Schienen nach Irgendwo – Kris (1946)
- Melancholie ist das falsche Wort
Für all das, was man nicht sagen will und kann
Man will nicht zurück
Und doch sehnt man sich dorthin
Wohin man nicht mehr gehen kann
(Mutter – Böckhstr. 26)
Noir aus dem Land der bedeutenden Bühnendramatik, Noir vom König des ausexerzierten Schwermutes, aber auch: Noir ohne Bedrohung, Düsternis, Versuchung, kurz Bestimmtheit – vages Drama allein. Ingmar Bergmans Debüt „Kris“ ist überdeutlich der Film eines Menschen, der bestimmte Phänomene, die ihn teilweise bis ans Lebensende beschäftigen sollten, noch nicht abschließend einzuordnen vermag, es wohl gar nicht will – etwas, das man mit derartiger Bestimmtheit für spätere Inkarnationen desselben Filmemachers nicht mehr wirklich konstatieren kann. Mannigfache Motive aus Literatur, Theater und frühem Kino spielen in diesem, zum Teil sicherlich auch imaginativ befeuerten, Wettstreit zweier Mütter unterschiedlicher Definition – die eine qua Niederkunft, die andere adoptiv – ein. Jung gegen Alt gegen Mittelalt, der städtische Rhythmus gegen des Landlebens Betulichkeit, deutsche Lyrikexpressionisten klopfen an und müssen doch weiterziehen – eine wie auch immer geartete Überlegenheit oder gar Abgründigkeit des anderen schält sich zu keiner Zeit heraus. Was nicht unbedingt einem Mangel an Versuchen zugeschrieben werden muss: Erland von Kochs bis zum Anschlag performative Klangwelten spendieren aus unzähligen Streicherhänden nahezu gewaltsam, im Stile einer veritablen Marschmusik, sich formierendes Drama, wo auf natürlichem Wege keines ausbrechen mag. Die Musik ist etwas spürbar Externes im Film eines jungen Dramatikers nach dem Stück eines anderen Dramatikers, auch bloß Teil diverser Kombinationselemente im unerfahrenen Experiment neu arrangiert.
Was ansonsten abgedroschen und altbekannt wirken könnte – Unschuld vom Lande entscheidet sich für die (hier nicht) falsche Zuwendung und gerät ins (hier nicht) verkehrte Leben – gewinnt so beträchtlichen Reiz. Selten bewirken angewandte Symbole das von ihnen Erwartete: Die Städter, die Nelly (Inga Landgré) zu sich entführen, sind entrückt wie hilflos verspielte Kinder, dem Leben scheinbar so fern, obwohl dieses sich in den Ballungszentren der Gesellschaft vortrefflich akkumuliert – auf dem Lande hingegen sind sie alle so konturlos erwachsen, weniger am Scheine haftend, ganz dem Bilde der Expressionisten gemäß und doch so freudlos ernst, immerzu grübelnd, stets besorgt. Einmal träumt die halbverschmähte Sorgenmutter von montagebedingt übereinanderverlegten Schienen – Lebenspfade in entgegengesetzter Richtung, so legt das Bild nahe. Doch dafür inszeniert Bergman nie konsequent genug einer dieser beiden Pendelschwingungen nach, stellt er vorgebliche Unterschiede nicht fingerzeigend genug heraus. Vielleicht gibt es sie nicht – zwei Bühnen, das gleiche Leben. Ein Welttheater. Zwei größere Sets, die Wohnung der Adoptivmutter sowie ein ländliches Großraumtheaterhaus funktionieren nach dem System eines Revolvers. Gleichend den Kammern seiner Trommel scheinen sie um ein flexibles, in der Mitte aller Zimmer eingelassenes Gestänge arrangiert, bloß partiell durchsehbar behaust es Gösta Roosling samt Kamera, die in Drehungen entlang knapper, hier und dort aufbrechender Schwarzflächen den Raumwechsel ganz losgelöst vom Schnitt vornimmt.
Unvorhersehbarkeit wie beim Russisch Roulette, beidseitige Passierbarkeit, Bergmans frühe Unentschlossenheit ist auch der Grund einer größeren Nähe zum Leben, nicht philosophischen oder theologischen Erwägungen, ergo bereits Weiterdenkungen desselben. Im erwähnten Theater entspinnt sich ein waschechter Musikkampf – Anspielen gegen den Verdruss der Existenz; jedoch die Jungen verstehen nicht, wie’s die nur mehr feinstimmig ansingenden Alten angehen, setzen bestärkt durch obige Passagenmechanik progressive Pianogriffe gegen immer lauter zurückfeuernden klassischen Gesang. Eine Dynamik, die doch nur eigentümlichen Gleichklang, exaltierte Spielfreude zwischen beiden Parteien entfacht. Zurück zu den Gleisen, dem bestimmenden Einzelbild des Filmes: Ein Paar identischer, schlicht gespiegelter Schienenverläufe, ein hinweisendes X, überkreuzt und damit auch im Fortlauf nie in Gänze voneinander geschieden, dauerhaft verwoben. Am Ende erzählt Bergman vom Gehen dorthin, wohin man nicht mehr gehen kann, nicht weil keine andere Wahl offen steht, sondern weil es auch dort schön war. Nicht die Kluft zwischen dem, was er ausformuliert, und den Bemühungen der inszenatorischen Teilstücke beachtend kommt es schließlich ganz aus den Figuren selbst gekrochen, das Drama. Sie bleiben geheimnisvoll, unausgelesen wie kaum ein zweites Ensemble Bergmanscher Charaktere danach, Sklaven ihrer eigenen Worte und Ausdeutungen, selbstgesteurt sogar im Tode. Jack (Stig Olin), der beherzte Clown und erfolglose Schauspieler mit den so tiefen persönlichen Makeln, ein offenkundiges Alter Ego, muss sterben, nicht weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil ihm schlicht nichts anderes mehr einfällt als Protest gegen die vergessliche Natur der Dinge, die gleichsam jene der Inszenierung ward, des Kinos allgemein, vor deren Leuchtreklamen er sich die Kugel gibt. „Kris“, das ist auch ein Film, der selbst in narrativen wie produktionsimmanenten Krisen nie gänzlich seinen Humor verliert; ebenfalls etwas, das man gerne des Öfteren über Ingmar Bergman gesagt hätte.
Kris – Schweden 1946 – 93 Minuten – Regie: Ingmar Bergman – Produktion: Harald Molander, Victor Sjöström – Drehbuch: Ingmar Bergman, nach Theaterstück „Moderhjertet“ von Leck Fischer – Kamera: Gösta Roosling – Schnitt: Oscar Rosander – Musik: Erland von Koch – Darstellende: Inga Landgré, Stig Olin, Dagny Lind, Marriane Löfgren, Allan Bohlin u.v.a.
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