Ursprünglich war das alles ja etwas anders geplant gewesen. Zwei mal die Woche posten, kurze Texte, die Lust machen sollten auf die Filme. Und nach einem Jahr sollten die 100 dann voll sein. Das ganze Geriet schnell ins Stocken: Diskussionen übers Konzept, steigenden Ansprüche, und wie immer wenig Zeit für einen Blog der nur aus der Freizeit der Autoren gespeist wird. Im August gab es jetzt die letzten Texte, und die letzten Monate war es dann etwas ruhig geworden. Das soll sich ändern. Neues Jahr, neue Vorsätze, und vielleicht der Versuch 2011 die 100 doch noch voll zu bekommen? Wir werden sehen. Aber bevor es im neuen Jahr dann mit weiteren Texten und neuer Energie weitergeht, an dieser Stelle zur Überbrückung und als Versicherung, dass wir die Reihe definitiv weiterführen werden, zwei neue Texte von mir. Zwei Filme aus der DDR, beide in den letzten Wochen für mich entdeckt, und beide vielleicht thematisch etwas miteinander verwandt. Von Kurt Maetzig und Ulrich Weiß. Viel Spaß beim Lesen, und wie immer – viel Geduld mit uns allen. 😉
Viele Menschen, die in Ulrich Weiß‘ Abstecher interviewt werden sind ehemalige Ostdeutsche. Und viele von ihnen sind sich einig, dass eines im neuen Deutschland etwas verloren gegangen zu sein scheint: die Menschlichkeit. Wie kann es sein, dass Bewohner des Unrechtsstaates DDR, eines Staates der seine Bürger permanent mundtot zu machen versuchte, und jeden Anflug von Individualität als Angriff auf die herrschende Ideologie verstanden haben wollte, ausgerechnet diese Feststellung machen? 1991. Zwei Jahre nach der Wende?
Um diese Frage dreht sich der gesamte Film. Wo bleibt der Einzelne innerhalb revolutionär anmutender Prozesse? Und wie hat sich die Wiedervereinigung auf die Bewohner der ehemaligen DDR wirklich ausgewirkt? Große Teile des Films spielen während einer Zugfahrt von Ost nach West. Die Menschen sind müde, erschöpft, resigniert. Der Aufbruchstimmung nach dem Mauerfall, ist der Wunsch nach bürgerlichen Träumen gewichen. Und die meisten wünschen sich nur noch das mindeste: eine Arbeit zu haben.
Der Film fängt mit einer Fernsehansprache an. 1989: Friedrich Schorlemmer, spricht über Euphorie, Glücksvorstellungen, Neuanfang. Danach: die Gegenwart, 1991, zwei Jahre später. Wieder Schorlemmer, diesmal privat. Die Szene erdrückend, die Enttäuschung groß. Die Utopie einer angeblich freien Gesellschaft, in der der Einzelne mit der Freiheit nichts anfangen kann. Da nun scheinbar alles möglich ist, gibt es nichts mehr zu tun. Die Illusion würde sich gerne als Realität behaupten, doch die Aufnahmen des Films sprechen eine andere Sprache.
Als Friedrich der Große gegen Ende des Films in Potsdam seiner neuen Ruhestätte zugeführt werden soll, sind zahlreiche Gruppierungen angetreten um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ein Spektakel, das Jeder für sich und seine Interessen ausnutzen möchte, eine Selbstdarstellung, in der die Leichen von Friedrich und seinem Vater als Vorwand für diverse eigene Agenden in der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden. Ein Aufmarsch Homosexueller, die den Anlass zur Anprangerung der Tatsache nutzen, dass ja anscheinend ein schwuler Kaiser mit allen Staatsehren bedacht wird, während in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft Homosexuelle immer noch wie der letzte Dreck behandelt werden, wird jedoch nicht gern gesehen. Deutschland wächst zusammen, heißt es über das Voice-Over von Helmut Kohl. Eine PR-Aktion für die Wiedervereinigung. Die feindliche Übernahme als große Versöhnungsinszenierung.
