100 Deutsche Lieblingsfilme #2 : Ich, ein Groupie (1970)





London. Ein Stadtpark. Vicky (gespielt von Ingrid Steeger) nähert sich von links der Kamera, biegt um die Ecke, in Richtung der anschwellenden, treibenden Rockmusik, während ein leichter Kameraschwenk ihre Bewegung aufnimmt. Auf dem Grün spielt eine Rockband, und Vicky verliebt sich prompt in den Sänger Rolf. Nachdem sie die Nacht mit ihm verbringt, versucht sie ihm, der bereits weitergezogen ist, von London nach Berlin zu folgen. Naiv, ohne Geld, nur mit Liebe im Kopf.

Fast jeder verkauft sich in diesem eineinhalbstündigen Abgesang auf die Ideale der 68er Generation und den Verlust der Unschuld, die Musiker ebenso wie die Protagonistin. Für eine Illusion, für Drogen, um vor der Realität zu flüchten. Mit Hippiekultur, Gammlern oder sonstigen Gegenbewegungen im gesellschaftlich-politischen Sinne  hat das alles wenig zu tun. Das utopische Potential der 60er Jahre ist versiegt, die Gemeinschaft der Aufständischen zerbrochen. Vicky, die am Anfang des Films noch nie Gras geraucht hat, und am Ende bereits Heroin konsumiert, findet auf ihrer Reise keine wirkliche Freundschaft, entwickelt keine Nähe zu den Menschen um sie herum. Vielmehr wird sie allenthalben ausgenutzt und missbraucht, immer mehr auch durch sich selbst und ihre eigene Passivität. Die Vorstellungen und Lebensweisen der Gegenkultur verkommen zu Floskeln und Ausreden, zur Maskierung einer ganz und gar ignoraten Umgebung. Meist passiert im Film nicht wirklich viel – wenn, dann geht es darum, Geld und Übernachtungsmöglichkeiten aufzutreiben. Ingrid Steeger stolpert weltoffen aber zunehmend desillusioniert von einer Szene zur nächsten, durch einen Film, der sich traut die Naivität und die Verlorenheit seiner Figuren zu präsentieren, sie bloßzustellen, ohne sie zu verdammen. Der Traum von Freiheit und Glück ist da, nur: die realen Lebensumstände präsentieren sich gänzlich anders.

In der prägnantesten Sequenz des Films wird Vicky zunächst von einer Gruppe Schweizer Hell’s Angels aus dem Wasser gefischt und vergewaltigt. Nach einem abrupten Schnitt sehen wir sie nackt auf dem Motorrad sitzend, sich an einen der Fahrer klammern. Zunächst geht es zum Kleiderkauf, danach in die Kneipe. Am Ende versucht Vicky wieder per Anhalter weiter zu kommen. Während die Hell’s Angels zuvor in der kleinen Stadt darauf warten, dass Vicky aus dem Klamottengeschäft herauskommt, betrachten zwei von ihnen mit leidigem Interesse das Schaufenster des örtlichen Kinos. Es läuft: „Easy Rider“. Der Widerspruch zwischen äußerer Erscheinung und innerem Bedürfnis, den der Film durchweg formuliert, verdichtet sich in dieser Szene auf das Wesentliche. Die Biker in Dietrichs Film sind das dunkle Gegenstück zu Fonda und Hopper, nihilistisch wie der Grundton des Films. Diesmal sind die Aussteiger nicht nur die Gearschten sondern auch die Arschlöcher, und von Freiheit ist hier weit und breit nichts mehr zu spüren.

Der formale Höhepunkt des Films findet sich jedoch am Ende, wenn die Kamera der nackt durch die Berliner Straßen rennenden und mit Heroin vollgepumpten Ingrid Steeger durch die einstige Reichshauptstadt folgt, während sie sich in die Alpen halluziniert, und von einem Auto überfahren zu Tode kommt. Der Zynismus der deutschen Wirtschaftswundermentalität, angesiedelt zwischen Heimatkitsch, Generationenkonflikt, Realitätsflucht und struktureller Gewalt, findet in dieser brillant inszenierten Abschlusssequenz seinen finalen allegorischen Ausdruck.


Ich, ein Groupie – BRD, Schweiz 1970 – 89 Minuten – Regie, Produktion und Drehbuch: Erwin C. Dietrich – Kamera: Peter Baumgartner – Musik: Walter Baumgartner, Walter Senn – Darsteller: Ingrid Steeger, Rolf Eden, Vivian Weiss, Li Paelz, Terry Mason, Stewart West, Sharon Richardson

 

Hinweis: Die Nummerierung der Filme folgt lediglich der Reihenfolge der Einträge. Die Gesamtauswahl von 100 Filmen ist nicht redaktionell abgestimmt, sondern eine im Laufe der Veröffentlichung zufällig entstehende Zusammenstellung, die sich aus den Einzelbeiträgen und persönlichen Vorlieben der Teilnehmer ergibt.

