1999 besuchte David Bordwell, auf Einladung des Instituts für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilian-Universität München, die deutschen Lande, und ermöglichte, begleitet von Filmvorführungen innerhalb von 4 Vorlesungen an 4 Tagen, in kurzer Abfolge, einen Einblick in sein Verständnis von Film. So heißt es jedenfalls im Vorwort dieses Buches, das (in der mir vorliegenden Ausgabe) die Vorträge aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und in jeweils 4 Kapitel aufgeteilt hat. Der Band erschien 2001 beim Verlag der Autoren, und ist in seiner Art eine Seltenheit, wobei er soviel ich weiß bisher nur in Deutschland aufgelegt worden ist. Während und nach dem Lesen wünschte ich mir vor allem eines: 1999 bei den Lectures dabeigewesen zu sein. Bordwell äußert sich präzise und eloquent, und es muss noch um ein vielfaches intensiver und anregender gewesen sein ihn im Originalton vor sich zu sehen – sozusagen das 35mm Erlebnis im Kino, statt der synchronisierten DVD zu Hause. Der Vorteil gegenüber dem Vortrag ist natürlich (wie immer beim Lesen) das Innehalten, Zurückblättern, die individuellere Handhabung, bei der die Auseinandersetzung mit der Zeit von größerem Nutzen sein kann. Insofern ist es dem sorgfältig redigierten Text auf vorbildliche Art und Weise gelungen das Ereigniss verständlich zu übertragen, was nicht zuletzt der Auswahl und inhaltlichen Einbindung zahlreicher Einzelbilder aus fast allen von Bordwell besprochenen Filmen zu verdanken ist.
Das besondere an Bordwells Vorträgen im Münchener Arri-Kino, war nach Meinung des Herausgebers, die Kombination von Wort und Bild durch die Vorführung zahlreicher Videosequenzen und die Projektion mehrerer hundert Dias, auf deren Grundlage die analytischen Argumentationen aufgebaut zu sein schienen, wobei es sich hierbei fast ausschließlich um die Übernahme von Frames aus den Filmen selbst, und nicht um Standbilder im klassischen Sinne, also am Set aufgenommene, oder sonstwie bearbeitete Pressebilder zu Werbezwecken handelte. Der Nachteil hierbei, ist die (je nach Zustand der verwendeten Filmkopie oder des Negativs) schlechtere Bildqualität. Der unschätzbare Vorteil jedoch – und bei Bordwell spielt dieser Umstand glücklicherweise in allen seinen Werken eine wesentliche Rolle – das Originalformat, oder zumindest eine versuchte Annäherung daran. Einen Film im falschen Bildformat zu sehen, heißt eben den Film niemals wirklich „gesehen“ zu haben, und eine Bildanalyse die sich mit der Kadrierung beschäftigt, führt sich durch Verwendung optisch beschnittener Filmsequenzen selbst ad absurdum. Bordwell gilt nicht nur deshalb, als einer jener Filmtheoretiker, die sich vor allem um die konkrete Beschäftigung mit dem Bild verdient gemacht haben. Dass es selbst unter Filmwissenschaftlern oft immer noch nicht relevant zu sein scheint, Filmausschnitte im richtigen Bildformat zu präsentieren, belegen nicht nur zahlreiche Veröffentlichungen, sondern (zumindest in Deutschland) auch der schäbige Umgang mit Filmpräsentationen an Universitäten. Eine Selbstverständlichkeit wird somit im Werk von Bordwell zu einer Auszeichnung. Traurig aber wahr.
Die Filmbilder sind im vorliegenden Buch sorgfältig in den Text eingefügt, kommentieren und ergänzen ihn, wobei ein weiterer unschätzbarer Vorteil gegenüber manch anderer ähnlich gelagerter Filmliteratur zum Vorschein kommt. Die Bildfolgen erscheinen nicht im Anhang und werden vom Verlag auch nicht als gnädige Fußnote zum theoretischen Fabulieren behandelt. Ebensowenig wurde ein vielleicht schön anzuschauendes graphisches Konzept erarbeitet, das jedoch über einen illustrierenden Charakter nicht hinausreicht. Vielmehr bedingen sich Form und Funktion, wie beim Film, gegenseitig auf die vielgerühmte Art: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Bei aller Freude gilt es aber nicht zu vergessen, dass ein Film eine zeitliche, mit einer bestimmten Geschwindigkeit ablaufende, Abfolge von Bildern darstellt, die sich immer nur als Bewegung oder Dauer wahrnehmen lassen. Stillstand im Kino existiert somit nicht, und die exakt definierte Bewegung in Raum und/oder Zeit ist eine der Besonderheiten des Erlebens von Film. Dadurch stellt die Beschäftigung mit Einzelbildern eine Art Anomalie dar, die ebenso wie die Analyse von Satzstrukturen im Gegensatz zur Wahrnehmung des (Lese)flusses stehen kann. Natürlich stellt sich hierbei die Frage, ob Filme kontinuierlich gesehen werden müssen, oder ob inzwischen ein massenwirksamer Paradigmenwechsel stattgefunden hat, bei dem der Zuschauer, zumindest im sogenannten „Heimkinobereich“, den Film beliebig oft anhalten, vor- und zurückspulen und auf eine Art bearbeiten kann, die früher nur demjenigen zugänglich war, der sich im Besitz des Filmmaterials befand. Darauf wird in dem Buch jedoch (bedauerlicherweise?) nicht eingegangen.
