100 deutsche Lieblingsfilme #78: Schatten (2019)





Alpha und Omega – ein junger Mann bezieht seine neue Wohnung, ein junger Mann verliert sich in einem metaphorischen Trümmerfeld, einer Seelenlandschaft als Miniaturindustriestadt aus Kartons und Zerfall. Was liegt dazwischen? Ein Schatten, als Raute ruht er knapp über der Fußleiste. Welchen Riegel man ihm vorschiebt, welche Lichtbrechung man anstrebt, er mag nicht weichen. Ist er seelisch, ist er systemisch? Beides scheint plausibel. Denn Joel Oliveiras Debütfilm „Schatten“ erzählt nahezu ausschließlich in Architektur von den Menschen.

Trostlos zieht sich die Stadt entlang des Arbeitsweges, endlose Pfade aus jeder Perspektive. Faul – das ist etwas bereits davor und das ist es danach, es lässt sich nicht konkret bestimmen in einer Welt, die Unbehagen aus simpler Materialität, der bloßen Beschaffenheit der Dinge bezieht. Anspannung im Allerprofansten – wie der berühmte, in mühsamster Handarbeit abgeschabte Wandputz mit dem Mörderrelief dahinter aus Dario Argentos „Profondo rosso“ (1975) wird auch hier die Tapete inszeniert. Doch verbirgt sich keine Erkenntnis hinter der baulich verschleierten Membran zum Alten.

Wo nichts ist, pumpt die Musik dafür umso ärger und bläht den Kreis, welchen eine Waschmittelattacke auf den lösbar gewähnten Unruhestifter um dessen Konturen hinterlässt, zum sachten Nachschatten auf. In seinen ausufernden, auf Klängen getragenen Verrückungen von wie an Mobiliar und Raumauskleidung ist „Schatten“ fast ein Ambientfilm – es passiert nichts, es bewegt sich viel, der sphärische Soundtrack verwabert fragend, doch ohne Antwort. Nachbohrend da, wo das Ergebnis längst irrelevant, dann ein Dröhnen, enervierendes Wuchern eines Drumcomputers, irrlichternde Pianoanschläge – das Stimmungsbild bricht minütlich, bis schließlich Wendy Carlos aus den Leuchtstrahlern emporsteigt, mit denen der junge Mann ein ander Mal seiner Nemesis zu Leibe rückt.

Das ist die eine Seite, die andere die mathematische Belanglosigkeit der alltäglichen Abläufe. Duschzeug gegen Zahnputzutensilien in Reih und Glied, von links nach rechts, von rechts nach links, durchbenutzt, dann wieder angeordnet, als stünde etwas auf dem Spiel. Das kleine 4×4 des Aufstehens. Vier Morgen danach sind es auch, denen wir beiwohnen dürfen – jedes Mal Beschleunigung der Handlungen bei gleichzeitiger Verknappung des Handlungszeitraumes, bis zur eventuellen Zersetzung. Eine Chaotisierung der Bezugspunkte des Zurechtmachens. Kino der Handgriffe und leeren Gesten, das Quälende des gescheiterten Aneinanderreihens, des erfolgreichen Aneinandervorbeiredens jedoch zur Kleinkunst erklärt.

Quälend lang zieht sich das einzige expositorische Gruppengespräch im Freundeskreis hin, die Eleganz, die jede Inszenierung von Alleinsein antreibt, ist passé. Bewusst gesetzte Tortur. Bald schon lässt der Schmerz nach, denn von den Freunden wendet man sich ab wie der Film sich vom gesprochenen Wort entkoppelt. Gestrenge, die totale Subjektivierung aller auch kinematografischen Bewegungsvorgänge setzt unter Druck, bis es auch vor dem Bildschirm normal erscheint, mitten in der Nacht die Wand aufzubohren, wir uns nicht weniger über den an die Tür bollernden Nachbarn erschrecken als der, der da so unverschämt lärmt. Suggestiv, soghaft im ganz Minimalen, „Schatten“ ist Horror ohne Budget, ohne Schrecken, bloß mit einem Flecken auf der Wand. Allein aus der Bespiegelung sowie Abkehr von Abfolgen bezieht er das Gros seiner Wirkung, zwischen den Fugen reift ein grobes Verständnis. Irgendwann fallen sie ins Auge, die immer und gegen Ende hin immer mehr schaffenden Hände, vor allem hingegen ihre Absenz im Büro, in der Außenwelt. Das, was wir Arbeit nennen, wird vom PC-Bildschirm verdeckt.

Visuelle Konstanten schaffen Muster, aber ein Aufbrechen dieser setzt nicht ein. Im Abgebildeten wie im Abbildenden wird das Unangenehme nicht eingeordnet, sondern in Isolation gesteckt, bis es platzt. Am Morgen des letzten Tages liegt die Wohnung in Ruinen. Zerstörung von innen nach außen gewandert und zurück. Ist es internalisierte Dauerrestaurierung, die Optimierung des Selbst in der Fremdwertgesellschaft, das ewige Arbeitscredo einer sozialdarwinistischen Ordnung ins Innerste gestülpt, wovon der Film erzählt? Zeigt sein Ende die Kapitulation in eine Depression oder abgekapselte Behauptungsversuche gegen eine desinteressierte Welt? Joel Oliveira schweigt sich aus. Einen Schluss lässt die komplette Hermetisierung dennoch zu: Im völligen Verlust des tangibel Menschlichen einer Endsequenz, die dem herumräumenden Leib des Auftaktes nur mehr eine entkörperlicht umherschweifende Kamera entgegenhalten kann, steckt es drin. Dieses vertraute Gefühl, dass da nur mehr diese eine Baustelle an einem selbst ist, die es zu beheben gilt, bevor das Leben beginnt; die einen doch am Renovieren hält, bis es verstimmt.


Schatten – Deutschland 2019 – 73 Minuten – Regie: Joel Oliveira – Produktion: Joel Oliveira, Raquel Oliveira, Eric Linß – Drehbuch: Joel Oliveira, nach einer Geschichte von Joel Oliveira und Stefan Ameis – Kamera: Eric Linß – Schnitt: Eric Linß, Joel Oliveira – Musik: Leonidas – Darstellende: Joel Oliveira, Anna Brüggemann, Malena Krohn, Eric Linß, Marc Wilnauer

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Juli 1st, 2022 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen