Die Stadt in 52 Minuten: Il tram (1973)




    Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
    Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
    Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.

    (Georg Heym – Die Stadt)

Eine bereits bekannte Vorbemerkung: Wie von Luigi Cozzi in den Begleitmaterialien zur deutschen Veröffentlichung inständig erbeten, wurden die Episoden dieser Fernsehserie im originalen Schwarzweiß angesehen. Original deshalb, weil dies schlicht die Form ist, die sie – dem Stand der Technik geschuldet – bei ihrer Erstausstrahlung annahmen und für die man folglich komponierte. Architektur und Ausstattung wurden nicht entsprechend ihrer Farbkraft, sondern ihrer Wirkung in Schwarzweiß ausgewählt. Farbiges Negativmaterial stellte die RAI nur im Hinblick auf den gewandelten Zeitgeist bei etwaigen, allerdings wohl nicht erfolgten Wiederholungen zur Verfügung. Dario und Enzo erklären, was stimmiger ausschaut:

    . . .

Dario Argentos „Il tram“, die zweite Episode der kurzlebigen RAI-Fernsehserie „La porta sul buio“, steigt exakt an jenem Punkt wieder ein, an welchem Luigi Cozzis meisterlicher Pilot „Il vicino di casa“ aufhörte, wenngleich auch der Blick, davon können wir uns sofort nach der Aufblende überzeugen, nun tatsächlich entschlossen auf der vormals nur dunklel aus dem Hintergrund drohenden Stadt ruht und, dem wird man wiederum erst im Laufe der knappen Stunde gewahr werden, aus dem Abstrakten ins entschieden von Zeitkontext wie auch -geist Geprägte verschoben hat.

Munter vor sich hin rotierend verrichtet eine Waschanlage ihre vorerst nicht als ergebnisreich anerkennbaren Dienste, bis auf einmal ihre Schwämme von einer Straßenbahn vertikal durchbrochen werden, die wirkliches Vorwärts in die trotz Bewegung stillstehende Kadrage bringt und wie zum Dank prompt eine große Portion Wasser auf die Scheibe gespritzt bekommt. Vor dem ersten Schnitt des Filmes nicht mehr verschwindend, darf sie des Fahrers Sicht so nachhaltig vernebeln. Eine kleine Miniaturvariante, eine Vorankündigung von Argentos Betrachtungen zu einem von moderner Technik zumindest teilweise und im Rahmen der Geschichte um eine nach eben dieser gerade erfolgten Reinigung verkeilt unter den Sitzen aufgefundenen Frauenleiche auch tatsächlich architektonisch verdeckten Blick. Niemand hat mir der Dame gesprochen, niemand sie aussteigen sehen oder ihren offensichtlich im besetzten Waggon erlittenen Tod mitangesehen. Es ist ein entschiedenes Unwohlsein gegenüber der städtischen Entfremdung zwischen den Menschen, das Argento schon mit dieser Zusammenfassung des vorläufigen Untersuchungsergebnisses etabliert und durch die Unterfütterung mit weiteren nebensächlich scheinenden Details in einen größeren politischen Kontext einordnet: Das Opfer war Fabrikarbeitern, stammt vom Land, wo es seine Familie zurückließ und wurde – so viel sei verraten, denn im Tatort wimmelt es ohnehin nahezu ausschließlich von ihnen – durch einen anderen Proletarier getötet. Die fortschreitende Landflucht und Industrialisierung der ausgehenden 60er Jahre erscheinen als latentes Drohszenaria in einer Gesellschaft, die Enge allein als etwas Räumliches – Personengedränge in der Straßenbahn, immergleiche Fiat-Ketten im Stau vor den Fenstern des Abteils oder anonyme, kaum Möglichkeit zur Orientierung bietende Häuserfronten – greifbar werden lässt, nicht jedoch als Anbindungsdistanz zu seinen Mitmenschen.

Sich aus dieser Ausgangslage entwickelnd verschärfen gegensätzliche, je nach Situation ver- dann entschärfte Spitzfindigkeiten der Inszenierung die Beklemmung, der größte Schrecken von „Il tram“ speist sich nicht aus einem umherstreunenden Hakenmörder, sondern aus einer klassisch expressionistischen Großstadt- sowie der sich zwangsläufig aus ihr hervorschälenden Geräuschkulisse. Als deutsch wahrgenommene oder ausgebene Motive sind Argento wahrlich nicht fremd, so überdeutlich auf den Spuren überempfindsamer Stadtchronisten wie Georg Heym oder Ernst Stadler wandelte er jedoch zuvor und danach nie wieder. Rein architektonisch liegt bereits einiges in den wenigen Handlungsorten im Argen: Schon frei fördert die Befragung zu Tage, dass auch der Schaffner in keinster Weise mit der Verstorbenen in Dialog trat oder sie gar wahrnahm – nicht allein aus urbanem Desinteresse, vielmehr aus einer systemimmanenten Exklusion nicht weniger Blickwinkel heraus. Es existieren allein Spiegel für die Türenseite, geeicht auf die Kontrolle des korrekten Ein- wie Ausstiegablaufes – nicht mehr, nicht weniger. Auch in der Montage lauert eine seltsame Unruhe, fast schon Hektik begraben, die wie Giorgio Gaslinis eigenwillige Spannungsmusik zu profanen Bahnfahrten auch dann eine beklemmende Affektwirkung entfalten darf, wenn weit und breit nichts von Relevanz geschieht. Sich ohne Unterlass öffnende, dann bar jeder Verschnaufpause wieder schließende Bahntüren, das überdeutlich akzentuierte Zischen der Hydraulik, ein nicht selten in die tonale Hauptrolle versetztes Rattern der Bahn und ihrer Räder, alles scheint einer strengen, von äußeren Umständen vorgegebenen Choreographie zu folgen. Einer Choreographie, die aus der Technik heraus auch auf die Menschen der Stadt übergreifen, sie bis in ihre stillen, so wunderlich technikbefreiten Kammern verfolgen darf.

