Fahri Yardıms motorisierter Duktus und Schweigers seinem Namen nun besonders ausgeprägt Ehre erweisende Tröpfelei entsprechen Umgebungsunterschieden direkt, während die neue Kollegin Robin Pien (Zoe Moore) vor allem als filigrane Schwingung inmitten der Grobschlächtigkeit zu existieren scheint. In lockerer Schraube dreht sie sich aus dem Kadragenabseits neben Gümer, der gerade vom Vorgesetzten gelöchert wird. Männerbeistand einmal nicht als locker verlängertes Mundwerk, sondern als Übertölpelung in der selbst erwählten Lieblingsdomäne: Beinarbeit. Sie wäre sicher nicht in den Matsch geplumpst – und löst den Hamburgteil des Falles weitestgehend in Eigenregie.

Agile Tatkraft in einer Inszenierung, die ansonsten häufig konzentriert die Hermetik ihrer Welt vermisst. Panoramen der Verlassenheit und Rechtecke, die den Blick auf die Abgekapseltheit der Gefühle im Erziehungsheim doch auch anderswo lenken: Smartphonedisplays, Monitore, tote Geschwister, entfremdete Kinder in der digitalen Ferne, ein stets zuverlässig ins Auge treffender Türspiegel und immer wieder deren Spalte, als Krönung dieser Methodik: Jene Türöffnung etwa zur Mitte des Filmes, die sich doch nur als obiger Spiegel auf eigene Bewegung feinzentriert entpuppt, beim Betätigen der Klinke ihre Illusion von Beobachtung fallen lässt; andernorts dann der Blick durch die Spalte auf Menschen, die wiederum vertieft auf Spalten starren. Am Ende der Nahrungskette schließlich das genutzte Storarosche Univisiumformat selbst, wir, die andern da. Trotz dieser Bespannungssprache ist “Tschill Out” das Gegenteil eines modernen Hochtechnologiethrillers voller Geheimnisse – auf den Geräten spielt stets sattsam Bekanntes oder anderweitig schon Erkanntes ab. Sie lassen den Blick abschweifen – Trauernder, Verzweifelter, unsrigen.

Personen hinter, vor und unter diesen Rahmen stehen zwischen den Zeiten. “Wo kann ich hier den Helfer spielen?!”, äfft Tonke Schweiger gegen Ende nach und trifft dabei nicht den Kern dessen psychologischer Hemmschuhe allein. Eoin Moore erzählt elegant von Fortweisungen: Reales, wahrhaftig nahe Gehendes findet sich stets fern, auf den Bildschirmen domestiziert, solange bis es herausbricht und Aufmerksamkeit abzapft. Beim Zoff mit der Tochter, die genuin körperlich für Tschiller gar nicht mehr greifbar ist, wird sofort der Videoanruf mittig in die seinen Tunnelblick abbildende Kadrierung gerissen, was den beschrittenen Pfad zum unklar verschwommenen Hintergrund degradiert. Aus einem ebensolchen Inseleinödenwallpaper war Schweiger zu Beginn graduell nahbarer auf einen unnahbaren Sorgenjungen zugeschritten, aus eigener Schrittkraft, ohne technischen Beistand. Comeback in zweifacher Hinsicht. Wohin wird die Reise für Nick Tschiller führen? Teamarbeit seelisch Verwundeter räumt anstelle bleihaltigen Budenzaubers das Finale auf. Nicks Lehre daraus: Er muss an seinen wiederentdeckten Gefühlen arbeiten. “Ja, kaufst dir ‘en Ratgeber oder so…”, spottet Patti ihm zum Abschied nach. Da ist sie wieder die Formatfrage, der rechteckige Zugang zu kreisrunden Problemstellungen.


Tatort: Tschill Out – Deutschland 2020 – 89 Minuten – Regie: Eoin Moore – Produktion: Nikola Bock, Iris Kiefer – Drehbuch: Anika Wangard, Eoin Moore – Kamera: Michael McDonough – Schnitt: Claudia Trost, Eoin Moore – Musik: Wolfgang Glum, Kai-Uwe Kohlschmidt, Warner Poland – Darstellende: Til Schweiger, Fahri Yardım, Zoe Moore, Laura Tonke, Ben Münchow u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum von NDR/filmpool Entertainment GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Montag, Januar 13th, 2020 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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