Kaminsky – Ein Bulle dreht durch (1984)

Der Traum vom großen amerikanischen Kino der übergroßen Archetypen. In Frankreich ist es nicht nur genreaffinen Filmemachern eine Gewohnheit – eigentlich schon eine französische Kinotradition – geworden, ihn zu träumen oder mit ihm zu spielen. In Deutschland wird er meist eher von eisenharten Produzenten denn Regisseuren geträumt. Wenn er dann einmal von einem Filmemacher geträumt wird, muss alles da sein. So wie hier: Der verbitterte, alternde Sheriff, der alles und jeden verachtet und in seinem eigenen Schnapstümpel ertrinkt. Der junge, unerfahrene Deputy, der mit dem Zynismus und der Brutalität seines Chefs nicht zurechtkommt. Die einsame und resignierte Ehefrau des Sheriffs, die eine Affäre mit dem Deputy unterhält. Das von zuhause ausgerissene Mädchen in Not, dass zum Auffänger, Sündenbock und Versuch(ung)sobjekt dieser drei nicht minder notleidenden Existenzen avanciert. Und das heruntergekommene, alte Polizeirevier am Rand der Stadt, in einem alten Lagerhaus, in einem Niemandsland leerer Häuser und dreckiger Straßen. Hier kommt das dunkle Gesicht von John Wayne und die stereotype Seite des „new Hollywood“ zum Vorschein.

Und, weil wir hier in dem kochenden, superassigen Klaus Löwitsch nicht nur einen deutschen Jack Nicholson sondern auch einen bei aller markigen Selbstdarstellung und monströsen Inszenierung seitens der Regie immer ein wenig zu echt wirkenden, von Frustration und Lebensverschwendung ermüdeten deutschen Beamten sehen, der die Nase voll hat.

Das kann, hoffentlich, zu der Erkenntnis führen, das frustrierte Beamte und vor allem frustrierte Polizisten kein Phänomen sind, dass exklusiv dem amerikanischen Kino angehört und auch keines, dass im deutschen Kino nur dann auftauchen kann, wenn es ein amerikanischer Film vormacht. Die Bewunderung für Regisseure wie Sidney Lumet, Francis Ford Coppola und Martin Scorsese trieft hier zwar aus allen Poren, gleichzeitig wird aber auch gefiltert – durch jenen Abstraktions-Filter, mit den das französische Kino der 60iger und 70iger Jahre bereits das „Amerikanische“ beäugt hat und mit einem sicheren Gespür dafür, wo die Faszination enden und einer kulturell unterfütterten Wirklichkeit Platz machen muss. Und die hält in KAMINSKY sehr schnell einen deftigen Einzug nach dem prototypischen und irritierend streng konstruierten Auftakt, der seine treffsicher gewählten Klischees mit beachtlicher Unverfrohrenheit platziert.

In besagter Eröffnungsszene schlägt Kaminsky mit von der Brotzeit noch fettigen Händen in einer schäbigen Kneipe einen Drogendealer zusammen, als Gefälligkeit für den vor Angst zitternden Wirt, dessen Sohn apathisch im Drogenrausch dem Geschehen folgt. Eine Western-Szene ist das, ohne jede Frage. Aber sie gibt nicht den Ton des übrigen Films vor, sondern bemerkt mit leiser Süffisanz, wie unmöglich sich der assoziative Kreislauf zwischen Publikum – Öffentlichkeit, „Tough guy“ – Polizist und Kino – (medialer) Wirklichkeit aufbrechen lässt – und dass man sich gegen seine Unzerstörbarkeit nicht wehren sollte. Wenn der Film wenig später sein fiebriges Kammerspiel in die Wege leitet, erkennen wir, warum wir uns gewehrt haben, gegen diese Klischees. Weil wir sie so direkt wiedererkannt haben, als Bausteine aus anderen Filmen und damit aus einer anderen Wirklichkeit, was uns nur daran hindern kann, hier, in KAMINSKY, eine eigene Wirklichkeit zu finden.