Abstecher ist ein großer Film. Nicht nur das Pendant zu den bestimmenden Fernsehbildern aus der Nachwendezeit, sondern im Grunde zu einem Film, wie ihn sich jeder Staatschef wünscht. Zur Propaganda der herrschenden Staatsmacht, zu einem Werk wie Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935), verhält sich Ulrich Weiß‘ Abstecher wie die notwendige Ergänzung, der unliebsame Bruder, das schwarze Schaf. Er ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen, die die Abhängigkeit des Einzelnen von einer kollektiven Idee veranschaulicht. Wunsch und Realität liegen in der neuen BRD ebenso weit auseinander wie in der ehemaligen DDR. Die Möglichkeit für eine neue Gesellschaft, für eine neue Form des Miteinanders, wurde nicht wahrgenommen. Weiß ist bitter, denn die Realität ist bitter. Im Grunde hätte ’89 auch Krieg sein können. Der Sieger schreibt die Geschichte.
Vielleicht wird Abstecher von einer zukünftigen Kulturpolitik einmal als Beweis angeführt werden, dass es „damals“ ja auch andere, „kritische“ Stimmen gegeben hätte. Der Zuschauer wird sich jedenfalls, wie immer, auch dazu seine eigenen Gedanken machen müssen.
Abstecher – Deutschland 1992 – 65 Minuten – Regie und Drehbuch: Urich Weiß – Produktion: Andrea Hoffmann, Tony Loeser – Kamera: Johann Feindt, Eberhard Geick – Musik: Peter Rabenalt – Schnitt: Petra Heymann – Darsteller: Bewohner des wiedervereinigten Deutschland
Wenn man gemeinhin vom deutschen Film spricht, wird oft allzu schnell vieles vergessen. Über die Weimarer Republik, die NS-Zeit und das Nachkriegskino, ist man auch schon rasch bei den Oberhausenern, beim Neuen Deutschen Film und in der Gegenwart gelandet.
Die DDR ist ebenso Ausdruck deutscher (Film-)Geschichte wie deutscher Verdrängung; Parallelen zum Nazikino treten fast von Selbst auf. Wenn Maria im Film ihren Geliebten, der gleichzeitig auch Richter ist, fragt wie das Recht sich ändert, und warum es sich ändert, so antwortet er ihr: „Jede herrschende Klasse gibt ihr positives Recht als Naturrecht, als die allgemeine Glückseligkeit aus.“ Die DDR natürlich auch, schiebt er nach, aber mit größerem Recht.
Wenn man ins 20. Jahrhundert blickt, könnte man sich fragen, welcher deutsche Staat denn nun ein Rechtsstaat war, und wie deutsche Selbstbestimmung aussah. Aus heutiger Sicht scheint es klar – aber war das Kaiserreich ein größeres Unrecht als die Weimarer Republik, haben die Nazis die Macht ergriffen, während die DDR von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurde, und hat der Westen Deutschlands von seinen Besatzern eine Verfassung geschenkt bekommen, die er nach der Wiedervereinigung an die frisch Hinzugekommenen weitergab?
Die Geschichtsschreibung steckt voller Mythen, und nicht anders verhält es sich mit der Filmgeschichte. Und diese Phantome, die Konstruktionen und Rechtfertigungsversuche des Geistes, scheinen sich bevorzugt einzuschleichen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geht. Das Kaninchen bin ich wurde 1966 verboten, und durfte in der DDR nicht öffentlich vorgeführt werden. Es erscheint nicht als Zufall, dass er vor allem um die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart kreist.
Wenn ich mir den Film heutzutage anschaue, ist es schwierig zu entscheiden, was den Funktionären damals im Besonderen aufgestoßen haben mag. Den erwünschten Sozialistischen Realismus zeigt der Film sicher nicht, aber das hatte z.B. Berlin – Ecke Schönhauser fast zehn Jahre zuvor auch nicht gemacht. Statt Verbot gab es damals aber Auszeichnungen.