Das Problem, wenn man so will, besteht also darin, dass die Analyse von Einzelbildern im Endeffekt weniger über die Wahrnehmung des eigentlichen Bildablaufs aussagen kann, als man vielleicht annehmen möchte. Wenn wir durch eingehendere Betrachtung von Filmbildern Erkenntnisse erhalten können, die über das Gesehene während der Projektion hinausreichen, haben wir eine verzerrte Wahrnehmung in Kauf zu nehmen, die in vielen Fällen in einen Widerspruch zwischen bewegtem und gefrorenem Bild führen muss. Bild ist nicht gleich Bild. Sicherlich ist das einer der Hauptgründe, warum die Kunstgeschichte mit dem Film als Bildkunst bisher meist eher wenig anfangen konnte. Wenn Bordwell sich während der Vorträge als fähiger Kunsthistoriker erweist, sollten wir ihm das jedoch nicht negativ auslegen, sondern die Beschränkung von bzw. auf bestimmte Instrumaterien, als eine von zahlreichen Methoden ansehen, die nicht weniger Effektiv ist als andere, und uns dabei auf Bordwells eigenen Ausspruch besinnen: „Grand Theory will come and go, but research and scholarship will endure.“
Die wirklich relevanten Fehleinschätzungen entstehen beim vorliegenden Buch meiner Meinung nach nur, wenn Bordwell über die Wirkung von bestimmten Darstellungsformen spricht, dabei vom Spezifischen ins Allgemeine wechselt, und es sich für mich so liest, als ob er Behauptungen gerne als allgemeingültige Aussagen verstanden haben möchte. Nehmen wir folgendes Beispiel: Nachdem ich Bordwells Ausführungen zu bestimmten Sequenzen in David Wark Griffiths The Battle at Elderbush Gulch (1913) gefolgt war, wollte ich mich bei der Sichtung, zunächst des Films und daraufhin wiederholter einzelner Ausschnitte, bestimmter Wirkungsweisen versichern und Aussagen überprüfen. Dabei hatte ich bei einer der behandelten Einstellungen das Bedenken, dass meiner Meinung nach ein dreisekündiger Ausschnitt oft anders wahrgenommen wird, als es eine zeitintensivere Analyse nahelegen kann, sowie bei einer anderen Abfolge, das Problem der Zeitlupe beim Fußball. Was bei „genauerer“ Betrachtung als brutales Foul erscheint, war im Spiel vielleicht wirklich nur eine leichte Berührung. Trotzdem erkennt man an diesem Beispiel, dass ich Bordwells Ausführungen sehr anregend fand, und mir zu vielen Aspekten selbst eine Meinung bilden wollte. Und eben hier liegen Bordwells Stärken: den Blick zu öffnen und Anstöße zur weiteren Auseinandersetzung zu geben, also genau das, was man sich von Vorträgen erhoffen kann.
Bei der Bildanalyse liegt Bordwells Fokus in diesem Werk meist auf der Choreographie von Personen, und sein analytisches Genie offenbart sich meiner Meinung nach vor allem bei der Beschreibung des Verhaltens von Personengruppen innerhalb einer Plansequenz. So gelingen ihm beim Aufzeigen der präzisen Choreographie und Dramaturgie innerhalb der einminütigen Stummfilme der Brüder Lumière, sowie beim hellsichtigen Sinnieren über das Abwenden einer Figur von der Kamera im japanischen Kino, großartige Kabinettstückchen. Und wenn er über mehrere Seiten die inszenatorische Brillanz von Victor Sjöströms Ingeborg Holm (1913) beschreibt, möchte man die Passagen mit den dazugehörigen Bildern nicht nur immer und immer wieder lesen und betrachten, sondern wenigstens vorübergehend auch den Blick von Bordwell auf diesen Film ganz und gar als den eigenen erleben. Denn in „Visual Style in Cinema“ liegt der Genuß im Detail.