Aber wir bekommen sie, auch wenn Michael Lähn hier einen dieser Filme gedreht hat, bei denen man mit konstant zunehmender Unsicherheit darüber grübelt, ob man sich eher ohne Scham und ungehemmt an der asozial-schmierigen Soziopathen-Show des Protagonisten ergötzen soll oder mit feierlichem Ernst der Stimme der wirklichen, deutschen Wirklichkeit hinter dieser filmischen, amerikanischen Wirklichkeit lauschen soll. Der Film ignoriert dieses Grübeln mit Nonchalance und steigert die Widersprüche seines kleinen Universums bis zum Exzess. Ohne dabei den Bezügen zur wirklichen Wirklichkeit ein Gesicht, ein griffiges Profil zu geben. Nur am Ende, als wir dem negativen Höhepunkt dieser angestauten Frustrationen und dieses Zynismus, der Vergewaltigung des Mädchens, aus Dieters Perspektive in der dunklen Toilette beiwohnen, sie also nur mithören, da verflüchtigt sich die filmische, postmoderne Wirklichkeit für einen Moment und die zeitgenössische Wirklichkeit quetscht ihr verkatertes Gesicht durch den Rahmen. Das allerdings bevor wir nach dem finalen Duell, der Konfrontation, der Eskalation völliger Katharsis, das Revier verlassen, dass in der Morgendämmerung wie ein friedliches Monument daliegt, wie ein Western-Saloon. Wenn wir verschiedene, uns bekannte filmische Wirklichkeiten und die Polizisten und Gangster, denen wir dort begegnet sind, durcheinander bringen oder nicht erfolgreich vor unseren Augen verschmelzen können, denken wir in diesen kurzen Momenten des Leerlaufs vielleicht kurz daran, dass sie auch nur Menschen sind und flüchten uns in die wirkliche Wirklichkeit. Aber sobald Ordnung einkehrt in der filmischen Wirklichkeit, wollen wir keine Menschen, sondern Archetypen. Kaminsky ist ein zünftig-deutscher und demzufolge natürlich besonders teutonischer Archetyp, der immer darauf gewartet hat, seine filmische Wirklichkeit zu bekommen. Dass er dabei eine amerikanische Hilfestellung in Anspruch genommen hat, sollte man ihm nicht negativ anrechnen. Dadurch würden sich die beiden Wirklichkeiten unter dem Vorzeichen deutscher Kultur-Identifikation mit amerikanischen Attributen nur wieder in die Haare kriegen – und das wäre doch schade.


Kaminsky – BR Deutschland 1984 – 80 Minuten – Regie und Drehbuch: Michael Lähn – Produktion: Klaus Sungen – Kamera: Jörg Seidl – Schnitt: Camilla Bernetti – Musik: Roberto C. Detree – Darsteller: Klaus Löwitsch (Rolf Kaminsky), Alexander Radszun (Dieter Stecker), Beate Finckh (Renate), Hannelore Elsner (Nicole Kaminsky)

Hinweis: Ursprünglich war dieser Text für die „100 Deutsche Lieblingsfilme“-Reihe gedacht. Warum er  dort nicht erschien, ist hier nachzulesen.

100 Deutsche Lieblingsfilme #2 : Ich, ein Groupie (1970)



London. Ein Stadtpark. Vicky (gespielt von Ingrid Steeger) nähert sich von links der Kamera, biegt um die Ecke, in Richtung der anschwellenden, treibenden Rockmusik, während ein leichter Kameraschwenk ihre Bewegung aufnimmt. Auf dem Grün spielt eine Rockband, und Vicky verliebt sich prompt in den Sänger Rolf. Nachdem sie die Nacht mit ihm verbringt, versucht sie ihm, der bereits weitergezogen ist, von London nach Berlin zu folgen. Naiv, ohne Geld, nur mit Liebe im Kopf.

Fast jeder verkauft sich in diesem eineinhalbstündigen Abgesang auf die Ideale der 68er Generation und den Verlust der Unschuld, die Musiker ebenso wie die Protagonistin. Für eine Illusion, für Drogen, um vor der Realität zu flüchten. Mit Hippiekultur, Gammlern oder sonstigen Gegenbewegungen im gesellschaftlich-politischen Sinne  hat das alles wenig zu tun. Das utopische Potential der 60er Jahre ist versiegt, die Gemeinschaft der Aufständischen zerbrochen. Vicky, die am Anfang des Films noch nie Gras geraucht hat, und am Ende bereits Heroin konsumiert, findet auf ihrer Reise keine wirkliche Freundschaft, entwickelt keine Nähe zu den Menschen um sie herum. Vielmehr wird sie allenthalben ausgenutzt und missbraucht, immer mehr auch durch sich selbst und ihre eigene Passivität. Die Vorstellungen und Lebensweisen der Gegenkultur verkommen zu Floskeln und Ausreden, zur Maskierung einer ganz und gar ignoraten Umgebung. Meist passiert im Film nicht wirklich viel – wenn, dann geht es darum, Geld und Übernachtungsmöglichkeiten aufzutreiben. Ingrid Steeger stolpert weltoffen aber zunehmend desillusioniert von einer Szene zur nächsten, durch einen Film, der sich traut die Naivität und die Verlorenheit seiner Figuren zu präsentieren, sie bloßzustellen, ohne sie zu verdammen. Der Traum von Freiheit und Glück ist da, nur: die realen Lebensumstände präsentieren sich gänzlich anders.

