Vorwärts, Rückwärts, Einerlei – Non ho sonno (2001)




    Diese Straße, dieses Haus
    Ist wie die gute alte Freundin
    Die dich vor langer Zeit verließ
    Jetzt hier zu sein, entlang zu gehen
    Gefilmt wie aus einem Auto, das nicht hält
    Tut weh – so weh
    Tut weh – so weh

    (Mutter – Böckhstr. 26)


Es dürfte ein eher seltenes Phänomen sein, dass die Schwächen eines Filmes sich dezidiert, richtiggehend untrennbar verknüpft aus demselben See intellektueller Denkarbeit speisen, der gleichsam dessen interessanteste Überlegungen, die aufregendsten inszenatorischen Kunststückchen mit Lebenskraft versorgt. Dario Argentos nicht einmal notdürftig verhohlener Remix seines universell geliebten Klassikers „Profondo rosso“ (1975) ist ein solcher Film. Was ihn speziell macht, steht bereits auf der reinen Aktionsebene ausgiebigst zur Disposition: Immerzu rückschauend dreht sich wirklich alles um das in der Vergangenheit Liegende: 17 Jahre zuvor begangene, nun allerdings erneut aufflammende Morde eines doch angeblich bereits verstorbenen Serienkillers, ein mit seinem Erinnerungsvermögen ringender Altkommissar sowie eine Gruppe von Freunden, die sich seit ihres maximal adoleszenten Daseins vor eben diesen 17 Jahren nicht mehr sahen, nun aber durch den Sog der Ereignisse abermals zusammengeführt werden.

Rückwärtsbewegungen also wohin das Auge blickt. Wie könnte Argento da widerstehen, es seinen Protagonisten gleichzutun: Eingebettet in die Variation eines lange zurückliegenden Werkes finden sich immer wieder Remiszenzen an seine filmische Vergangenheit ein – ganz wie einst in eben jenem hier Pate stehenden Giallo eine motorisierte Puppe als animatronischer „Komplize“ des Mörders, versehen mit der vernarbten Haut des kindlichen Ungeheuers aus „Phenomena“ und für einen sehr ähnlichen jump scare eingesetzt, die Kamerafahrt an einer Häuserwand empor aus „Tenebre“ (1982), die abermals aus „Profondo rosso“ entliehene Blutlache, die Teile des Abspanngeschehens spiegeln darf – dabei allein blasse, wenngleich hübsch anzuschauende Pastiches produzierend. Nichts davon verrät irgendeine Form inszenatorischer Tiefe, von gedanklichem Ausbau, bleibt reine Nostalgie für für nach dem möglicherweise idiosynkratischsten Film seiner Karriere, „Il fantasma dell’opera“ (1998), amtlich verprellte Jünger – schau mal, das ist ja wie einst in den goldenen Jahren! Aber das ist eben auch nicht alles. In „Non ho sonno“ ruht etwas die bedachten Luftzüge des Analytikers Nehmendes, ein ureigenes Meta-Bewusstsein, das diese Probleme, die resultierende Stagnation des Regisseurs nur allzu gut kennt und immerzu im Stillen, in der bisweilen höchst abstrakten Mise en Scène reflektiert und als oberflächlich gediegene Kinoversion einer beliebigen „Commissario Montalbano“-Folge erneut ausspeiht. Es vollzieht sich mit diesem Film ein Übergang von den wohlbudgetierten, von maximaltalentierten Mitstreitern wie den Kameramännern Luciano Tovoli, Luigi Kuveiller und Erico Menczer, dem in den „goldenen Jahren“ beinahe durchgängig eingesetzten Cutter Franco Fraticelli oder dem bei Argento zum Niederknien experimentellen Ennio Morricone mitumgesetzen Visionen zu schwächeren, nun nicht selten von einer Unzahl an Autoren bearbeiteten Drehbüchern, geringeren Budgets und teilweise überforderten Schauspielern. Hindernisse, die in den 2000er Jahren endgültig den unbeirrbaren Auteur aus Argento herausschälten, ihn nach der absurden Poesie der 90er in auf eine zutiefst reizvolle Art verkopftes Terrain wandern ließen. Viele dieser Filme gehören zu den problembehaftetsten Produktionen seiner Karriere, wichtiger allerdings zu den interessantesten Reflektionen eines, allen Unkenrufen bezüglich einer angeblichen um sich greifenden Senilität zum Trotze, nimmermüden Geistes.

