100 Deutsche Lieblingsfilme #63: 90 Minuten nach Mitternacht (1962)
Das Leben, wie es sein könnte: Zwei Teenager lümmeln auf einem Bootssteg rum, halten Palaver über relativ Nichtiges, planen einen Segeltörn. Könnte glatt einer dieser Münchner Slackerfilme sein!
Das Leben, wie es ist: Daheim sieht’s anders aus als in den Tagträumen, denen Christine Kaufmann mit ihrem Freund nachhängt. Spielt aber als rein deutsche Produktion in den vereinigten Staaten – sonderbar.
Die Mutter fordert Ordnung, denn: „Sonst sag ich dem Phil mal, wie es bei dir hinter der Fassade ausschaut!“ Symptomatisch – munter Eindrücke, Bilder evozierende Fassaden gibt’s hier reichlich; zwischen den Jungen, zwischen den Alten, beiden vermischt oder gleich zwischen Film und Zuschauer. Was bleibt einem in diesem Biotop der Falschheit anderes übrig, als nach weiteren Ermahnungen in Richtung zu erreichender Zukunft festzuhalten: „Vielleicht will ich gar nicht mehr erreichen als die andern!“. „Aber wir wollen das!“ – dann knallt die Tür ins Schloss, Christine schmeißt den Plattenspieler an und tänzelt um die Credits herum. Schneller, konziser hat selten selten ein bundesdeutscher Film sein Herz ausgeschüttet. Melodram, Amerika eben.
Christian Doermer hat’s nicht einfacher, keiner erwartet etwas von ihm, er umso mehr von sich. Und von Christine. „Für dich bin ich nur ein Baum.“ – damit könnte sie zum Beispiel einmal aufhören. Weshalb er sie, nachdem sie, die auf der Flucht vor Beziehungsstress in ausgerechnet sein Auto hüpft, kurzentschlossen entführt. Alles will man schließlich sein, nur kein Baum – das Leben gibt mehr her, man muss sein Glück nur beim Schopfe packen! Der amerikanische Traum! Klappt nicht so ganz, ziellos fährt man durch die Gegend, manchmal fast verbrüdert gegen die harten Erwachsenen, dann wieder nicht, am Fahrbahnrand flimmert flüchtig ein Kreuz vorbei – es scheint klar, wohin die Reise geht.
Zuhause darben Christines Eltern in der Hoffnung auf Lebenszeichen vorm überdimensionalen Fenster, das verdächtig nach einer diese modernen Fernsehermonstrositäten ausschaut, leider läuft nie was Interessantes, die Straße der Vorstadtsiedlung ist leer, das Telefon klingelt nicht – ein großes Fenster in die kleine, kleine Welt. Auch nur Fassade – das sind gar keine Amerikaner, denen wir durch die Leinwand zuschauen, wie sie durch die ihrige auf Amerika blicken. Jürgen Goslar nimmt dreist in Angriff, was die ihm vorangegangenen Exilregisseure der 30er und 40er Jahre erst nach persönlicher Begutachtung wagten: Einen deutschen Blick über den Teich, direkt ins Herz amerikanischer Sensibilitäten. Mehr als einmal könne man ihn ohnehin nicht auf den Stuhl schicken, konstatiert Doermer und verzockt sich prompt. Angeheitert lässt er eine Schnappsflasche auf dem Tresen des die letzte Zuflucht bietenden Sportlerheims der zerbrochenen Träume herumtrippeln – ganz so wie zu Beginn noch Christine durch ihr Kinderzimmer wirbelte. Das Lächeln des sich siegreich Wähnenden im Gesicht – eine Drehung, zwei, dann schwankt die Flasche, stürzt und ergießt ihren Inhalt in den Raum. Umgehend fängt er sie auf – Rebellion schön und gut, aber soll man wirklich so weit gehen? Ein hübsches Abbild der Gesamtsituation, die Cowboyjustiz des Vaters vergießt schon allzu bald sein Blut, angeschossen bleibt Christian im Staub zurück, doch er darf leben – nicht der Stuhl, das Gefängnis wird es. Ist das eine Gnade oder unnachgiebige Härte gegenüber einem, dem man am Ende dennoch keinen Platz in der Gesellschaft einräumt? So enden wahrlich nur deutsche Filme… und schwelgen damit doch in den eigenen Fragestellungen.
90 Minuten nach Mitternacht – BRD 1962 – 77 Minuten – Regie: Jürgen Goslar – Produktion: Luggi Waldleitner – Drehbuch: Wolfgang Schnitzler – Kamera: Klaus von Rautenfeld – Schnitt: Wolfgang Wehrum – Musik: Bert Kaempfert – Darsteller: Christine Kaufmann, Christian Doermer, Martin Held, Hilde Krahl, Bruno Dietrich u.v.a.
[…] Auf Eskalierende Träume gibt es die Nummer 63 der 100 Deutschen Lieblingsfilme: „90 Minuten nach Mitternacht“ von 1962. Ausgesucht von André […]