In der prägnantesten Sequenz des Films wird Vicky zunächst von einer Gruppe Schweizer Hell’s Angels aus dem Wasser gefischt und vergewaltigt. Nach einem abrupten Schnitt sehen wir sie nackt auf dem Motorrad sitzend, sich an einen der Fahrer klammern. Zunächst geht es zum Kleiderkauf, danach in die Kneipe. Am Ende versucht Vicky wieder per Anhalter weiter zu kommen. Während die Hell’s Angels zuvor in der kleinen Stadt darauf warten, dass Vicky aus dem Klamottengeschäft herauskommt, betrachten zwei von ihnen mit leidigem Interesse das Schaufenster des örtlichen Kinos. Es läuft: „Easy Rider“. Der Widerspruch zwischen äußerer Erscheinung und innerem Bedürfnis, den der Film durchweg formuliert, verdichtet sich in dieser Szene auf das Wesentliche. Die Biker in Dietrichs Film sind das dunkle Gegenstück zu Fonda und Hopper, nihilistisch wie der Grundton des Films. Diesmal sind die Aussteiger nicht nur die Gearschten sondern auch die Arschlöcher, und von Freiheit ist hier weit und breit nichts mehr zu spüren.

Der formale Höhepunkt des Films findet sich jedoch am Ende, wenn die Kamera der nackt durch die Berliner Straßen rennenden und mit Heroin vollgepumpten Ingrid Steeger durch die einstige Reichshauptstadt folgt, während sie sich in die Alpen halluziniert, und von einem Auto überfahren zu Tode kommt. Der Zynismus der deutschen Wirtschaftswundermentalität, angesiedelt zwischen Heimatkitsch, Generationenkonflikt, Realitätsflucht und struktureller Gewalt, findet in dieser brillant inszenierten Abschlusssequenz seinen finalen allegorischen Ausdruck.


Ich, ein Groupie – BRD, Schweiz 1970 – 89 Minuten – Regie, Produktion und Drehbuch: Erwin C. Dietrich – Kamera: Peter Baumgartner – Musik: Walter Baumgartner, Walter Senn – Darsteller: Ingrid Steeger, Rolf Eden, Vivian Weiss, Li Paelz, Terry Mason, Stewart West, Sharon Richardson

 

Hinweis: Die Nummerierung der Filme folgt lediglich der Reihenfolge der Einträge. Die Gesamtauswahl von 100 Filmen ist nicht redaktionell abgestimmt, sondern eine im Laufe der Veröffentlichung zufällig entstehende Zusammenstellung, die sich aus den Einzelbeiträgen und persönlichen Vorlieben der Teilnehmer ergibt.

100 Deutsche Lieblingsfilme #1 : Auch Zwerge haben klein angefangen (1969)

Auch Zwerge haben klein angefangen

Hatte Herzog für seinen ersten Spielfilm noch den deutschen Filmpreis erhalten, fand sein zweiter nicht mal einen Verleih und er musste die Distribution selbst übernehmen. Die Aufführungen bescherten ihm dann nächtliche Anrufe und Morddrohungen von rechten wie linken Fanatikern. Herzog selbst hält den in einer afrikanischen Gefängniszelle unter den unmenschlichsten Bedingungen ersonnenen Film heute noch für einen seiner besten Filme, den, der vielleicht länger die Zeiten überdauern wird als jedes andere seiner Werke.

Eine Erziehungsanstalt im Aufruhr: alle Insassen, Mitarbeiter und die Leitung sind kleinwüchsig. Die Insassen proben die Revolution und produzieren dabei doch nur Chaos. Das ist die ganze Handlung. Doch der Film ist unendlich viel mehr.