Ansichtig wird der Zuschauer dieses Überganges erstmals in jener Szene, die gerne und nicht ganz zu Unrecht als ein letztes nervenzehrendes Kabinettstückchen der Argentoschen Variante des Spannungskinos gesehen wird – ein Pfad, den er schon allzu bald zu Gunsten avantgardistischerer Imaginationen verlassen sollte, was selbstredend nicht auf das selbe Maß an Gegenliebe stieß. Die den Film kickstartende Verfolgungsjagd durch einen gottverlassenen ICE, die, es versteht sich von selbst, ganz vorzüglich rein auf jener gerade angesprochenen Ebene funktioniert, allerdings auch Argentos großartige Arbeit als Chronist menschlicher wie filmischer Bewegung mit einem Paukenschlag erneut ins Rennen wirft. Totalen des im großen Stahlwurm gefangenen Geschehens lassen die so letztlich einmal mehr ausweglose Flucht – ein Terminus, der eventuell gar nicht so unbedeutend für den Film an sich ist – einem ziellosen Hin- und Herlaufen in zwei entgegengesetzten Bewegungen gleichkommen: Der unaufhaltsame Lauf des Zuges sowie der Fluchtversuch in, dann gegen die übergeordnete Reiserichtung. Dabei augenscheinlich: Blicke ins Gesicht, über die Schulter hinweg des derzeitig handelnden Protagonisten, weg von dem, das kommt hin zum Zurückliegenden.

Schon einer der nächsten Szenen soll diesen Vorgang aus der Isoliertheit eines durch die Nacht rasenden, Anfang wie Ende vermissen lassenden Pfeiles in einen größeren zeitlichen Umhang kleiden. Um die Ratlosigkeit in Anbetracht neuerlicher Ausläufer der wieder erstarkten Mordserie einzudämmen, suchen einige Beamte den pensionierten, einstmals an die Fersen des Schlächters gehefteten Kollegen Moretti (Max von Sydow) auf, fahren dabei im Laufe ihrer Häusersuche an einer anachronistisch gepflegten, fast wie mit den glühenden Augen des sehnsüchtig Heimkehrenden eingefangenen Nachbarschaft vorbei. Streng in einem einzigen take aus dem Seitenfenster gedreht, präsentieren sich drei distinktive Blick- wie Fortbewegungsrichtungen in einer Aufnahme: Das rein durch die Bewegung des Autos an den Häusern vorbei bedingte Vorwärts, der dem Revue-Passieren-Lassen gleichkommende Blick durch das Glas, letztlich das durch den Fokus auf den, die Straße diametral zur Fahrtrichtung verlaufen lassenden, Seitenspiegel akzentuierte Rückwärts. Drei Bewegungen, eingebettet in das übergeordnete Thema des Films, den Stand der Dinge in Argentos Karriere müssen sie auch Optionen gewesen sein, mit denen im Jahre 2001 wahrscheinlich intensivste Beschäftigung stattfand. Der in „Non ho sonno“ beinahe besorgniserregend oft ausgesparte Blick nach Vorn dürfte wohl den Ausgang dieses Gedankenprozesses – Wo will ich hin, Wo komme ich her? – wiederspiegeln. Dieses Mal ist es keine coming-of-age-Geschichte seiner Figuren, sondern die eigene, die Argento bewusst – dass er kein reflektierter Mensch sei, ist ja nun wahrlich das Letzte, das man ihm vorwerfen kann – ganz nebenbei in einem aalglatten Thriller visualisiert, als würde er nicht schon auch frei von jedweder gedanklichen Vertiefung funktionierendes Genrekino inszenieren.

