Shapes of an alternate reality – Il gatto a nove code (1971)
- The dreams I dream only the lonely dream
Of lips as warm as May
That hopeless scheme only the lonely scheme
That soon somewhere you’ll find the one that used to care
(Frank Sinatra – Only the Lonely)
Es gibt sicher eine ganze Menge Kriminalfilme, deren umständlich verknotete Geschichten mich kaum interessieren, unter diesen dürfte allerdings nicht einer sein, bei dem dies ausgeprägtere Ausmaße annimmt als bei Dario Argentos leider reichlich – nicht zuletzt auch von ihm selbst – ungeliebtem Zweitwerk „Il gatto a nove code“. Ehrlichgesagt vergesse ich sogar jedes Mal aufs Neue wie das so war mit der Genetik, diesen Mördergenen und den unerwünschten, ergo zu vertuschenden Ergebnissen. Das gerät keinesfalls zum Hindernis, scheint Argento doch selbst andere Prioriäten bei diesem Film gehabt zu haben – eine Überzeugungstat ist er, die den nach okjektiven Wertzuschreibungen trachtenden wissenschaftlichen Diskurs einmal entschieden an den Rand der filmischen Erzählung verweist und geradewegs beseelt von händeringender Verzweiflung vom nicht mensurablen Wert abseitiger Existenzen erzählt. Und der weitestgehende Verzicht auf Argentos eigene Psychologiesierungstendenzen tut ihm sichtlich gut – der direkte Nachfolger sowie letzte Film der sogenannten Tier-Trilogie „4 mosche di velluto grigio“ (1971) wurde mit seinen heillos ungeschickt gestelzten, biederst funktionalen Erklärbärdialogen prompt ein zur Hälfte (die andere besteht fast ausschließlich aus einigen der schönsten Einfälle seiner Karriere!) besonders ärgerliches Gegenbeispiel.
Schon bald sollte ebendiese, dann bisweilen auch tatsächlich clevere visuelle wie narrative Aufladung mit wie auch Umsetzung von moderner Psychologie Argentos Markenzeichen werden, der empathische Ton dieses Frühwerks war dann allerdings erst einmal für lange Zeit – bis 1985 „Phenomena“ über die Leinwände strahlte – vorwiegend passé. In einem gewissen Sinne ist es somit auch er, der hier ein wenig mit sich selbst zu ringen scheint, dabei die Vision einer alternativen Karriereentwicklung aufkommen lässt – eine, die mir, das kann ich ganz freimütig sagen, wohl häufig mehr Freude bereitet hätte. Denn dem Verzicht auf tiefgreifendere Neurosen, vielleicht aber eben auch auf den Zwang menschliches Handeln abschließend einordnen zu können, zum Trotz gelang hier Argento hier ein singulär präziser Blick direkt ins Herz dieses gemeinen Gefühls der Verlassenheit, welches die ganze Geschicht quasi leitmotivisch katalysiert.
Ausschlaggebend sind dafür schon ab ihrer ersten, sie als nicht zu trennende Entität etablierenden Szene die junge Lori (Cinzia De Carolis) und ihr Onkel Franco Arnò (Karl Malden). „Wir haben nur uns beide.“ (alle Zitate in diesem Text sind Übersetzungen des italienischen Dialogs), lassen sie einmal wissen … und strahlen dabei bis über beide Backen – mit dem richtigen Begleiter, so scheint es, kann man jeden Schmerz überwinden! Als beide im Büro des Journalisten Carlo (James Franciscus) ihre Aussagen zur Sache des die Handlung kickstartenden Einbruchs in einem Forschungsinstitut machen, sitzt sie ihm gegenüber auf einem Tisch, verzückt mit Schreibmaschine und Lineal spielend, die unschuldigen Freuden der Blütejahre – sie ist so ein herzerwärmend glückliches Kind! Und diese, ganz allein ihr eigene Form der Glücklichkeit überträgt sich nicht lediglich auf den Zuschauer, sondern insbesondere auch auf Franco; das lässt Argento einige Male richtiggehend räumlich greifbar werden. Allein ihre physische Anwesenheit in Szenen wie dieser ist es nämlich, die den blinden, auf einen Stock angewiesenen Mann vitalisiert, sichtlich eleganter durch die Kulissen wandeln, sein Anliegen mutig zur Sprache bringen lässt – nicht zuletzt an einem in Gänze unvertrauten Ort. Später einmal sollen sich diese Verhältnisse an einem nur allzu vertrauten Ort, der gemeinsamen Wohnung, in ihr penibel gespiegeltes Gegenteil verkehren. Tanzte Malden hier zu Beginn noch, die Möglichkeiten seiner Figur berücksichtigend, wie ein junger Gott durch die Räumlichkeiten, irrt er nach ihrer Entführung durch sich auf die Schliche gekommen Fühlende, nur mehr erratisch und sichtlich gealtert herum, stößt gegen Objekte, deren Position er vormals genaustens kannte. Douglas Sirk wusste schon – und ausgerechnet ihn einmal bei einem Argento-Film heranziehen zu müssen, es ist fürwahr kennzeichnend für die Andersartigkeit dieses Films – dass die Lichtverhältnisse, die Raumgestaltung, der Dekor, die Sauberkeit, alles mit erschreckender Nachhaltigkeit unsere Schritte diktiert, aber das ist eben noch nicht die ganze Wahrheit und ausgerechnet hier findet sich unverhofft eine wesentliche Ergänzung. Nicht ein Fitzelchen Dekor steht bei Francos einsamer Wohnungsrückkehr anders, nichts fehlt, nichts bildet ein zusätzliches Hindernis, es ist etwas aus Fleisch und Blut, nicht anorganischem Material Gespeistes, das nicht mehr da ist – menschliche Wärme, Rückhalt.