Vielleicht war das Unerhörte an diesem Werk, dass er den deutschen Faschismus als Kontinuitätslinie zeichnete, der in der DDR genauso zum Ausdruck kam, wie die überwunden geglaubten Jahrhunderte zuvor. Die Figur des Richters – mit seinen juristischen Argumentationen aber auch mit seinem Privatleben – hätte man so auch in die 30er Jahre verpflanzen können. Die Person und das Drama hätten genauso funktioniert. Es hatte sich eben nicht viel geändert.
Wenn man sogenannte Diktaturen als Sonderfälle der Geschichte darstellen, und ihre Filme sozusagen als Sonderlinien der allgemeinen Filmgeschichtsschreibung gleich mit ins Abseits stellen möchte, indem man sie vornehmlich als Zeitdokumente, als „historisch relevant“ betitelt, so übersieht man leicht die Kontinuität und die Verwandschaft, die Ähnlichkeiten des Einen mit dem Anderen, des Vergangenen und des Gegenwärtigen.
Nach über 40 Jahren seit Entstehung des Films, ist das Auffällige in erster Linie eben nicht das nihilistische Menschenbild, die marode Zeichnung der sozialistischen Gesellschaft, oder der schrankenlose Sexismus früherer Generationen. Erschreckend ist die Aktualität, die niederschmetternde Gewissheit, dass sich in der Gegenwart immer noch nichts geändert hat.
Das Schlussbild, in dem Angelika Waller als Maria Morzeck mit einem Leiterwagen in der Hand entschlossen ihren Weg zu gehen versucht, erweist sich somit nicht als historisch oder zeitverhaftet, sondern als universell. Und es ist auch keine Frau, die sich durchzusetzen versucht, sondern ein Mensch. Auch heutzutage noch – eine Utopie.
Das Kaninchen bin ich – DDR 1965 – 114 Minuten, ursprünglich 121 – Regie: Kurt Maetzig – Drehbuch: Kurt Maetzig, Manfred Bieler – Produktion: Martin Sonnabend – Kamera: Erich Gusko – Musik: Reiner Bredemeyer, Gerhard Rosenfeld – Schnitt: Helga Krause – Bauten: Alfred Thomalla – Darsteller: Angelika Waller, Alfred Müller, Ilse Voigt, Wolfgang Winkler, Irma Münch, Rudolf Ulrich, Helmut Schellhardt, Annemarie Esper, Willi Schrade, Willi Narloch, Bernd Bartoczewski
Nach Christophs vorhergehendem wunderbarem STB-Ausrutscher-Langtext-Posting, habe ich mir überlegt es ihm wenigstens im Ansatz gleichzutun, und einen von mir noch ausstehenden STB-Kommentar (aus der problematischen Zeit vor unserem Providerwechsel) etwas auszubauen, und ebenfalls auf den Blog zu stellen. Eigentlich versuche ich ja meist nur Texte zu veröffentlichen, die aus einer Kombination aus Inspiration und Arbeit zu einem für mich zufriedenstellenden Ergebnis geführt haben, aber in diesem Fall möchte ich eine Ausnahme machen. Ich brauche nämlich einen Motivationsgrund anstelle einer möglichen Schreibblockade, die mich nach einem blöden Unfall vor ein paar Tagen aus Frustration überkommen hat. Statt einem längeren Eskalierende Träume Essay über einen älteren thailändischen Film der mir sehr imponiert hatte, gab es bei mir nach dem Stolpern über ein Stromkabel dank OpenOffice bug nur den kompletten Datenverlust und ein unlesbares Dokument zu begutachten, das sich auch nach mehreren Stunden herumklempnern nicht mehr reparieren ließ. Aus Vorsicht und Mißtrauen daher, erst einmal eine Sehempfehlung eines tollen japanischen Films, der mich vor ein paar Wochen überraschend zu begeistern wusste, bevor ich mich wieder an Texte wage, die mir mehr am Herzen liegen.