Commisario Giordani (Enzo Cerusico) lässt sich dies am deutlichsten anmerken. Schon zu Beginn folgt eine lange, vergleichbare set ups aus „Non ho sonno“ und „Il cartaio“ vorwegnehmende Kamerafahrt unterhalb der wortwörtlichen Gürtellinie ihm, genau genommen aber seinen unentwegt schnippsenden Fingern über die Flure des Polizeireviers, deren schwammig-unscharfe Tunnelhaftigkeit sie so nervös einfärbt. Im Verlauf dieses, wie er in Gesprächen mit seiner Freundin, gerne betont karrierebestimmmenden Falles wird dieser Tick wieder und wieder auftauchen, stets ein wenig wachsend in der Intensität und beim bemerkenswert ereignislosen Versuch das Geschehen nachzustellen schließlich als sich intensivierender, gedankenverloren direkt vorm eigenen Ohr durchexerzierter Gegenpol zum nie versiegenden Rollen der Straßenbahn. Man kann es ihm nicht verübeln, dort drin scheint die Zeit stillzustehen, immerfort vorwärts rollend und doch jede Aktionsrichtung im Inneren nullifizierend – ganz ähnlich wie in diesem nächtlich dahinrasenden Stahlwurm, mit dem Argento fast vierzig Jahre später „Non ho sonno“ beginnen lassen sollte. Züge und Bahnen stellen einen eigenen Mikrokosmos dar, aus deren Fenstern Giordani sich mit zunehmend genervten Blicken in die zerbeulte, dennoch etwas lebendigere Außenwelt wünschen darf.

Oder irgendwohin, egal wo, in irgendein warmes Zimmer, irgendein Bett – aber wie nur und mit wem? Einen eklatanten Rede- oder Nähebedarf abbildend setzt Argento doch wieder und wieder steile Kontraste. Die pechschwarze, einsame Nacht einer zweiten Versuchsanordnung gegen das bedrohlich grelle Leuchten der steil über den Schienen montierten Straßenlampen, gespenstische Ruhe, vor allem auch von dem sonst so redseligen Giordani und seiner ihn nun mehr aktiv unterstützenden Freundin, im Zug und doch ein endlos lamentierender Bäcker als Fremdkörper. Die Bahn als großer, demokratischer Gleichmacher – die diversen Brotjobs nachgehenden Proletarier, ein den Gestus eines Professorts hochhaltender Schmierlappen mit spür- jedoch nicht sichtbarem Dreck am Stecken, letztlich die ermittelnden Beamten, so sehr Berufe, Stände eher, etwas den ganzen Film Dominierendes inne haben; hier sind sie vorerst alle gleich – doch, oder gerade deshalb kein Interesse am Nächsten. Zu leicht könnte man in dieser Zwischenwelt zu tief, zu ungewollt in die Seele des Nebenmenschen stechen. So fehlen sie auch beim zweiten Versuch alle, die hilfreichen und doch so blind gewesenen Zeugen des ersteren. Ein jeder hat seine Gründe: Der so ungreifbar Befleckte ist spurlos verschwunden, die Stadt hat ihn verschluckt, nur er wird wissen warum; die anderen sind eingebunden in die stramme Plackerei, lassen sich entschuldigen. Schon Brecht wusste es: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Vielleicht war es genau diese Akkumulation solcher und ähnlicher Eindrücke, die den Commissario zu einer Handlung veranlasste, die nun doch eigentlich etwas auf dem Spiel stehen lässt, das Leben eines von ihnen. Für wenige Minuten nur verwandelt „Il tram“ sich in eine bemerkenswerte, spiegelverkehrte Paralleldenkung zu Vittorio Salernos gleichsam im Herbst 1973 uraufgeführten Klassenverhältnisthriller „No il caso è felicemente risolto“. Das Motiv des aus eigener Unkooperativität und Polizeiparanoia zu Unrecht Verurteilten – dort auf der anderen Seite dieses Machtverhältnisses: Enzo Cerusico! – wird hier ergänzt um mangelndes Interesse am hängenden Kleinen, den Druck des ersten richtigen Falles. Trotz späterer Reue, ein neu hinzugefügter Tick, das übergriffige Greifen in Nacken wie Gesicht des Verdächtigen, erzeugt, ganz ohne dass Argentos Narration Giordani wie auch immer geartete Floskeln in den Mund legen müsste, szenenweise ausgeprägte Antipathien, erzwingt eine intellektuelle Selbstverortung der Zuschauenden. Auch hier: Brecht wohin das Auge blickt. Argento, der wegen Dingen, die er Figuren über Homosexuelle in den Mund legte, nach wie vor gerne völlig konträr zu seinen in bloß wenigen Filmen (namentlich diesem hier und der häufig mild belächelten Revolutionskomödie „Le cinque giornate“) dafür umso deutlicher ausformulierten politischen Überzeugungen eingeordnet wird, ist einer der großen linksreaktionären Filmemacher des Kinos. Emanzipatorischen Bestrebungen vornehmlich zugewandt, argumentiert er dennoch seltenst mit einer zu erreichenden, dabei unspezifischen Zukunft, lieber mit der Vergangenheit und einem kaum verhohlenen Misstrauen in revolutionäre Umbrüche. In vielen seiner Filme steckt ein schwer zu greifendes Unwohlsein gegenüber der modernen Welt: Der auf Außenstehende des Jahres 2006 geradezu absurd lächerliche Stand der Technik in „Il cartaio“, die Anklänge an deutsche Expressionisten aus Lyrik, Film oder Malerei, die nicht allein das ganze Projekt „La porta sul buio“ beschäftigt halten, natürlich auch: Der antiquierteste 3D-Film – Straub-Huillet mit Pop-Ups – den der menschliche Verstand sich auszumalen in der Lage ist [„Dracula 3D“ (2012)]. Der deutsche Filmgelehrte Viktor Rotthaler nannte Argento einmal einen den Opiumhöllen des 19. Jahrhunderts entstiegenen Dandy – das ist in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Beobachtung, die weit über Auftreten und Aussehen hinausblickt.