David Bordwell: Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Andreas Rost. Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt von Mechtild Ciletti. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, 2001. 1. Auflage.
Es gab für mich bisher bisher 2 Möglichkeiten Roman Polanskis Chinatown (1974) zu erleben. Den Film zu sehen, oder separat Jerry Goldsmiths wunderbaren Soundtrack zu genießen (den er angeblich innerhalb von 10 Tagen abschließen musste, da er gegen Ende des Projekts kurzfristig als Ersatzkomponist einsprang). Nun habe ich eine dritte Möglichkeit entdeckt: Jim Emersons Video-Essay, der über 7 Minuten ohne Kommentar Film und Musik ineinandergreifen lässt, und komprimiert nocheinmal die Essenz des Films sinnlich erlebbar macht.
Als ich Tenebre dank eines guten Freundes zum ersten Mal als DVD-Beam auf der Kinoleinwand bewundern durfte, war das erst mein dritter oder vierter Film von Dario Argento, einem der Schutzheiligen des italienischen Genrefilms. Mein erster Argentofilm war bereits Jahre zuvor seine von Produzentenseite völlig zerstückelte Neuinterpretation des Phantom der Oper-Stoffes Il fantasma dell’opera (1998) gewesen, der zum damaligen Zeitpunkt unter Filmfans als schlechtester Argentofilm überhaupt galt (eine Einschätzung die sich inzwischen leider stark gewandelt hat). Ich liebte den Film. Ich erinnere mich noch wie mein Staunen sich zur Überzeugung formte, hier etwas völlig Neuartiges zu erblicken. „So hätten Filme im 19. Jahrhundert ausgesehen“ war in etwa mein Gedanke, wobei mich wohl vor allem die schwebende Kamera in ihren Bann zog. So genau weiß ich das leider nicht mehr (damals war ich wesentlich Filminteressierter als heute, und machte mir bei der Sichtung auch entsprechend mehr Gedanken), aber ich erinnere mich noch genau an das Gefühl einem Regisseur begegnet zu sein, der eine einzigartige Vision vom Kino hat. Wie zunächst Tarkowskij, Chaplin oder Kubrick, oder inzwischen auch Zulawski und Borowczyk, ist Argento für mich einer jener Filmemacher die dem Kino seine Möglichkeiten vor Augen führen, das Unergründliche zum Vorschein bringen, ohne dass es dadurch wirklich greifbarer werden würde. Die Tatsache, dass der Filmemacher die Welt mit der Kamera erschafft, durch den Sucher blickend, dass Film BILD ist, aber eben beweglich, sich verflüchtigend, paradox wie das Leben selbst, exemplifiziert sich für mich in der Welt dieser Voyeure, denn nichts anderes sind die meisten der größten Filmemacher für mich, jeweils auf ihre eigene Art. Der Blick des Voyeurs fetischisiert das Objekt, und durch die Kameralinse wird die Welt immer Fetisch, egal ob bei Bergman oder Spielberg. Das Wissen wollen, der Drang nach Erkenntnis, zeigt sich bei Argento im Beharren auf dem Blick, dem Blick in all seiner sinnlichen und intellektuellen, seiner umfassenden Form. Der Blick ins Unbekannte durchdringt die Gegenstände ohne dass er sie definiert. Erfahrung als Moment, als etwas das nur erlebbar, nicht begreifbar ist. Die Intensität speist sich hierbei aus der Phantasie. Denn wie der Fetisch selbst nur im Kopf des Betrachters zu sich selbst kommt, öffnen sich die Filme Argentos nur dem beharrenden Auge. Eine wiederholte Sichtung ist daher immer eine Steigerung der Wahrnehmung, der Komplexität, der Vielfalt des Blicks, wobei der Blick hierbei nicht nur das Auge als Organ, sondern das Auge als Körper meint. Weiterlesen “Geborgte Filme – endlich gesehen! #2: Tenebre (1982)” »