Nach BANDITI A MILANO (1968), einem Film der, ginge es in der Cinewelt mit rechten Dingen zu, schon längst als einer der größten Kriminalfilme der Filmgeschichte regelmäßig genannt würde, ist SAN BABILA ORE 20 dieses Jahr bereits der zweite Film von Carlo Lizzani, der mich in jeder Hinsicht überrannt und -rascht hat. Und das, obwohl gerade diese beiden Filme Geschwister sein könnten. Mehr dazu, hoffentlich, eines Tages in einer erschöpfenden Lobeshymne auf ersteren Film. Der Ansatz, mit dem sich Lizzani hier dem Neofaschismus unter Jugendlichen nähert, ähnelt sehr demjenigen, mit dem Gus Van Sant in ELEPHANT (2003) den Amoklauf von Columbine interpretierte – Mögliche Ursachen werden vorgeschlagen, Schlussfolgerungen gibt es keine, Klischees werden sporadisch bewusst und präzise platziert. SAN BABILA ORE 20 ist ein Film der Gedanken- und Filmsplitter, die sich vor dem Auge zu faszinierenden, aber unordentlichen Gebilden assimilieren. Nicht selten lässt Lizzani, wohl ein Liberaler, aber dem Auftreten in seinen Film nach sicherlich kein so radikaler Linker wie etwa Elio Petri oder Pasolini, seine spürbare Rat- und Fassungslosigkeit in die Kamera laufen, filmt das eskalierende Mailand und seine fünf von ihrer faschistischen Freiheitsidee berauschten jungen Protagonisten in flüchtigen, gespenstischen, aber auch sehr kompakten, stämmigen Bildern, so wie Elio Petri etwa auch den Arbeiteraufstand in LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO (1971) – mit dem sich Lizzanis Film den Co-Autoren Ugo Pirro teilt – ein wenig wie eine surreale Freakshow filmte. Weiterlesen…
Für alle Leser, die die letzten zwei Monate vergeblich auf mehr Texte unserer Autoren gewartet haben, wird der Dezember (Providerwechsel sei Dank!) ein besserer Monat werden. Bevor es an dieser Stelle aber mit neuen Beiträgen weiter geht, noch ein kurzer Hinweis.
Da die meisten unserer Autoren auch der Veröffentlichung außerhalb von Eskalierende Träume nicht abgeneigt sind, haben sich Alex P. und ich entschieden bei der Negativ Adventskalenderaktion mitzumachen, bei der an 24 Tagen jeweils ein über- oder unterschätzter Film der letzten Dekade von täglich wechselnden externen Autoren vorgestellt wird .
Alex‘ Text zu Hollywood-Ausnahmeregisseur M. Night Shyamalan und seinem Film The Happening beschäftigt sich vor allem mit Glaubensaspekten in Shyamalans leider oft unterschätzten Meisterwerken, und ist am 03. Dezember erschienen. Mein Beitrag zu Sören Voigts Identitätsstudie Identity Kills ist seit heute online, und polemisiert auch ein wenig über das deutsche Filmschaffen. Die beiden Artikel sind jeweils hier und hier zu finden.
Anscheinend als Parodie auf amerikanische Experimentalfilme der 50er Jahre entstanden, ist Odds & Ends selbst ein Vertreter dieser Richtung. Experimentalfilm – Für mich heißt das immer, dass ein Filmemacher auf die Suche nach etwas geht, etwas versucht, einen Anfang macht. Kein Statement, sondern ein Experiment. Natürlich ist der Begriff im späteren Kontext auch etwas unsinning. Alles was scheinbar nicht narrativ motiviert sein soll, und etwas schwer verständlich ist (sprich: Fragen aufwirft), wird gemeinhin als „Experimentalfilm“ bezeichnet. Eine Restkategorie für auf der Strecke gebliebenes. In diesem Fall erscheint diese fragwürdige Zuordnung jedoch ganz passend.