Der den Helden zugewandte, vom Geschehen, in das sie festen Schrittes, den Blick stramm voraus hineinschreiten jedoch Abstand nehmende Blick der Kamera wird zu stilistischem Hauptmerkmal und ausgebreitetem Daseinszustand gleichermaßen. Die Vergangenheit ist stark und verspricht Sicherheit, kaum ein Film lässt diese bisweilen bittere Erkenntnis nicht weniger Künstlerlaufbahnen metatextuell ausgeprägter Revue passieren. Moretti ist ein überdeutliches alter ego, Argento geradewegs anrührend in das Seelenleben eines noch etwas älteren Mannes vertieft, der sich ironischerweise ebenfalls fast die gesamte Laufzeit des aus alten Versatzstücken zusammengepuzzelten Filmes mit der Rekonstruktion eines ebensolchen Kunstwerkes, des die Morde der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus diktierenden Kinderreimes, verbringt. Sein Tod im Momente des größten, das nachlassende Gedächtnis schlagenden Triumphes ist einer der betörendsten weil persönlichsten Momente des bitteren Romantikers, der diese Existenz in Film goß. Es ist nicht zuletzt die eigene Vergänglichkeit, die einen Menschen zur Rückschau gravitieren lässt, Rückschau die in der angedeuteten Alzheimer-Thematik Anschluss findet, einen etwas wehmütigen Twist auf die im Unterbewusstsein verbuddelten Obversationen seiner frühen Gialli bildet. Doch auch im ungleich jüngeren, vitalen Part unseres Heldengespannes, Giacomo (Stefano Dionisi), scheinen Filamente von Argentos Seele zu stecken. In Kenntnis des blutigen Reigens, der einstmals schon seiner Mutter das Leben entriss, gesetzt, eilt er, ohne jemals einen Gedanken an die Gegenwart zu verschwenden, aus den USA zurück nach Italien – just wie es Argento keine zehn Jahre zuvor nach „Trauma“ (1993) selbst tat. Ein bereits wahrgenommener Ausweg, ein Verlangen nach Ausbruch, das erst nach diesem Film im größeren Stile Früchte tragen sollte?

Möglicherweise, im Jahre 2001 jedoch steht für Giacomo wie Argento gleichermaßen erst einmal anderes auf dem Plan. Ohne Unterlass ihre Bahnen ziehend, dabei mehrmals Position wie Laufrichtung wechselnd unternimmt Ronnie Taylors Kamera beim Wiedersehens des Ersterens einstiger Clique annähernde Kreisfahrten um die am Tisch (of all places!) einer außerhalb des zur Entstehungszeit Angesagten feiernden Discothek. Dem belanglosen Geschwelge des Dialogs somit eine visuelle Transkription zur Seite stellend, die weit über die Narration hinausragt – dabei aus schlichter architektonischer Unmöglichkeit, einen muss es immer treffen, nie gebrochen: Der nun höchst vertraute Schulterblick! Ein veritables perpetuum mobile der Rückwärtsgewandtheit, kaum von weniger Selbsterkenntnis erfüllt als der durchgängige Kamerablick durch und auf zwei (eins davon freilich vergiftet, ergo auch narrativ relevant) Glas Bier bei der zweiten Zusammenkunft der Wiedervereinten. Seine Krönung findet dieser abgewandte Blick schließlich in einer weiteren wohlgelittenen Sequenz des Argentoschen Spätwerkes: Der vorgeblich visuell ausgesparte, stattdessen mit einer Fahrt entlang eines Teppiches bebilderte Mord an einer jungen Ballerina. Seitlich angeschnitten verirren sich Beinpaare in alle erdenklichen Richtungen, ihr Ziel, Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung nie preisgebend. Als Giacomo einen aus dem Leben befördeten Helfer im Krankenhaus aufsucht, findet sich ein ganz ähnliches, möglicherweise das Geschehen oberhalb der Hüfte ergänzendes Bild. Im Austritt eingefangen kommt er auf die Kamera, auf uns zu, während rechts neben ihm Menschen aus entgegengesetzter Richtung unter der gleichförmigen, mehr schon tunnelartigen Überdachung vorbeiziehen – kein vorne oder hinten, kein Eingang oder Ausgang; Schwebe, Stillstand.