Beim Lesen eines Artikels in der neuen Ausgabe von Cargo, ist mir mal wieder eines der großen Übel der gegenwärtigen Filmlandschaft über den Weg gekrochen. Nein, ich spreche nicht vom Multiplex. Aber im Grunde vielleicht doch, denn es geht um ein sehr ähnliches Problem. Dem allgegenwärtigen Formatierungswahn unserer Mediengesellschaft sind inzwischen ja bekanntlich keine Grenzen mehr gesetzt. Alles muss abgemessen, gewogen und kategorisiert werden, und auch beim Film lässt sich eine Tendenz ablesen, die die Musikbranche für mich schon längst zum abschreckenden Beispiel hat mutieren lassen. In unserer heutigen Welt kann jede Rand/gruppe ihr eigenes Süppchen kochen. Die Schwulen, die Schwarzen, die Feministen, die Nazis, die Politiker, die Freunde der Wale, des Eichhörnchens, oder der Fledermaus. Aber bitte nicht die Anderen damit belästigen. Ich stelle mir einen Arbeiter im 19. Jahrhundert vor, der sich fragt was er denn gerade liest? Einen Gesellschaftsroman, ein Theaterstück oder eine Kriminalgeschichte. In unsere heutige Zeit versetzt, würde er sich wohl fragen, warum ihn scheinbar nichts mehr angeht, weil er nicht zu der und der Gruppierung zu zählen ist. Über Migranten können scheinbar nur Politiker und die Migranten selbst reden. Ein bisschen mehr Glück hat man vielleicht als Rollstuhlfahrende schwarze Lesbierin mit S/M-Fetisch. Da kann man dann in mehreren Bereichen mitreden. Ich gebe zu, selbst in der Malerei gab es recht lange Unterscheidungen in Kategorien wie Portrait, Landschaft oder Stilleben. Kategorien, die aus der Funktion von Kunstwerken erwachsen sind, und was damals galt, gilt zum Teil auch heute. Doch Funktion heißt nicht automatisch Sinnhaftigkeit. Wenn in der Post-Post-Post-Moderne des 21. Jahrhunderts die Kategorien längst aufgeweicht sind, und vieles was früher unvorstellbar gewesen wäre gesellschaftlich erlebte Wirklichkeit geworden ist, wobei den Möglichkeiten immer weniger Grenzen gesetzt zu sein scheinen, sagt die Tatsache, dass ein Auto rot ist, dennoch meist immer noch so wenig über das Auto aus, wie vor 100 Jahren.
Doch der Wahn der Zuordnung, und der Grad der Obsession mit medialen Catchphrases hat zugenommen. Wohl ein Erbe der zahlreichen „-ismen“ der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts, als einzelne Kunstströmungen noch das Wesen ihres Selbstverständnisses stets in einem Allmachtsanspruch des „Neuen“ gegenüber dem „Alten“ behaupten zu müssen glaubten, existiert heute ein unbekümmertes Nebeneinander von chillout downtempo ambient dub trip hop acid jazz melodious acoustic rock rap electro world. Doch der scheinbare Individualismus, der anfangs Vielfalt erzeugt, erweist sich im Nachhinein oft als verzeifelter Identifikationsversuch, der einem sprachlich nicht zu klassifizierenden Phänomen kaum beizukommen vermag. Im Grunde sind die unzähligen Genrebezeichnungen ein Auslaufmodell, das einem Verständnis von Musik als Gesamtkunstwerk ebenso zuwiderläuft wie der einfachen Konsumierbarkeit. Ein Auslaufmodell, dass sich in unserem Zeitalter derPolitical correctnessaber hartnäckig zu behaupten weiß.