Odds & Ends ist ein wildes Durcheinander an Bildern und Farben, Stills und Bewegungsabläufen, begleitet von Musik und einer Stimme aus dem Off: Nonsensical Narration. Was parodiert werden soll ist nicht ganz klar, bzw. überdeutlich. Für mich funktionierte der Film aber als Experimentalfilm par excellence. Ein visueller Stimulus, der vor Einfällen und Phantasie überquillt, und auf eine Art geschnitten ist, dass man in die Knie gehen möchte. Der Kommentar und die Musik sind das akustische Hintergrundgeplätscher, welches jede Art von akustischer Untermalung ad absurdum führt. Das Gesehene spricht für sich – also auch ein genuiner Stummfilm. Die Parodie entspringt deshalb aus der Verbindung von Ton und Bild.
Bei mir löste alles einen Rausch aus, der meinen ganzen Körper ergriff und mein Herz schneller schlagen ließ. Wenn es auf der Seite der National Film Preservation Foundation heißt, die Regisseurin Jane Conger Belson Shimane [was] considered the “most gifted talent” of the “new San Francisco group,”, so glaube ich das aufs Wort. An instant classic.
Odds & Ends – USA, 1959 – 4 Minuten – Regie: Jane Conger Belson Shimane – Sprecher: Henry Jacobs – 16mm, Farbe
Im Russland des 19 Jahrhunderts kämpft der kaukasische Rebellenführer Hadschi Murat (Steve Reeves) gegen die Besatzer von Zar Nikolas I (Milivoje Zivanovic). Bislang hat Murat sich den Angriffen des sadistischen Prinzen Sergej (Gérard Herter) erfolgreich erwehrt. Um der Krise im fernen Kaukasus doch noch Herr zu werden, schickt der Zar Prinzessin Maria Vorontsova (Scilla Gabel), die Gattin von Sergej, an die Front mit dem Vorschlag, Hadschi Murat zum Seitenwechsel zu überreden und notfalls zu erpressen. Dem Prinzen ist dafür jedes Mittel Recht; er macht auch vor Murats Sohn Yusuf und seiner geheimen Liebe, der schönen Sultanat (Giorgia Moll) nicht halt. Dass der verschlagene Achmet Khan (Renato Baldini) schon lange auf eine Gelegenheit wartet, die Macht über das Gebiet an sich zu reißen, kommt ihm wie gerufen… Weiterlesen…
Vor etwas mehr als einem Monat hatten ich und Andreas die Möglichkeit, Riccardo Fredas seltenen DER TOD ZÄHLT KEINE DOLLAR (1967) im Kino zu erleben. Überwältigt von diesem surreal anmutenden Anti-Italowestern und in Erinnerung an die Tatsache, dass Fredas DAS GESICHT IM DUNKELN (1969) schon seit Jahren eines meiner persönlichen cineastischen Heiligtümer darstellt, beschloss ich, dass es nun an der Zeit war, mich endlich einmal näher mit Riccardo Freda, dem heute nahezu vergessenen frühen Meister des italienischen Kostüm-, Sandalen- und Horrorfilms zu beschäftigen. Über Mario Bava ist bereits ein Jahrhundert-Buch geschrieben worden, Vittorio Cottafavi von den „Cahier du cinema“ einst mit Lob überhäuft worden, über Dario Argento und Lucio Fulci schreiben deren zahlreiche Fans immerhin ausführlich, wenn schon nicht adäquat – doch über Freda schreibt man außerhalb Italiens und vielleicht noch Frankreich heutzutage kaum noch. Ein Skandal, der mich nun bereits zu vier Texten, denen hoffentlich noch viele weitere folgen werden, angeregt hat. Warum „Directed by Robert Hampton“? Das von Freda besonders häufig gebrauchte englische Pseudonym karikiert seine Fremdheit in der (italienischen Genre-)Filmgeschichtsschreibung sehr treffend.