„Non ho sonno“ indes verfügt sehr wohl über einen Ausgang, einen allerdings, der mehr oder weniger einer Zusammenfassung gleichkommt, noch einmal all das verdichten darf, was zuvor Fragment eines großen Ganzen war. Herausstechend ist dabei jene Verfolgungsjagd, die alles, was man über die Inszenierung einer solchen zu wissen glaubte, kurzerhand über Bord werfen darf. Motorisiert and die Fersen eines flanierenden Übertäters geheftet, signalisiert Giacomos am stockenden Verkehr orientiertes „Let’s go!“ stets das Wiedereinsetzen eines Flußes, wichtiger allerdings noch den Übergang zur Totalen der hinter der Frontscheibe Beobachtenden, einer weiteren vom Geschehen abgewandten Aufnahme also. Durch die Mal um Mal präzis wiederholte Anwendung dieser Technik etabliert sie sich rasch als Maßeinheit des ausgesparten Fortschrittes, während der Blick aus dem Gefährt nach vorn ausschließlich Hindernisse – der Verfolgte verschwindet hinter einem Auto, steigt in einen Bus etc. – einfangen darf. Schließlich findet die Hatz mit einer abermaligen, die Eintrudelnden so umgehend wieder einsammelnden Rückaufnahme von Gegenüber des so ausfindig gemachten Unterschlupfes ihr Ende. Der eigentliche Akt des Verfolgens wird somit keine Sekunde lang auf der Leinwand freigelegt, eine aberwitzige und doch so aussagekräftige Entscheidung, die nicht angemessen vorbereiten will auf die nun folgende, einzig bedeutende Vorwärtsaufnahme des Films. Regelrecht vernarrt auf eine eigentümlich gleißende Tür – eher eine flirrende Versuchung oder Fritz Langs „Secret Beyond the Door“ (1947) (eh ein Schlüsselfilm für Argentos Wirken, meint Robert Zion) verdichtet in ein einziges visuelles Pastiche – im nur scheinbar verlassenen Gebäude zuschreiten. Ein seltener Einklang in den Blickrichtungen von Protagonist und Zuschauer, wir allerdings befinden uns räumlich einige wenige Meter weiter zurück, gerade ihrer genug, um zu bemerken, wie Gabriele Lavia wie weiland schon Anthony Franciosa (in „Tenebre“ [1982]) unvermittelt aus dem Abseits unterhalb des Bildauschnitte im wahrsten Sinne des Wortes auftaucht. Der Blick nach vorn, auch in Argentos eigene, möglicherweise gerade hinter dieser Türe verborgen liegende filmische Zukunft, er entpuppt sich als eine weitere Finte, eine Falle gar, die laut auszurufen scheint: „Watch your back!“ Es sind diese Diskrepanzen in Stoß- wie Blickrichtung des großen Ganzen im Kleinen, aber auch umgekehrt, die das Dargebotene ein nicht unbeträchtliches Stück über seine tendenz-biedere Herkunft hinauswachsen lassen, „Non ho sonno“ als einen Film des Umbruchs ausweisen, der den Weg in die goldene, alternativ bleierne Zukunft – da ist sich die Filmgeschichtsschreibung noch nicht im Einen – zu pflastern begann.


Non ho sonno – Italien 2001 – 117 Minuten – Regie: Dario Argento – Produktion: Claudio & Dario Argento – Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini, Carlo Lucarelli – Kamera: Ronnie Taylor – Schnitt: Anna Rosa Napoli – Musik: Goblin – Darsteller: Max von Sydow, Stefano Dionisi, Chiara Caselli, Roberto Zibetti, Rossella Falk u.v.a.


Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, November 29th, 2018 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Vorwärts, Rückwärts, Einerlei – Non ho sonno (2001)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (03-12-18) on Dezember 3rd, 2018 at 17:48

    […] Als Dario Argentos „Non ho sonno“ 2001 erschien, hatte ich mir gleich die italienische DVD besorgt. Besonders angetan war ich damals […]

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