Und auch Carlo, mittlerweile durch gemeinsame Amateur-Ermittlungen längst zum Freund herangewachsen, kann diesen unsichtbaren „grip on life“ – ein sprachliches Bild aus dem Englischen, das hier in vielerlei Hinsicht vorzüglichst passt – nicht ersatzweise geben. „Il gatto a nove code“ gemahnt in all diesem vielmehr an ein amerikanisches Melodram als an die Thriller italienischer Bauart, in deren Tradition er rein zeitlich schon steht und dementsprechend problematisch gestaltet sich eben auch die Existenz unseres flotten, selbsternannten Ermittlers. Sie gerät beinahe schon zur Dekonstruktion dieses Giallostereotyps. Denn gemessen an den Maßstäben eines solchen Filmes gibt James Franciscus einen rechten Feigling zum Besten, einen liebenswerten zwar, aber einen Feigling nichtsdestotrotz und sein Regisseur gibt sich größte Mühe ihn durch subtilste Gesten als das exakte Gegenteil der ihm zugedachten Rolle glänzen zu lassen. In einem Moment, in dem Argentos gesamtes Inszenierungsvermögen meisterhaft zusammenläuft, bekommen wir einen ersten zaghaften Einblick hinter die Fassade des gar nicht so mit sämtlichen Wassern gewaschenen Reporters. Beim Barbier, einem Ort, an dem man gewohnheitsgemäß einen, je nach Kulturkreis signifikanten, Teil seiner „Männlichkeit“ lässt – eine Ironie, die genussvoll ausgekostet wird – begegnen wir einem sich unruhig im Sessel hin und herschiebenden Carlo, eingesprengselte Nahaufnahmen des filigran an der Kehle entlanggleitenden Rasiermessers lassen den wütenden Ballast, den der Mann an der Klinge ohne Unterlass auf ihn einprasseln lässt, nur mehr bedrohlicher wirken, Schweißperlen sammeln sich auf der Stirn, die Augen zucken erratisch. Schon bald folgt die Flucht an die frische Luft. Hochspannung, wie sie einem die Werbung für des „italienischen Hitchcocks“ Filme stets so großspurig versprach, es gab sie nie ausgeprägter als in dieser vermeintlich profanen Szene zu bestaunen. Und wie sehr sie schon – das Genre war immerhin noch recht jung – in einen ironischen Diskurs mit der Ästhetik, der bald schon Ikonographie ebendieses tritt. Es ist die Verkehrung jener berühmten Szene aus Riccardo Fredas Horrorklassiker „Lo spettro“ (1963), in der die voll Inbrunst hassende Barbara Steele ihren invaliden Gatten rasiert – Fredas Inszenierung reicht einem die Gewissheit, sie wird ihn töten, auf dem Silbertablett … nur um sie dann wieder hinfortzureißen. Hier gibt es sie gar nicht, diese Sicherheit, kein Wunder, dass man da als Filmfigur nervös wird. Auch Argentos viel zu selten gewürdigter off beat-Humor hatte hier offenkundig einen seiner besten Tage erwischt. Direkt mehr dazu – denn sogleich geht es weiter mit unserem Helden, der unversehens in das nächste Gewässer außerhalb seines Schwimmabzeichens stolpert.