Von ähnlichem rein historisch geprägtem Interesse ist beim Film die Bezeichnung Arthousekino, die sich dennoch als gängiger Alltagsbegriff durchgesetzt hat. Wie andere beliebte Labels (siehe „Berliner Schule“) ist mit diesem Marketing-Kunstwort eigentlich nichts ausgedrückt, und doch umfasst er scheinbar Vieles. Die skurrile Komödie aus Lateinamerika, Skandinavien, oder Osteuropa, den sozialkritischen Blick auf eine globalisierte Wirklichkeit, das „wir sind doch so verschieden aber doch alle gleich“ einer vom ewigen Mittelmaß geprägten westeuropäischen Wohlstandsschicht des kreativen Stillstands. Und in Deutschland im Grunde alle Dokumentarfilme, die die Kinoleinwand erreichen. Auf eine präzise Formel bringt Bert Rebhandel den Begriff, wenn er in seinem Beitrag in Cargo schreibt: „Arthouse-Filme sind auf eine weniger ausdrückliche Weise kommerziell, sie verzichten aber auch so weitgehend auf Formexperimente und reflexive Strategien, dass sie in der Regel problemlos zu konsumieren sind.“ Im Grunde sind Arthousefilme also der erwachsene Bruder der üblichen Multiplexfilme. Denn finanziert und hochgezüchtet werden sie meist von europäischen Förderkonzernen mit großkapitalistischen Ansprüchen. Man kann fast 100-prozentig sicher gehen, dass in jedem in Deutschalnd als Arthousefilm betitelten Kinostreifen mehr oder minder kräftig an den Fördertöpfen genascht worden ist. Mit den nationalen Filmlandschaften und den Bedürfnissen der einzelnen Filmemacher (falls sie denn welche besitzen) hat das wenig zu tun, denn geträumt wird nicht nur vom übergreifenden „Europäischen“ Film, sondern im Sinne des globalen Anspruchs vom Film, der in jedem Teil der Welt als beliebige Projektionsfläche zwischen sozialkritischer Attitüde und geschmäcklerischem Kunstersatz funktionieren kann. Wohlgemerkt in jedem zivilisierten, industrialisierten und kultivierten Teil der Erde. Mit dem Alter wird die Welt manchmal eben doch etwas größer, der Horizont erweitert sich, die Ansprüche steigen. Und es ist in bestimmten gesellschaftlichen Situationen einfach nicht gleichermaßen angebracht, über den hedonistischen Genuß der letzten kolonialistischen Superheldenfantasie zu berichten, wie zu behaupten, dass man sich in der skurrilen portugiesischen Verliererkomödie Gedanken zum Stand der gegenwärtigen Arbeiterklasse gemacht hat.
Aber Worte wie Arbeiterklasse sind im Athousesegment inzwischen ebenso verpönt wie das Signum der Unterhaltung, denn Ernst muss es klingen, auch wenn man im Grunde um der humoristischen Spitzen ins Kino gegangen ist. Meist habe ich das Gefühl die wirklich widerlichen Vertreter des Arthousekinos an ihrem Zuckerguß aus Ironie zu erkennen. Denn das beliebte Stilmittel der Distanzierung ermöglicht in diesem Fall nicht die Reflektion, sondern öffnet tatsächlich die Tür zur verantwortungsfreien Zone der bewusstseinslosen Identifikation mit dem Fremden als Eigenem. Wenn in Texten deutscher Schlager der 60er und 70er Jahre oft der wilde Italiener oder der rassige Spanier auftauchten, waren sie so Ausländisch-Deutsch wie der Mallorcabesucher im Sauerkrautzelt. Die Aneignung des Fremden im Arthousefilm verläuft über ähnliche Praktiken, sind doch der arbeitslose Brötchenbäcker aus Venezuela, oder die sympathische kasachische Prostituierte stets mit Charaktereigenschaften ausgestattet, die für den europäischen Zuschauer die erforderliche Balance zwischen erwarteter Realitätsbezogenheit und geforderter Identifikationsfläche bieten. Der gegenwärtige Arthousebrei, der die deutschen Kinos ebenso verstopft wie das amerikanische Hollywoodpendant die postindustriellen Lagerhallen des Mehrzweckgebäudes, verursacht dem Cineasten aber meist noch größere Magenkrämpfe. Heuchelei ist hierbei das Stichwort eines Konsumenten, der den Kinderschuhen entwachsen, nicht mehr in der Norma, sondern im Biosupermarkt einkaufen geht und seine Markthörigkeit und Markenabhängigkeit möglichst unter dem Deckmantel der Liberalität verstecken möchte. Im Grunde kann ein Label wie das Arthousekino nur in Gesellschaften Fuß fassen, denen es erfolgreich gelungen ist ihre Mitmenschen auszubeuten, und dennoch Solidarität zu predigen, von der Welt zu reden als hätte man sie schon zwanzigmal bereist, und dennoch immer pünktlich zu allen Konferenzterminen zu erscheinen – in Gesellschaften also, in denen der Selbstbetrug zum allgegenwärtigen Mantra geworden ist. Apolitisch im schlechtesten Sinne, spricht der Arthousefilm jeden und niemanden an, erzählt von „uns allen“ und hat doch nichts zu sagen. Natürlich gibt es auch im Arthousesediment sehenswerte Filme, die jedoch aufgrund der zwangsweisen Labelisierung kaum auf Anhieb als solche zu erkennen sind. Scheiße stinkt eben in der Masse gewaltiger, und ein frischer Lufthauch verschafft dem Erstickenden nur vorübergehend Erleichterung. Wenn also eines Tages die ganzen Multiplexe Konkurs anmelden sollten, folgt der europäische Förderungsfiskus hoffentlich direkt nach. Vom Tod des Kinos mögen dann manche reden. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mein erster Film von B-Film Legende Cirio H. Santiago hat mich gleich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Final Mission ist einer von unzähligen Vietnamfilmen die in den 80ern gedreht worden sind, verbindet hierbei aber zusätzlich noch Elemente des Polizeifilms mit einer Rachegeschichte. Im letzten Drittel geht es dann um ein Quasi-Remake des 2 Jahre zuvor entstandenen First Blood. Viel geklaut möchte man da vielleicht sagen, und in der Tat äußern sich die meisten Kommentare, über die ich im Internet gestolpert bin, hierzu auch ziemlich abfällig. Aber die Kreuzigungsszene ist in der Geschichte der Malerei auch schon tausendfach abgebildet worden, und die Notenskala lässt sich in der Musik ebenso endlos variieren. Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen habe ich prinzipiell nicht das Geringste gegen Plagiate einzuwenden. Originalität ist was man daraus macht, und wie beim Jazz ist Improvisation manchmal entscheidend. Das „Wie“ ist also wieder einmal wichtiger als das „Was“. Jedenfalls in meiner Welt. Weiterlesen “Final Mission (1984)” »
Im Western gibt es das: Ein Mann, schweigsam, sich selbst genug, in der Weite der Landschaft. Verborgen fast aber doch majestätisch. Denn er ist die Landschaft, ist Natur. Das Gesicht wie aus Stein gehauen, dem Leben abgetrotzt. Die Städte tragen Namen, sagenumwobene, Santa Fé, Colorado, Dodge City.
Die Sehnsucht nach der Stadt.
Marseille ist so ein Film, ein Großstadtwestern, unter umgekehrten Vorzeichen. Die Sehnsucht ist da, die Einsamkeit die Verzweiflung. Schweigen ist Leid geworden. Sophie (Maren Eggert) ist auf der Suche nach Artikulation. Sie fotografiert, Plätze in Städten, als würde sie ausprobieren, wie es ist ein Ort zu sein. Einfach nur zu sein, wie eine Straße, ein Baum, ein Gebäude. Räume als Zwischenräume, der Verlust von Permanenz. Die Suche nach sich selbst im Fremden produziert Bilder von uns selbst. Es geht nicht ums Entdecken, sondern um das entdeckt werden, um Heimat.
Wie der Westernheld sich manchmal die Stadt und ihre Zivilisation als verlorenes Paradies erträumt, so wird für Sophie Marseille die identitätsstiftende Projektionsfläche. Doch in der Realität muss der Traum enttäuscht werden. Was ist Marseille, was ist eine Stadt? Was sind Menschen, wie sind sie, und wieso? Das wunderbare an Schanelecs Filmen, trotz aller Strenge, trotz Formwillen und Nüchternheit, ist die ungemeine Freiheit, die im Bestehen auf Fragen verbleibt. Fragen als Lebensinhalt, Suchen als Potenz. Wenn Maren Eggert am Ende überfallen wurde, enttäuscht und verzweifelt sitzt sie da beim Verhör bei der Polizei, dann gibt es einen Moment der Erkenntnis, durch das Unvorhergesehene, durch den Schmerz und die Enttäuschung. Erst wenn die eigene Hoffnung betrogen wurde, kann sich das Leben wieder seinen Platz suchen. Am Ende gibt es den Strand, das Meer, die Figur in der Ferne. Einsam, aber nicht mehr allein. Im Leben.
Maren Eggert hat ein Gesicht wie eine Landschaft. Alles spielt sich darauf ab, in ihrer Miene die von stoischer Ruhe geprägt zu sein scheint, spiegelt sich die ganze Welt, und Sophies Unverständnis.
Wie im Western ersehnt sie den Wechsel der Identität. Angela Schanelec ist vielleicht das größte Regietalent im deutschen Film der letzten 20 Jahre. Ein Phänomen, ein Wunder. Ihre Filme sind das, was intellektuelles Kino hierzulande selten zustande brachte. Reine Emotion. Eine singuläre Vision, etwas was es vergleichbar wohl nur bei Straub und Huillet gab, jedoch ohne revolutionären Impetus, ohne Progression, ohne gesellschaftliches Bewusstsein im klassischen Sinne. Statt Äußerung gibt es Stille. Das Voranschreiten der Zeit im Vakuum der Ohnmacht.
Wenn ich gezwungen wäre den besten deutschen Film der letzten 10 Jahre zu benennen, es wäre wohl dieser.
