Schulterblick ins Ungewisse – Occhiali neri (2022)





Rom – das wissen nur die Eingeweihten oder vor Ort Gewesenen, ausformuliert wird dieser Raumbezug nie, denn dimmer, immer dimmer wird der filmische Blick bereits lange bevor ein vom sie stalkenden Serienmörder provozierter Verkehrsunfall Dario Argentos jüngster Filmheldin, dem Edelescort Diana (Ilenia Pastorelli), das Augenlicht raubt. Mit der Aufblende auf diese Stadt, eine Stadt, eröffnet „Occhiali neri“ noch, dann entkoppelt sich das Kameraauge sogleich und reckt den Hals empor ins Grüne, in die Wipfel über den Straßen. Erhobenen Hauptes folgt sie Dianas Weg zu einem Klienten; ortlos, ätherisch, wieder und wieder entlang Baumkronen abbiegend. Kein Auge für den Verkehr. Bald bilden sich disparat ablaufende Alleen um einen Split in der Bildmitte, ein Kaleidoskop entgegengesetzter Richtungen. Prinzipiell doch geradeaus, aber eigentlich rechts, links, zur Mitte, an den Rand. Eine eigentümliche Entörtlichung, für die sein Name so gar nicht steht. Das Vergangene, kartografisches Bindeglied so zahlreicher mal verfallener, mal von bösen Geistern über ihren irdischen Verfall hinfort belebter Prunkbauten im Werk Dario Argentos ab „Profondo rosso“ (1975), existiert hier nicht mehr. Zu Gunsten einer Gegenwart, die immerwährende Dunkelheit verheißt.

Doch selbst in dieser, alle verworren erscheinenden Richtungsdränge wird Argento verfolgen, bündeln, abermals zu einer eigenen Bewegungssprache erhöhen – und vielleicht sind es gerade auch diese Pole einer Großstadt, aus der das durch allzu augenscheinliche Abweichungen aneinandergeschraubte Figurenpersonal schließlich nachvollziehbar zusammenstößt. Noch eine weitere Fahrt wird Diana unternehmen, ehe die dritte und letzte das einsetzende Unheil motorisiert. Wir wissen nicht wohin, wir wissen nicht woher; zwei Erlebnisse mit übergriffigen Freiern bilden eine Klammer, die umschließt, was als gefühlte Zeitlosigkeit hinter die Dringlichkeit einer aktuellen Mordserie gesetzt über Individuen und das Einzelne hinausgeht. Am da harrenden Profil vorbei aufgefangen, flackern neonnächtliche Lichtpunkte am Seitenfenster vorbei. Die Blickrichtung entgegengesetzt, bleibt uns verborgen, was Diana sieht, gesehen hat, um die nächste Ecke sehen wird – doch wir ahnen es. Versunkene, aber zu fühlende, genauer: zu erstastende Bilder wie diese bilden das Herz eines Filmes, der sich ausschweigt, das Flüchtige dem Allgegenwärtigen wie Überdauernden vorzieht, lieber seiner Bedeutung nachspürt, die Auswirkungen des Kleinstmöglichen wie ein Seismograph aufnimmt und doch nie im Zorn die Stimme erhebt.

Ein Concierge, der beim Auftaktmord ein entscheidendes Detail beobachtet, verweist kokett auf den Untersuchungskickstarter vieler vorangegangener Argento-Werke, doch gibt es einmal kein übersehenes Detail, keine in den Untiefen trügerischer Erinnerung ruhende Erkenntnis. Alles liegt offen auf dem Tisch, breitet sich vom Gift Lebensschmerz infiziert aus wie jene gräulich-bleierne Fassadenspiegelung, die einmal einer ausgeklopften und vergessenen Fußmatte gleich neben ihrem Antlitz auf Dianas Autoscheibe liegt. Für große Teile seiner Laufzeit ist „Occhiali neri“ auch in direkter Nachbarschaft zur Mörderhatz ein expressionistisch aufgeladenes Melodram über die Stadt und wie sich unser aller Leben in ihr verändert, stimmen einmal die altvertrauten Vorzeichen nicht mehr. Eine Rückkehr zu jener abstrakten, sublim unangenehmen Stahl-, Beton- und immer wieder Glasfetischisierung in Argentos frühen, dezidiert nicht übersinnlichen, dafür konkreter in der damaligen italienischen Gegenwart verankerten Thrillern könnte man dies nennen. Wie sie bezieht er vielerlei an Grauen aus dem allegorischen Nebel vergangener Zeiten – das Städtebild der deutschen Expressionisten, die marxistische Entkernung des modernen Menschen, tierische Freunde und vertierter Mann. Mit letzterem fängt es an, dann, blind und aus dem Vertrauten enthoben, verschwört sich auch der Rest.