Hier geht es zu den bisher veröffentlichten Texten:
Obwohl ich darauf vorbeitet war, Schwerverdauliches in mich aufzunehmen, war die Sichtung von ENTER THE VOID in erster Linie eines: unheimlich anstrengend. Das ständige Geflirre und Geblinke in allen Farben und Nichtfarben und vor allem am Anfang die torkelnde Handkamera, später dann die dauernd über dem Geschehen kreisenden und in diesen oder jenen Hundenapf eintauchenden Kranfahrten verursachten mir geradezu physischen Schwindel und sogar leichte Übelkeit, so dass ich während der immerhin 162 Minuten mehrmals die Augen schließen und langsam bis 10 zählen musste, um den Film überhaupt weitersehen zu können, ohne meinen Mageninhalt über der zum Glück leeren Sitzreihe vor mir zu vergießen. Doch manche Filme dürfen eben anstrengend sein, für das große Kino nimmt eine echter Cineast jederzeit auch körperliches Unwohlsein in Kauf, Kunst ist in dieser Hinsicht wie Liebe: sie darf auch mal weh tun.
Ob Gaspar Noés dritter Langspielfilm, jedoch Kunst genug ist, um das visuell erzeugte Schleudertrauma zu rechtfertigen, muss sich jeder selbst beantworten – ich zumindest kann auch nachdem ich einmal drüber geschlafen habe, zu keiner abschließenden Bewertung kommen. Aber gerade das ist wohl symptomatisch für diesen Film, wie überhaupt für Noés Kino und macht es trotz aller zwiespältigen Gefühle, die es bei mir weckt, letztlich doch zu einem Faszinosum. Ich gebe es hiermit unumwunden zu: irgendwo tief in mir hegte ich ja die Hoffnung, ENTER THE VOID könnte Noés erstes richtiges Meisterwerk sein, schon die lange Schaffenspause – zwischen IRRÈVERSIBLE (2002) und ENTER THE VOID liegen 7 Jahre, in denen Noé nur zwei Kurzfilme gedreht hat – aber durchaus auch die Presse und der Trailer ließen mich insgeheim auf wahrhaft Großes hoffen.
Tatsächlich gehört die Grundidee des Films, die dem Regisseur angeblich schon vor Jahren beim Anschauen des berühmten First-Person-Perspective-Noir LADY IN THE LAKE (1947) unter Einfluss von Psychedelika gekommen ist, zu den interessantesten und originellsten seit langem: konsequent zeigt uns der Film die Welt aus der Innenperspektive eines jungen Eurpäers namens Oscar, der mit seiner Schwester Linda in Tokyo lebt, jedoch – Achtung Spoiler! – nach den ersten 20 Minuten des Films erschossen wird, nur um dann als körperlose Seele abwechselnd durch wabernde Lichtmassen zu reisen, durchs nächtliche Tokyo zu flirren und aus der Vogelperspektive die Schicksale seiner Schwester, sowie seiner früheren Freunde und Feinde zu beobachten, unterbrochen von assoziativ montierten Erinnerungsflashbacks, welche dem Zuschauer praktischerweise gleich die Lebensgeschichte der beiden Geschwister nachliefern, die sich nach dem Verlust ihrer Eltern in einem tragischen Unfall, herzzerreißenderweise geschworen haben, immer bei einander zu bleiben, selbst nach dem Tod.
Als kulturell-mystischen Hintergrund für Noés hochambitionierten Versuch, das Sterben und die Reise durchs Jenseits als „ultimativen Trip“ (Zitat aus dem Film) zu inszenieren hat dieser sich offensichtlich das mehrfach im Film vorkommende Tibetische Totenbuch ausgewählt, das schon in den 60ern von begeisterten LSD-Konsumenten und Freizeitpropheten wie John Lennon und Timothy Leary zu dem Kultbuch aller Bewusstseinserweiterungsjünger erhoben wurde. Die psychedelische Prämisse des Films gab Noés CGI-Team immerhin den Anlass, einige der sicherlich schönsten Bildschirmschoner aller Zeiten zu kreieren. So kann man sich denn ganz legal und ohne Drogen im Kinosessel dem reizvollen Licht- und Farbenrausch ergeben, für den das neonblinkende nächtliche Tokyo die schmucke Kulisse abgibt.