Marseille – Deutschland, Frankreich 2004 – 95 Minuten – Regie: Angela Schanelec – Drehbuch: Angela Schanelec – Produktion: Florian Koerner von Gustorf, Michael Weber, Jörg Schneider, Antonin Dedet – Kamera: Reinhold Vorschneider, Kareem La Vaullee – Mischung: Martin Steyer – Schnitt: Bettina Böhler – Darsteller: Maren Eggert, Marie-Lou Sellem, Devid Striesow, Louis Schanelec, Emily Atef
Rund ein halbes Dutzend Western hat Budd Boetticher in der zweiten Hälfte der 50er Jahre in den USA gedreht. B-Movies, die aus heutiger Sicht jedoch eher als A-Pictures auftreten, weil sie dem mäanderndem Austattungsfilm das Bestimmte entgegensetzen, dem Ausschweifenden das Komprimierte, dem Überfluss die Klarheit. Eine Bescheidenheit, die die meist auf Überwältigung setzenden Melodramen, Komödien und Kostümfilme im amerikanischen Attraktionskino der 50er Jahre an Größe glatt übertrifft. Ein weiteres Merkmal ist jedoch die Farbe. Von Seven Men from Now (1956) bis Comanche Station (1959) sind diese Western allesamt in Farbe gedreht, entsprechen dadurch weniger dem Klischee der „typischen“ B-Western der damaligen Zeit, und orientieren sich in ihrer formalen Gestaltung eher an Shane (1952), als an Forty Guns (1957). Das Breitbildformat verhindert bei Boetticher nicht die Intimität.
Der Nähe zu seinen Protagonisten zum Trotz, hat Boetticher ein wunderbares Gefühl für den Raum, für Landschaften in die die Figuren eingebettet sind, und für die Umgebung in der sie sich zurechtfinden müssen. Scheinbar klassisch gefilmt, kommt Comanche Sation mitwenig Nahaufnahmen aus. Boetticher bevorzugt die Totale, was seinen intimen Charakterstudien etwas monumentales verleiht, dass diese sehr zeitverhafteten Filme für mich äußerst modern erscheinen lässt. Ein progressiver Filmemacher, filmt traditionelle Westerngeschichten auf eine formal so schlichte und reduzierte Art, dass die Figuren bereits im Wilden Westen aus der Zeit gefallen wirken. Vielleicht macht dass die Kollaborationen von Randolph Scott und Boetticher auch emotional so effektiv. Die melancholischen Helden leben in einer Zeit, die ihre Auffassung von Moral und Gerechtigkeit nicht teilt. Aber Gut und Böse gibt es trotzdem nicht. Der einsame Protagonist lebt unter Menschen – unter Seinesgleichen.
Was heute veraltet wirkt sind die Holywoodkonventionen die dennoch bestand haben, und dadurch den Unterschied und Zwiespalt zwischen Boetticher und dem Studiosystem noch betonen. Boettichers Qualitäten liegen im Beobachten, im beinahe improvisierten dahingleiten der Momente zwischen den sogenannten Ereignissen. Wenn er der Handlung nicht direkt folgt, treten seine Qualitäten als Filmemacher am stärksten zu Tage. Daher auch die wunderbaren Vorspänne, in denen der Protagonist in den Film hineinreitet, und genauso zufällig auf die Story stößt wie Boetticher selbst. Die Ereignisse kommen von allein. Dennoch beweist er gegen Ende seiner Karriere, (denn trotz seiner knapp 40 Jahre, hat Boetticher über die 50er hinaus nur noch eine Hand voll Projekte verwirklichen können), auch große Geschicklichkeit als Erzähler. Waren z.B. bei Behind Locked Doors (1948) die beiden Hälften des Films für mein Verständnis noch etwas auseinander gefallen – nachdem die brillante Einführung der Figuren den Regeln des B-Films gemäß zugunsten eines konventionellen Kriminalplots zum Abschluß gebracht werden musste – bringt er die Dynamik von Stillstand und Bewegung, Charakterstudie und Aktionskino, in Comanche Station zu einer vollkommenen Symbiose. Dass man nichts forcieren muss, weil alles schon da ist, das ist die Weisheit der ganz großen Stilisten. Es ist wirklich verblüffend mit welcher Souveränität und Beiläufigkeit die komplexesten Sachverhalte komprimiert zu Füßen des Zuschauers gelegt werden. Alles liegt offen zu Tage. Nichts bleibt verborgen. Und doch behalten die Filme ihre Würde und ihr Geheimnis. Wie die Verkörperungen von Randolph Scott, bleiben diese Filme auf ihre Art autonom und unantastbar. Erwachsen.