Von oben herab, mit einkalkulierter Sturzneigung, beobachtet die Kamera den neuen Alltag, akzentuiert mit stets nach hinten, an den handelnden Personen vorbei gerichtetem Ausblick den potentiellen Aufschlag beim Besteigen der steilen Wohnungstreppe über das Ziel. Die denen der Figuren entgegengesetzte Blickrichtung als Gradmesser innerer Vorgänge ist Argento in dieser Konzentration nicht neu, doch nun verwebt er sie zu einem beständig enger werdenden Netz der tagtäglichen Ängste. Derart häufig führt der Weg ins unerforschte Land jenseits des Kamerastatives, dass die sorgfältige Kodierung der Betrachtungsweise uns unmittelbar den Atem eines gnadenlosen Hetzers auf sie niedergehen wähnen lässt, sobald wir den Figuren auf die Schultern blicken. Voraussehen, das gehört dem Killer allein. Irgendwann wähnt man die anderen selbst dann unter Beobachtung, wenn sie nur im Nachtbus sitzen, den eine vorherige Totale doch gerade noch als menschenleer etabliert hatte. Simpel und hocheffektiv. Eine in den sicher gewähnten Gefilden des Filmes unerwartete Autoverfolgungsjagd lässt einfach dadurch Druck entstehen, dass man nicht sehen darf, was vor der Verfolgten auf der Fahrbahn liegt.

Es ist schließlich das ausgedehnte Finale, welches all diese Richtungswechsel verdichtet, zu einer niederschmetternden Wand organisiert und in eine eigenständige Erzählung fernab des bemerkenswert ökonomischen Plots überführt. Durch Schuldgefühle an den kleinen Chin (Xinyu Zhang) gekettet, dessen Eltern zu Kollateralschäden des ihr geltenden Autoanschlages wurden, schlägt sich Diana mit diesem auf eine Flucht jenseits der Zivilisation. In einem Schlüsselmoment, als die Verzweiflung einen Höhepunkt erreicht und beide endgültig nicht mehr bindet, sondern verbindet, gerät der nächtliche Hintergrund um ihre jeweils mittig in der Komposition positionierten Profile für volatile Augenblicke immer schwammiger. Menschliche Nöte, an denen andere sich auf seitenweise Papier abarbeiten, bedürfen bei Argento und Matteo Cocco, dem jüngsten seiner Reihe an herausragenden Kamerazauberern, längst keiner Worte mehr. Sondern einer beiläufigen Subtilität der Tiefenschärfe, die dem Sehenden vermittelt, was die Blinde bereits fühlt. Dunkelheit. Verlust des Augenlichtes und der Mutter. Es sind wagemutige, kaum lösbare Gleichungen aus den verschiedensten Ecken des Erlebens, die die Erkenntnis befeuern. Man muss sie nicht aufrechnen, denn die Warmherzigkeit strahlt in alle Richtungen davon. „Occhiali neri“ ist die Ungewissheit aller denkbaren Zukünfte in ein Wimmelbild gebannt. Wohin man es neigt, entsteht eine Perspektive.