Das erste Missverständnis, dass viele dem Film entgegen bringen ist, dass es ein Film über Zwerge sei. Die Kleinwüchsigen sind ebenso wie alle scheinbaren Randgruppen bei Herzog niemand anderes als wir selbst: Menschen. Nur zeigt sich bei ihnen, genau wie bei den Taubblinden in Herzogs Doku „Land des Schweigens und der Dunkelheit“ einfach das Menschsein ganz besonders deutlich: die Menschen, wir alle, sind blind und taub zugleich und wir sind Zwerge: die Welt ist zu groß für uns. Wir sind auch die, die auf einem lächerlichen Floß sitzen und immer tiefer in eine grüne Urwaldhölle fahren, im Glauben, hinter der nächsten Flussbiegung schon müsse endlich El Dorado liegen.

Doch Herzog lässt den Menschen mit Würde scheitern, ja gerade im Misslingen seiner absurden und unerreichbaren Projekte wird der Mensch erst souverän. Befreit vom Zweck ihres Strebens erfahren Herzogs Helden schließlich die erhebende Größe des bloßen Daseins: die Welt muss nicht mehr transzendiert werden, sie ist bereits transzendent. In der Wüste Welt gibt es keine rettende Oase, nur Fata Morganas, aber diese sind die Rettung. Die ganze Wüste wird – nun traumbelebt – Oase. Eine Oase, in der man nicht lange überlebt, gewiss. Sysiphos‘ herabrollenden Stein kann man nicht essen, aber er macht frei. Oder verrückt. Das war schon das Schicksal Nietzsches.

Herzog bezeichnet „Auch Zwerge haben klein angefangen“ nicht zu unrecht als sein düsterstes Werk, denn hier teilen all die Zwerge zuletzt das gleiche Los. Sie verfallen dem Wahnsinn. Ein abgestorbener Baum erscheint einem als „der Präsident“. Ein Kamel, das sich nicht entscheiden kann aufzustehen oder sitzen zu bleiben, wird meckernd und endlos ausgelacht. Eine Sau wird geschlachtet, ein Affe gekreuzigt.

Und doch schwebt auch über Momenten dieses heillosen Films ein emphatisches Ja, ertönt ein hymnischer Gesang, den Herzog bei der Prozession einer afrikanischen Sekte aufgenommen hat, die in „Fata Morgana“ zu sehen ist. In „Auch Zwerge..“ hat der Hymnus jedoch jeden Bezug auf ein Jenseits verloren. Er feiert die Lavawüste in ihrer toten Pracht. Und in ihr die Autos, die im Kreis fahren, bis der Tank leer ist. In einem endlosen Abgrund gibt es keinen Aufprall und so ist es das Gleiche ob man fällt oder steigt. Die Zwerge haben Sysiphos‘ Lehre noch nicht begriffen, doch der Zuschauer erfährt sie wie einen Schauder. Oder auch nicht.


Auch Zwerge haben klein angefangen – BRD 1969 – 96 Minuten – Regie, Produktion und Drehbuch: Werner Herzog – Kamera: Thomas Mauch – Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus – Musik: Florian Fricke – Darsteller: Helmut Döring, Pepi Hermine, Paul Glauer, Gisela Hertwig, Gerd Gickel, Brigitte Saar, Marianne Saar

Hinweis: Die Nummerierung der Filme folgt lediglich der Reihenfolge der Einträge. Die Gesamtauswahl von 100 Filmen ist nicht redaktionell abgestimmt, sondern eine im Laufe der Veröffentlichung zufällig entstehende Zusammenstellung, die sich aus den Einzelbeiträgen und persönlichen Vorlieben der Teilnehmer ergibt.

Tatort und Tangerine Dream

Bin gerade etwas auf dem Tatort-Trip und versuche mehr über die wunderbar sleazig klingende Folge Der gelbe Unterrock aus dem Jahr 1980 herauszufinden, die nach ihrer Erstausstrahlung im Giftschrank des SWR verschwunden ist. Generell faszinieren mich die Tatort-Folgen aus den Achtzigern, schon allein wegen den so merkwürdig fremd und fern wirkenden Bildern aus der „alten“ BRD. Zum Beispiel im Schimanski-Tatort Das Mädchen auf der Treppe, wenn die Kamera über den Tatort schwenkt und sich hinter den klobigen Einsatzwägen und den grauen Mietshäusern vor einer brachen Wiese die riesige Zeche aufbaut. Oder das blinkende, alte Bierschild im Hintergrund der Kneipenszene. Überhaupt wirkt das alles gar nicht so wie die meisten Fernsehfilme, die man heute so sieht, sondern viel filmischer, näher am Kino. Und das nicht nur, weil der Soundtrack wie bei Michael Mann oder Kathryn Bigelow von Tangerine Dream stammt:




(Über das Benutzerprofil des Users bei Youtube findet man noch eine Zusammenstellung des Tatorts Miriam von 1983, bei dem die Musik ebenfalls von Tangerine Dream stammt.)


