Im Bokehnebel – La civil (2021)





Victoria De Durango, Mexiko. Eine Tochter wird von Lösegelderpressern eines Kartells entführt, eine Mutter spürt ihr nach, gerät zwischen die Fronten des eskalierenden Drogenkrieges. Weitere Kreise ziehen die Ereignisse mit jedem Schritt, doch der begleitende Blick wird nicht weitläufiger – bald schon werden sie die Tochter und die Mutter. „La civil“, Teodora Mihais Spielfilmdebüt nach dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Waiting for August“ (2014), versteht diesen Mediumswechsel wie kaum ein zweiter als Chance zur formalen Reflektion und Überkreuzung. Zum inhaltsfixierten, gestalterisch indifferenten Problemfilm kann er nie reifen, denn er meidet die Abstraktion. Obwohl aus einem Dokumentarprojekt über die bereits kurz nach Planungsauftakt ermordete Mutter Miriam Rodriguez in ein gänzlich anderes Medium herübergewachsen, bleibt auch diese Geschichte stets nur die Doña Cielos (Arcelia Ramírez), die ihrer Tochter, bestenfalls noch die ihres Ex-Mannes.

Ein geschickter Kniff, der die Personen- und Individuenbezogenheit dokumentarischer Arbeit unter Zuhilfenahme der gestalterischen Mittel des narrativen Films Möglichkeiten abringt, die besonders bei schon von außen her mit einer gewissen Bedeutsamkeit aufgeladenen Themen gemeinhin als längst verloren gelten. „La civil“ ist ungewöhnlich entspannt, lakonisch, vital und selbstbewusst in seinem Dreieck aus Thema, Tod, Tristesse, weil er sich allein im Moment aufhält, um dann umso erdrückender zu geraten, wenn in seinen dunkelsten Momenten aus eigener Erkenntnis dämmert, dass diese Tortur jedem widerfahren kann. Dann sind die Figuren, ihre Entscheidungen, ihr Handeln plötzlich ganz fern, man bleibt allein in der doch eigentlich von entlang der Wahrheit geschaffenen Charakteren bevölkerten Fiktion zurück. Alles durchweht ein eisiger Hauch, den ich um ein Haar mit der emsig an einem Überwechseln in die Realität arbeitenden Klimaanlage des Filmfestival Osnabrück verwechselt hätte. Reduktion auf das Unmittelbare – so tönt es aus diesem – das ist Genrekino, nicht allein Gewalt, nicht bloße grittiness.

Formal bestärkt Mihai den Druck, der aus Zurückhaltung erwachsen kann. Jenseits des Abspannes erklingt nicht eine Note Filmmusik, die aufgekratzten Stimmen der Darstellenden werden nie durch sie verstärkt, lediglich durch Modulation. Für sie hat ihr Film ein sehr genaues Gespür. Leise und darin brüllend laut vor Frustration über die Zustände – das gemahnt nicht an die Analyse des klugen jedoch distanzierten Kopfes, sondern den Bauch und die Wut in ihm von Damiano Damiani, den Pier Paolo Pasolini einst einen bitteren Moralisten voll Hunger auf vergangene Unverdorbenheit nannte. Jeder Hunger ist längst an der Wirklichkeit verstummt, bitter moralisch aber, das ist „La civil“ auch – eine Haltung, die durchdringender wirkt als jede Predigt, jeder Appell, jede Erweiterung des Blickfeldes es könnte. Ein waschechter Klaustrophobie- und Anspannungsthriller, obwohl er nur seltenin abgeschlossenen Räumen spielt; alteuropäischen Zuschnittes, aber von moderner Haltung und mit Blick auf den gesamten Erdball. Eher diese Welt an sich ist es auch, die hier abgeriegelt wirkt, eng, wie eine auf Fassaden und einzelne Totalen eingedampfte Theaterbautenversion von Victoria De Durango.

Speziell in jenen ausdauernd bebilderten Autofahrten, die Doña Cielo auf eigene Faust und rasch von allen guten Behördengeistern verlassen unternehmen wird, steigt eine Entörtlichung der an der Wut Verzweifelnden auf, welche abermals im Poliziottesco des alten Italiens landet. „Driving all around/Looking for the one/Who took my peace away/But he didn’t know I don’t forget“, heißt es im Titelsong von Enzo G. Castellaris „Il cittadino si ribella“ (1974), in dem ein vormals unbelasteter Bürger jenen Gangstern nachstellt, die ihn ausraubten und traumatisierten. Das ganz ähnliche Fahrten hier ganz anders, nämlich weniger performativ auf die Rache hin, stattdessen reduziert auf Umgebungsgeräusche hin klingen, liegt daran, dass Arcelia Ramírez schon weiß, was Franco Nero, was Europa immer erst verstehen muss. Es sind nicht einzelne Gangster, mit denen man den Kampf aufnimmt, es sind Strukturen – ihre Anwesenheit verrät sich durch jene der Inszenierung selbst. Strukturelles Kino – Ziel und formale Beschaffenheit bilden eine Einheit.

Mittellange bis lange Teleobjektive lassen uns zu wohl oder übel mitspionierenden Fahrgästen werden auf Beschattungen, die den Tod bedeuten; doch auch die Beschränkung auf einen städtischen Auszug, womöglich nur eine Nachbarschaft, wird so zusätzlich forciert. Was nichts beizutragen hat, keine Handlungsgewalt besitzt, versinkt in Unschärfen. Also nahezu alles jenseits unserer Heldin, da ist Teodora Mihai rigoros und gleichzeitig Kameramann Marius Panduru hochkonzentriert, konzis an der Blende. Genau darin, in diesen divergierenden Eindrücken der Bilder, liegt eine eigene Magie, die den harschen Realismus transzendiert, dabei Verschiedenstes schluckt. Einen gefühlten, nicht wahrhaftigen Stadtteil, die ebenfalls aus Willenskraft bewegliche Umwelt vorm Autofenster, die eigenen vier Wände, die für die Aufrührerin neue Ungewissheit zwischen den altbekannten Regalwänden des Supermarktes, Holzjesus am Kreuze, der schweigt. „La civil“ gibt Erkenntnisse über das menschliche Innere im Äußeren fast ausschließlich in Bokeh preis. Eine Inszenierung ganz der ortskundigen, unerschrockenen, einsamen Erfahrung einer einzelnen Frau verschrieben. Denn Teodora Mihai weiß es bereits aus Erfahrung – stirbt sie, so erlischt auch unser Einblick. Dieser Auslöschung hält sie eine ganzheitlich immersive Kinoerfahrungen entgegen. Solange, bis vom thrill nur mehr das Wörtchen ill zurückbleibt. Kino als Schlund – was in Film wie Leben in ihn eintritt, findet nicht mehr heraus. Im Grunde ist das ja wieder dokumentarisch.


La civil – Belgien, Mexiko, Rumänien 2021 – 140 Minuten – Regie: Teodora Mihai – Produktion: Hans Everaert, Jean-Pierre & Luc Dardenne, Michel Franco, Eréndira Núñez Larios, Teodora Mihai, Cristian Mungiu – Drehbuch: Habacuc Antonio De Rosario, Teodora Mihai, nach der wahren Geschichte von Miriam Rodriguez – Kamera: Marius Panduru – Schnitt: Alain Dessauvage – Musik: Jean-Stephane Garbe, Hugo Lippens – Darstellende: Arcelia Ramírez, Alvaro Guerrero, Juan Daniel García Treviño, Jorge A. Jimenez, Ayelén Muzo u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Oktober 20th, 2022 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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