Mit Anna (Catherine Spaak), der jungen Tochter des Institutsleiter Professor Terzi (Tino Carraro), für die er unübersehbar viel empfindet, gerät er in eine Autoverfolgungsjagd bester Hollywoodmanier, sie fährt, und wie sie fährt, er zittert um sein Leben – ein Träumchen! Solcherlei Action ist ja im Grunde genommen nun wirklich nicht Argentos Metier – warum eigentlich nicht, beginnt man sich unweigerlich zu fragen. Die flotte Montage spiegelt ganz formidabel das halsbrecherische Tempo mit welchem Anna durch die Straßenschluchten brettert – abwechselnd zu sehen: flüchtige Aufnahmen ihres den Moment voll auskostenden Lächelns, den schieren Terror in seinen Augen, ihren das Gaspedal bis zum Anschlag durchtretenden Fuß, seine Füße, die instinktiv, mit aller Kraft auf einer unsichtbaren Beifahrerbremse herumstraucheln. Einen idiosynkratischeren, vor allem aber schöneren Kontrapunkt zu seinen elegisch voranschreitenden Tötungsorgien setzte Argento danach leider nicht mehr allzu oft. „Phenomena“ greift aber auch dies mehr als ein Jahrzehnt später wieder auf, wenn er Jennifer Connelys erste Schlafwandelsequenz unverhofft rasant geraten lässt.
Unerwartete Kontrapunkte – ganz allgemein eine ungemeine Stärke dieses Films, ist Carlo doch nicht ein ausschließlich verhalten lächerlicher Macker, sondern auch eine tragische Figur, die tragischste des gesamten Filmes möglicherweise. Es fehlt ihm an etwas, an einer Besonderheit, vielleicht gar einem Makel, der ihn vor Selbstkritik einlullen und seinen Mitmenschen wie von Zauberhand eine eine empathische Perspektive eröffnen könnte. Franco ist blind, Lori ein Kind, Anna stellt sich nicht nur als adoptiertes Kind des Professors heraus, sondern auch als dessen „inzestiöse“ Geliebte, der Mörder schließlich gerät zum – zumindest in der Eigenwahrnehmung – Opfer ebenjener herzlos wissenschaftlichen Wertsbetrachtungen, die „Il gatto a nove code“ so vehement kritisiert. Carlo hat nichts von alledem, er ist, wie man so schön sagt, ein weißer, priviligierter, heterosexueller Mann. Und doch interessiert sich Argento für seine Probleme, lässt ihn bisweilen wie den wahren Außenseiter in einer von normativer Imperfektion bevölkerten Welt erscheinen. Das Leben als fleischgewordenes Idealbild ist eine triste Sache – so scheint die Devise zu lauten. Unterstrichen wird dies durch den vornehmlichen Einsatz damals wie heute gesellschaftlich randständiger Handlungsorte – das Gros der Szenen findet im Horte der Wissenschaft oder in der homosexuellen Szene Roms – in einer die Realität in ihre Schranken weisenden Verdichtung fühlen sich auffallend viele der weiteren plotrelevanten weißen Männer zum eigenen Geschlecht hingezogen – statt, in die Carlo modisch, weltanschaulich, als Mensch schlicht nicht hineinzupassen vermag. Vorhin habe ich es galant unter den Teppich fallen lassen, aber in jener oben beschriebenen Szene, in der Franco sein durchaus freudiges „Wir haben nur uns beide.“ ausstößt, ist dieser Satz an Carlo gerichtet – bezeichnend fällt seine Antwort aus. „Ich muss los!“ – denn in einem eingespielten Leben, oder spezifisch: einer penibel für zwei eingerichteten Wohnung ist eben kein Platz für ein drittes Rad am Wagen. Er weiß das nur allzu gut, steht er doch stets hübsch dekorativ in Räumlichkeiten anderer Menschen herum, anschlusslos, etwas verloren, wie ein normierter, aus Marmor geschlagener Fremdkörper in einer abseitigen Welt, die sich ganz zwangsläufig um ihre eigenen Probleme kümmern muss.