Übrigens zeigt 3sat nächsten Sonntag (also den 23. August) die Folge Reifezeugnis von Wolfgang Petersen mit Nastassja Kinski aus dem Jahr 1977. Und Dominik Grafs Jubiläumstatort Frau Bu lacht wird am 24. August im SWR und am 10. September im WDR wiederholt.

Malpertuis (1972)

„‚It seems very pretty‘ she said when she had finished it, ‚but it’s rather hard to understand!'“

Mit diesem von Alice auf das rätselhafte Gedicht „Jabberwocky“ gemünzten Zitat aus Lewis Carrolls „Through the Looking Glass“ (1872) beginnt „MALPERTUIS“, das Wunschprojekt des Flamen Harry Kümel, den man wohl als filmischen Vertreter des belgischen magischen Realismus bezeichnen könnte, eine Stilrichtung die die Nachkriegsliteratur dieses Landes stark prägte.

Genau wie Carolls tiefsinnigen Nonsens prägt auch Kümels Verfilmung des gleichnamigen Romans (1943) von Jean Ray, dem „belgischen Poe“ das Paradox der Unmöglichkeit gleichzeitig zu erleben und zu begreifen, von Unmittelbarkiet und Reflektion und die verschachtelte Struktur des Films mündet am Ende in den selben Schlussgedanken wie Carrolls zweites Alice-Abenteuer: „Life, what is it but a dream?

Der Matrose Jan (Mathieu Carrière), kommt nach langer Zeit auf See in seiner Heimatstadt an, doch es ist keine Heimkehr des Odysseus, der nach langer Irrfahrt nur eben noch zu Hause in Ithaka Ordnung schafft. Vielmehr begleiten wir staunenden Zuschauer den Seemann nun auf seiner gerade erst beginnenden, sozusagen oneironautischen („traumfahrerischen“) Reise in die labyrinthische Welt von Malpertuis (=“Fuchsbau“), dem unheimlichen Anwesen seines Onkels Cassavius, gespielt von niemand geringerem als Orson Welles, der wohl am Set äußerst unleidlich und betrunken gewesen sein  und sich nur mit Regisseur Kümel vertragen haben muss.

Zunächst gerät Jan auf der merkwürdigerweise vergeblichen Suche nach seinem Elternhaus in den nebelverhangenen und fast menschenleeren Gassen von Brügge in den bizarr-bunt ausgestatteten Venus-Club, als er einer Frau in einem wallenden blauen Mantel nachrennt, die er für seine Schwester Nancy (Susan Hampshire) hält. Dabei wird er selbst von zwei rätselhaften Männern beobachtet, die ihm seit seiner Ankunft am Hafen folgen. Er gerät in eine Schlägerei, bei der er niedergeschlagen wird und wacht in den Armen seiner Schwester Nancy, mit der er ein fast inzestuöses Verhältnis zu haben scheint, im Haus seines Onkels Cassavius auf: Malpertuis.

Voller Schrecken darüber, an diesem Ort zu sein, will Jan sofort aufbrechen, doch schließlich überzeugt ihn sein anderer Onkel Charles Dideloo (genial neckisch: Michel Bouquet) zumindest der Verkündung des Testaments des im Sterben liegenden Cassavius beizuwohnen. Nach und nach begegnet Jan den vielen in Malpertuis wohnenden Gestalten, deren bloße profane Menschlichkeit durch ihre geheimnisvolle und teils beängsitgenden Aura eher fraglich ist. Als es zur Testamentverlesung durch den langbärtigen Hausdiener Eisengott (Walter Rilla) kommt, erwartet alle eine unangenehme Überraschung: wer etwas von dem reichhaltigen Erbe erhalten will, darf Malpertuis nie mehr verlassen…

Die zunehmend verworrener werdende Handlung ist im Grunde genommen nur ein loses Gerüst für die märchenhaften und unheimlichen Phantasmagorien die Kümel hier entfesselt: Erotische Begierden in kerzenerleuchteten Bibliotheken, Türen die mal in dieses, mal in ein anderes Zimmer führen, ein etwas übereifriger Taxidermist und schmelzende Kruzifixe sind nur einige der Kuriositäten die uns Kümel in wunderschön komponierten Bilder des späteren „Highlander“-Kameramanns Gerry Fisher vorsetzt und mit unaufdringlicher und subtiler Musik von Georges Delerue („L’important c’est d’aimer“) unterlegt.