Im einen beträchtlichen Teil der 52 Minuten einnehmenden Finale verdichten diese Anklänge zu einem bizarren Schreckensbild. Verkommenheit bröckelt aus dem abblätternden Putz des Bahnhofes, Industrielandschaft wie verwildert, von der Natur zurückobert und doch in ewiger Nutzung gefangen. Enzo Cerusico kleingeschrumpft vor den Himmel unangenehm durchbrechenden Strommasten. „Il tram“ ist ein entschieden unschmeichelhaft gekleideter Film, seine Bilder haben nichts mit auch nur annähernd attraktiven Reisekatalogpanoramen zu schaffen und doch lief dieses faule Ei wie schon „Il vicino di casa“ ganz regulär im italienischen TV an, bevor die weiteren Folgen der Miniserie eher Produktionsumständen geschuldet denn echten Eingriffen langsam aus dem radikal avantgardistischen Gestus der Auftaktes fielen. Blicke durch und aus Glas, Leuchten, die wieder und wieder in den Fokus der heranzuckelnden Montage geraten, Alpträume aus Metall, Technik als Trennwand zwischen den Menschen, wie die Bahn, an deren Seiten Jäger und Gejagter fast ironisiert anneinander vorbeischreiten. Eigensinnige, architektonische Fetischisierungen wie aus Argentos selbst im eigenen Werk singulären Debüt „L’uccello dalle piume di cristallo“ (1970), nun stärker politisch aufgeladen, näher an der Wirklichkeit entlang statt einer unterbewussten, abstrakten Verstörung verschrieben. Schlussendlich herausgeschälte Mordmotive machen klar, auf was die Mise en Scène schon pochte: Immer bei Nacht brechen sich unlautere Gelüste ihre Bahnen. Affären, Belästigung, Mord – die Anhängsel einer durch und durch prekären Lebenssituation. Der enttäuschte Liebende, der immer stramm am Abgrund herumchargierende Bäcker, wie viele Menschen da draußen sind noch wie sie? Innerlich verformt, zerdellt durch äußere Umstände. Ein Rückgriff auf, eine Ergänzung zu Cozzis Beitrag, die den Bruch steinerner Fassaden im Urlaubsparadies der Städter nachspürte. Zum Schluss ein heiterer, offen politischer Scherz: die sauberen, makellosen Hände des unsauberen Commissario – knalllinke Zivilisationskritik, das ist „La porta sul buio“.


Il tram – Italien 1973 – 52 Minuten – Regie: Dario Argento – Produktion: Dario Argento – Drehbuch: Dario Argento – Kamera: Elio Polacchi – Schnitt: Amadeo Giomini – Musik: Giorgio Gaslini – Darsteller: Enzo Cerusico, Paola Tedesco, Fulvio Mingozzi, Pierluigi Aprà, Corrado Olmi u.v.a.


Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, März 26th, 2020 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Die Stadt in 52 Minuten: Il tram (1973)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (30-03-20) on März 30th, 2020 at 19:09

    […] wir gerade bei Argento sind: André Malberg hat sich auf Eskalierende Träume ausführlich dessen TV-Episode „Il tram“ von 1973 […]

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