Von Lichtquelle zu Lichtquelle hangelt sich das ungleiche Duo über rabenschwarzen Wald auf die sporadisch beleuchtete Landstraße zum alten Staudamm mit seinem eifrig angeknipsten Antiklampen, bis es schließlich zurück findet in eine pervertierte Barbarei der Zivilisation. Graduell verschiebt sich dem entgegenstehend alles, denn im Traumwandlerischen der letzten Waldetappe geht auch uns endlich ein Licht auf. Betörende Ruhe zu innerer Aufgekratztheit, weichgeprügelt von den brutalen Schlägen, die andere für einen einstecken mussten; doch zwischen diesen Widersprüchen, aus der sedierenden Wirkung der Gewaltgewöhnung hat sich etwas schleichend normalisiert – zum Ende hin wird der Kamerablick nach vorn immer gewöhnlicher. Der größte Twist eines melodramatischen Thrillers kann nur im Entzug der alleinigen Handlungsgewalt aus den Händen des Killers münden. Er gehört ihm nicht mehr allein, dieser Blick, er muss ihn teilen, verweist dieser doch auf etwas Tieferliegendes. Darauf, wie es ist, mit dem allzeit vermuteten Blick im Nacken zu leben – in der Umkehr verliert er langsam seinen Schrecken. Bereits Argentos zweiter Film, „Il gatto a nove code“ (1971), war zumindest in Teilen auch einer über das Leben mit Blindheit geschlagen, über 50 Jahre später versucht er nun zu ergründen, wie es ist, mit dem Erblinden leben, sich behaupten zu lernen. Und er tut dies allein mit den Augen, auf dass wir es instinktiv verstehen.

Doch dies ist nicht alles und nicht alles, was in auf Seiten und Dialog dressierten Lesearten untergehen wird. Die Kritik ist altvertraut, bereits im Saal hört man sie gern hinter sich aufbranden. Es sei ja noch nie seine Stärke gewesen, das Drehbuch, und generell, diese nicht herausgearbeitete Motivation eines Serienkillers mal wieder. Argento gibt ihn früh preis, seinen Mörder, denn letztlich ist er wie schon in „Il cartaio“ (2005) bloß eine Chiffre, die Manifestation eines spezifisch männlichen Selbstverständnisses, welches dort Wurzeln schlägt, wo das Individuum sich unterbeachtet fühlt. Was diese Kritik oder ein auf erschreckend plastisch herausgearbeitete Frauenmorde fixierter Teil des Horrorfandoms nicht sehen mag, ist, dass ein solches Selbstbild bereits durch beiläufige Handlungen ins Wanken gerät, es keiner Retrospektion bedarf, keinen reflektierten Willen zur späteren Ausformulierung eines zum glatt schluckbaren Motiv gärenden Weltbildes erfordert, lediglich den festen Glauben an eine tiefe Ungerechtigkeit. Misogyne Anspruchshaltung, gekränkter Stolz, erlernte Gewaltmuster, das Phänomen Inceltum. Auch dessen Feinheiten und Gesten jenseits der heraussickernden Sprache sind es, denen Dario Argento näher am Puls der Zeit, als man ihm je zutraut, auf die Spur geht. „Occhiali neri“ ist eine Erzählung von zwei Reisen; einmal die offensichtliche, die gehetzte durch die Nacht, dann die emanzipatorische, die allmählich ins Licht vorrückende. Voyage au bout de la nuit. Das klingt nach Céline, nach Hochkultur. Was kann man mehr verlangen?


Occhiali neri – Italien, Frankreich 2022 – 90 Minuten – Regie: Dario Argento – Produktion: Asia Argento, Conchita Airoldi, Brahim Chioua & Laurentina Guidotti – Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini – Kamera: Matteo Cocco – Schnitt: Flora Volpelière – Musik: Arnaud Rebotini – Darstellende: Ilenia Pastorelli, Xinyu Zhang, Asia Argento, Andrea Gherpelli, Maria Rosario Russo u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum der Urania Pictures – GetAway Films]

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Juni 18th, 2022 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “Schulterblick ins Ungewisse – Occhiali neri (2022)”

  1. Denise Schwarz on Juli 27th, 2022 at 11:05

    Sorry aber wer hat dich bezahlt um diesen Schwachsinn zu verzapfen??

  2. André Malberg on Juli 27th, 2022 at 14:37

    Das mache ich immer schön selbst.

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