Nicht nur für alle Enthusiasten des phantastischen Kinos ist „Malpertuis“ ein wahres Juwel, das seinerzeit zwar in Cannes wie viele große Filme durchfiel, aber zu einem Geheimtipp avancierte und  angeblich auch in Deutschland recht gut im Kino lief. Nach „Daughters of Darkness“ (1971) ist dies nun schon das zweite Meisterwerk des (halb)vergessenen Harry Kümel, dass ich gesehen habe und ich freue mich schon auf „De komst van Joachim Stiller“ (1976), das sich als das dritte entpuppen könnte.

Die Kunst der Filmkritik

Das Wesen der liebenswerten, deutschen Filmkritik – deutsch und brilliant auf den Punkt gebracht von Loriot:

Ich bin auf der Seite des Herrn mit dem krausen Haar – solche Oberflächlichkeit, solch triviales Verlangen nach Unterhaltung muss mit harten Worten abgestraft werden!

Die 14 Erscheinungsformen des Films

Als ich letzens ein vorbestelltes Buch in der Universitätsbibliothek abholen wollte, musste ich zu meinem Ärgernis feststellen, dass mir mal wieder das falsche geliefert worden war. Autor und Titel stimmten zwar, doch ich hatte extra um die Erstausgabe gebeten. Auf dem Umschlag stand jedoch „Band 2: 1946-1955“, und die Innenseite beteuerte mir nochmal „München 1981“. Da hatte ich mich schon gefreut an Alfred Bauers Erstauflage des Deutschen Spielfilm Almanachs zu kommen, und dann so was.

Wie auch immer, auf den ersten Seiten fand ich eine gleichfalls interessante wie gewagte Einteilung des abendfüllenden Spielfilms in 14 Kategorien. Die 14 Kategorien, sowie Einleitung und Schlußbemerkung habe ich im folgenden (fast) vollständig abgetippt. Die Erläuterungen zu den einzelnen Kategorien schienen mir aber doch zu lang (und meine Zeit zu knapp) um mit ihnen genau so zu verfahren – falls Interesse besteht kann ich aber natürlich jederzeit noch ein paar Erläuterungen von Herrn Bauer hinzufügen (jedenfalls solange ich das Buch noch habe). Das Diskussinswürdige sind ja zunächst einmal auch die Auswahl und die Benennung der Kategorien, und ich wollte herausfinden, was ihr dazu meint. Ich frage mich einerseits, ob die Westdeutsche Filmkritik damals wirklich so naiv war (Dr. Alfred Bauer war u.a. auch der erste Festivalleiter der Berlinale), oder ob es einfach nur eine größere Vielfalt an Filmen gab.  So absurd diese spezifische Einteilung auf den ersten Blick erscheinen mag, bin ich doch der Meinung, dass sie aus der Zeit heraus verständlich und leicht anwendbar gewesen sein muss. Für mich dennoch ein Kuriosum.

Der Film ist eine Kunst, die, wie andere Kunstarten auch, darauf bedacht ist, Menschenschicksale wiederzugeben, und das Leben sinnblidlich darzustellen. Als die jüngste unter den Künsten ringt der Film immer wieder mit dem Problem der Form und erprobt, um seine eigenen Gesetze zu entdecken und weiter zu entwickeln, alle Gestaltungsmöglichkeiten die sich ihm bieten. Die Erscheinungsarten des Films sind sehr mannigfaltig und können in ihrer Fülle nicht festgelegt werden. Aus der Vielzahl der Spielarten lassen sich jedoch folgende 14 nach stofflich-inhaltlichen Kriterien gegliederten Hauptgruppen des abendfüllenden Films herauskristallisieren

1. Der dramatische Film

2. Der zeitnahe Film

3. Das Lustspiel

4. Das Volksstück

5. Der ernste Musikfilm

6. Der heitere Musikfilm

7. Der historische Film

8. Der Kriminalfilm

9. Der Abenteuerfilm

10. Der Science-Fiction-Film

11. Der Märchenfilm

12. Der Experimentalfilm

13. Der Trickfilm

14. Der Dokumentarfilm

Die genannten 14 Erscheinungsformen des Films könnn auch als Mischform auftreten, z.B. als Kriminalkomödie, musikalisches Abenteuerlustspiel, märchenhaftes Volksstück. Maßgebend für die Einordnung eines Films in eine der 14 Gruppen bleibt immer das überwiegende Charaktermerkmal des Films.“