Natürlich bemüht sich der Film nebenbei auch um emotionale Tiefe, doch wie bei Noé üblich versucht er diese vor allem dadurch herzustellen, dass er alles so schockierend und drastisch wie nur möglich inszeniert. Daher dürfen wir sozusagen hautnah an Oscars inzestuösen Phantasien teilhaben, gleich mehrmals den traumatisierenden Unfall der Eltern rekapitulieren, in einen abgetriebenen Fötus eintauchen und einem Geschlechtsverkehr zur Abwechslung mal aus der Perspektive der Vagina beiwohnen. Noé wirkt dadurch leider ein bißchen, wie ein leicht überspanntes Hundeherrchen, das sein Haustier, den Zuschauer, ununterbrochen mit der Schnauze in die Scheiße drückt, um ihm mal zu zeigen, wie krass und vor allem wie mies die Welt doch eigentlich ist. „Le temps detruit tous“ – „Die Zeit zerstört alles“ wurde schon in IRRÈVERSIBLE immer mal wieder zwischendurch eingeblendet, offensichtlich Noés tiefsinnige Lebensweisheit, die er auch in ENTER THE VOID mit wiedermal durchaus virtuoser Handhabung der Kamera und betont unkonventionellen Erzählweisen in Szene setzt.
Nur wird dieser Grundpessimismus hier eben ins Buddhistische gewendet. In einem Interview erklärt Gaspar Noé allerdings, dass er die Beschreibungen der Seelenreise im Jenseits aus dem Tibetischen Totenbuch nur im Sinne eines reizvollen Gedankenspiels adaptiert hat, selbst aber keine Bohne daran glaubt. Das ist dann irgendwie doch etwas beruhigend, zumal der Film manchmal hart an der Grenze zum New-Age-Trash vorbeischrammt, und vor allem gegen Ende stellenweise ins unfreiwillig Komische abdriftet, etwa wenn in einer schwebenden Kamerafahrt durch ein Bordell die Genitalien der auf mannigfache Weise Kopulierenden eine Art leuchtenden Nebel zu verstömen scheinen. Allerdings stellt sich damit auch die Frage wie ernst man den Film überhaupt nehmen kann. Vielleicht sollte man an ENTER THE VOID aber gar nicht den Anspruch stellen, tiefgründige philosophische Reflexionen über den Tod in Gang zu setzen, sondern ihn einfach von vornherein als schicken Transgressionreigen im Neongewand rezipieren, als agnostische Spititualität, dargereicht in zeitgerechter Form von Leuchtreklame. ENTER THE VOID wäre somit als Manifestation eines neuen, zugleich ins digitale wie ins post-religiöse Zeitalter eingetretenen Cinéma du Look zu betrachten. Möglicherweise ist dies sogar die adäquaste Art die religiösen Bedürfnisse unserer Generation darzustellen: es geht hier nämlich längst nicht mehr um die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, sondern wenn überhaupt um die Hoffnung darauf, dass dieses, falls es denn tatsächlich eines gibt, möglichst stilvoll aussieht und interessante Features wie Umherfliegen und In-Menschen-Eintauchen bietet.
Enter the Void – F/BRD/I 2009 – 162 Minuten – Regie: Gaspar Noé – Buch: Lucile Hadzihalilovic, Gaspar Noé – Produktion: Pierre Buffin, Olivier Delbosc, Vincent Maravl, Marc Missonier, Gaspar Noé – Kamera: Benoît Debie – Schnitt: Marc Boucrot, Gaspar Noé – Musik: Thomas Bangalter – Darsteller: Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Olly Alexander, Masato Tanno u.a.