Dieser Beitrag wurde am Montag, Dezember 14th, 2009 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

7 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #2 : Ich, ein Groupie (1970)”

  1. Eskalierende Träume » Die Redaktion empfiehlt: Der Ultimative Kanon – Die wirklich allerbesten Deutschen Filmerzeugnisse! on Dezember 14th, 2009 at 17:21

    […] KLEIN ANGEFANGEN von Werner Herzog und ICH, EIN GROUPIE von Erwin C. Dietrich finden sich hier und hier. Dieser Beitrag wurde am Montag, Dezember 14th, 2009 in den Kategorien Deutsche Lieblingsfilme, […]

  2. Ben on Dezember 24th, 2009 at 14:23

    Darf ich mal fragen, was die Schweizer Produktion „ICH, EIN GROUPIE“ auf der Liste mit 100 deutschen Lieblingsfilmen verloren hat? Den Jürg Kachelmann, Dieter Moor und Kurt Felix dürft ihr gerne haben, aber bitte nehmt uns den Erwin C. Dietrich nicht weg.

  3. Christoph on Dezember 25th, 2009 at 14:29

    Nun ja, die meisten Quellen geben den Film eigentlich als deutsch-schweizerische Koproduktion an und der Cast besteht auch überwiegend aus deutschen Darstellern (allen voran die Berlinerin Ingrid Steeger natürlich). Wir bedauern es nämlich selbst, dass sich die meisten Erwin C. Dietrich-Filme aufgrund ihrer 100%ig schweizerischen Produktion für die Reihe disqualifizieren – beispielsweise DOWNTOWN oder EINE ARMEE GRETCHEN (*schmacht*). Daher haben wir wohl einen Fehler gemacht, als wir uns auf deutsche anstatt deutschsprachige Filme beschränkten…

  4. Ben on Dezember 25th, 2009 at 15:22

    Ursprünglich war ICH, EIN GROUPIE als US-schweizerische Co-Produktion geplant. Roger Corman schickte den Regisseur Jack Hill („Spider Baby“) in die Schweiz. Laut Dietrich ist Junkie Jack Hill dann aber nie auf dem Set aufgetaucht. Der wütende Mitproduzent setzte den Kontrakt-Regisseur ins Flugzeug und sass von da an selber auf dem Regie-Stuhl. Corman stieg aus dem Projekt aus – es gibt von Dietrich vorproduzierte Plakate, auf welchen der Name Corman mit schwarzem Filzer übermalen wurde. Jetzt wars nur noch eine Schweizer Produktion. Nachzulesen in „Mädchen, Machos und Moneten – die unglaubliche Geschichte des Schweizer Kinounternehmers Erwin C. Dietrich“.

  5. Sano on Februar 2nd, 2010 at 23:01

    Ich habe mich nach mehreren Internetquellen gerichtet, die größtenteils angeben, dass der Film eine Koproduktion zwischen der Schweiz und Westdeutschland darstellt. Mich interessiert bei Produktionsfragen in der Regel wo das meiste Geld her kommt. „Ich ein Groupie“ sehe ich als Grenzfall an, aber da ich den Film gerne besprechen wollte, und es auch ganz andere Angaben zur Finanzierung gibt (siehe hier), habe ich mich etschlossen ihn auch auf unsere Liste zu setzen.

    Zur Zeit bin ich der Meinung, dass Filme die eindeutig zu ähnlichen Anteilen international produziert wurden, und unter Umständen eine internationale Crew haben, durchaus zu mehreren Ländern gerechnet werden können. Das heißt für mich effektiv, dass ich „Ich ein Groupie“ sofort auch auf eine schweizer Liste setzen würde.

    Oft sind solche Sachen ja auch Gefühlssache. Persönlich sehe ich den Film definitiv auch eher als schweizer Produktion, konnte aber aufgrund der oben beschriebenen Lage und meiner Begeisterung für den Film nicht widerstehen ihn auf unsere Liste zu setzen. Aber wie gesagt, denke ich nicht, dass er hier fehl am Platz ist.

  6. BONOBO SOUNDBAGS » Blog Archive » ESKALIERENDE TRÄUME on April 18th, 2010 at 21:50

    […] zu überraschen. Selbst zwei meiner Favoriten werden über die Klobürste gelobt – “ICH, EIN GROUPIE” sowie “IM SCHLOSS  DER BLUTIGEN BEGIERDE“. Dort erschreckten weniger die […]

  7. Erwin C. Dietrich on Februar 6th, 2015 at 09:59

    Der Film Ich – ein Groupie ist eine Co-Produktion zwischen meinen beiden Firmen
    URANIA FILM Zürich und Berlin.

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