Egal ob mit bestenfalls als leger zu betitelnder Hemdunordnung unterm Jacket im barocken Foyer des Professors oder als Mann im „korrekten“ Vatersalter bei Lori und Franco – die stille Einsamkeit des Durchschnittlichen, wenn man mag des „Normalen“, wurde selten derart eindringlich auf die Leinwand gebannt. Folgerichtig kann da nur erscheinen, dass auch aus seiner Liebesgeschichte nichts werden darf. Nachdem die Enthüllung über Annas wahren Hintergrund jegliche Normalität in dieser Beziehung mit einem kleinen, gleichsam gut vernehmbaren Knall – im Hause Terzi geht zufällig just im Augenblick der Konfrontation ein Glas zu Bruch, eine melodramatische Zuspitzung reinsten Wassers – entweichen lässt, grämt man sich nur mehr verhärmt schweigend, durch erdrückend güldnes Mobiliar an die Ränder der Scope-Kompositionen verdrängt an, wo man sich doch zuvor noch so viel zu sagen hatte. Die Tragik ist zermürbend – dass ausgerechnet diese glücksversprechende Beziehung niemals wirklich Form annehmen kann, nimmt sich zwischen den nicht immer, in den vier Fliegen eher gar nicht beglückenden Paaren der beiden einrahmenden Beiträge zur Tiertrilogie geradezu deprimierend aus. Ein hoffnungsloser Romantiker ist Argento wahrlich nicht, ein zutiefst betrübter schon eher und abermals kredenzt er einen krassen Gegensatz zu einer im gleichen Maßen wichtigen Unterredung, die dieser wenige Szenen vorausging: Da suchte nämlich ein distinguierter Herr (Umberto Raho) Carlo überraschend in seinem Appartment auf. „Vielleicht werden Sie mich verabscheuen.“, rechtfertigt er sich schon bevor überhaupt etwas zur Sprache kommt – allzu augenscheinlich spricht er nicht allein über die Enthüllungen in seinem Gepäck, sondern vielmehr von etwas völlig anderes. Dann outet er seinen Geliebten als Möglichkeit im Fall voranzukommen – und sich selbst somit gleich dazu. Doch stößt er auf Verständnis, die räumliche Distanz schwindet im Gleichschritt mit der inneren – bis man sich ganz nah, von Angesicht zu Angesicht austauscht. Gibt es etwa doch Anschluss?
Diese sensiblen Einblicke, die hier fortwährend gewährt werden, sind immer für eine Überraschung gut – im Umgang mit der Homosexualität weiter Figurenkreise wird dies Mal um Mal gezielt deutlich. Keinesfalls ein neues Thema, stecken alle drei Filme der Trilogie bekanntermaßen voll positiv gezeichneter Homosexuellenfiguren, doch wo Werner Peters zaghaften Berührungen höchst zugetaner Antiquitätenhändler aus „L’uccello dalle piume di cristalo“ (1970) noch für warmherzigen comic relief zuständig – seine Annäherungsversuche schlagen für Tony Musante dauerhaft einen kleinen Grad zu weit fort vom Ton, der Freude macht – und der Privatdetektiv Gianni Arrosio (Jean-Pierre Marielle) aus dem bereits erwähnten „Quattro mosche di velluto grigio“ ein liebenswerter „Versager“ ohne abgeschlossenen Fall war, strahlen diese Figuren hier eine schwerlich zu erschütternde Würde aus. Als unser rasender Reporter Professor Braun (Horst Frank), einen der sympathischeren (und respektiertesten!) Institutsforscher, in einem Szenelokal ausquetschen will, perlen erst seine leicht irritierten Blicke an diesem ab, bevor der Spieß sich nach wenigen Minuten in Gänze zu wenden beginnt. Die eine Ausflucht verhindernde Hand am Gelenk des Professors muss in dieser Bar nun einmal anders wirken als im Interview auf offener Straße, unterschiedliche Orte, wir hatten es schon festgestellt, diktieren unterschiedliche Regungen, Herangehensweisen – Carlo kann sich diesem Diktat nicht unterordnen, wird immer ein Störfaktor sein. Was bleibt ihm da anderes übrig, als sich im Finale des Filmes ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern – man bereut es umgehend ihn einen Feigling gehalten zu haben, hat ihn verkannt wie alle anderen es taten – schützend direkt in ein Messer zu stürzen, welches gar nicht an seinen Körper adressiert war? Abschließend erfahren werden wir seine Motivationen hinter dieser Aufopferung nie mehr, sie bleiben so vage wie das Überleben, denn an diesem Punkt bricht der Erzählstrang konsequenterweise ab – sein Leben oder Sterben ist schlicht nicht von Belang in dieser Welt. Vielzählige Fragmente einer Seele, Ahnungen von Leid, von Glück, von Liebe, von Leben und von dessen ungenutzten Möglichkeiten sind alles, was von ihm zurückbleibt. Und wie Argento diese Schattierungen in einen Thriller einwebt, Ton und Tempo aus heiterem Himmel anhebt, dann senkt, immer spontan angleicht an den Herzschlag seiner Figuren – das ist, was hier wirklich von Bedeutung ist. Denn wenn seine späteren Horrorfilme minutiös ausgeknobeltes, strengsten Choreographien folgendes Ballett sind, dann ist „Il gatto a nove code“ frei fließende, aufregende Tanzimprovisation.
Il gatto a nove code – Italien, Frankreich, BRD 1971 – 112 Minuten [italienische Originalversion] – Regie: Dario Argento – Produktion: Salvatore Argento – Drehbuch: Dario Argento, Luigi Cozzi, Dardano Sacchetti – Kamera: Erico Menczer – Schnitt: Franco Fraticelli – Musik: Ennio Morricone – Darsteller: Karl Malden, Cinzia De Carolis, James Franciscus, Catherine Spaak, Horst Frank u.v.a.
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