Eigentlich müsste an dieser Stelle meine aktualisierte Liste von 100 Lieblingsfilmen stehen. Als ich letztes Jahr etwa zur gleichen Zeit zum ersten Mal dieses Unterfangen beendet hatte, war mein Vorhaben die Liste jährlich zum Frühlingsanfang zu aktualisieren. Als ich mich jedoch vor ca. 2 Monaten daranmachte, verließ mich schnell die Lust. In einem Jahr hatte sich bei mir nicht viel geändert, und zwar wären wohl um die 30 Filme rausgeflogen, doch wirklich Neues (sprich zum ersten mal Gesehenes) wäre nicht viel dabei gewesen. Ich sehe im Schnitt eben nicht mehr als 400 Filme im Jahr, und da passiert nicht unbedingt immer viel Spannendes. Daher entschloss ich mich ein altes Projekt von mir wiederaufleben zu lassen. Meine 100 Lieblingsregisseure. Als Listenfetischist hatte ich einen ersten Versuch bereits 2005 gestartet, und seitdem tatsächlich noch 2 weitere Updates durchgeführt, den letzten im Februar 2008. Daher wird es die kommenden Jahre immer im Wechsel jeweils eine Liste mit 100 Filmen, und eine Liste mit 100 Filmemachern geben. Ist einfach Abwechslungsreicher und macht mir mehr Spaß.
Warum macht man Listen überhaupt? Für mich persönlich ist das eine Art Tagebuch, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrem Einfluss auf die Gegenwart. Ich weiß nämlich bevor ich mit einer Liste anfange meist gar nicht wie sie am Ende aussehen wird. Natürlich habe ich so meine Vermutungen, aber im Endeffekt lässt sich vorher weniger abschätzen als man vermuten würde. Dieses mal, hatte ich zunächst eine Shortlist von knapp 300 Filmemachern zusammengestellt. Daraufhin folgte die Recherche über die exakte Anzahl der gesehenen Filme, und danach ein mehrwöchiges und stundenlanges Hin- und Hergeschiebe zwischen den Platzierungen. Daher bin ich am Ende meist genauso überrascht wie manch Anderer, wenn ich die Liste nach Fertigstellung genauer betrachte. Bei Jean-Luc Godard hätte ich z.B. vermutet, dass er es diesmal nicht unter die ersten 100 schafft (100 Filmemacher aus den persönlichen Favoriten auszuwählen ist für mich eine ebenso schwierige Aufgabe wie das Einstampfen auf 100 Filme), und er ist sogar auf Platz 12(!) gelandet. Das ich Jacques Doillon und Michael Mann (Platz 7 und 11) inzwischen derart schätze hätte ich auch nicht vermutet, und dass ein ehemaliger „Topfavorit“ wie Antonioni, dessen Tod mich vor 3 Jahren noch so stark erschüttert hatte wie selten ein cineastisches Ereignis zuvor, komplett aus den ersten 100 Plätzen verschwinden könnte, hätte ich davor nicht geahnt. Listen sind für mich also stark subjektiv und zeitverhaftet, und ermöglichen es mir mehr Klarheit über meine momentanen Vorlieben zu erhalten, sowie die ständigen Veränderungen als Filmliebhaber zu registrieren. Listen sind für mich daher niemals in Stein gemeißelt, sondern ebenso flüchtig und unberechenbar wie das Leben selbst. Ein Schnappschuß sozusagen.
Trotz seiner Verankerung in der Genre-Tradition, mit Gothic-Schloss, Mad Scientist, Frankenstein-Mythos, Sexploitation und einigen inszenatorischen Einfällen, die ganz unabhängig von der darstellerischen Besetzung an den frühen Jess Franco erinnern, umweht diesen Film in all seiner Konsequenz und Eigenwilligkeit etwas absolut Genuines, nicht nur im Kontext seiner Entstehungszeit. Die Mischung aus humoristischen und melodramatischen Momenten in einem Horrorfilm ist im Grunde nichts Ungewöhnliches, auch die Durchmischung von Gegenwart und Vergangenheit ist ein alter Hut. Doch wie so oft geht es hier nicht darum, was gezeigt wird, sondern wie es gezeigt wird. In seinen interessantesten Momenten wirkt der Film beinahe wie ein Vorläufer von Walerian Borowczyks LA BÊTE (1974), gepaart mit Farbspielen und dramaturgischen Wendungen eines Melodrams von Douglas Sirk, im Umfeld eines europäischen Sexfilms und einer deutschen Komödie der 60er Jahre. Die wundersam prolongierten OP-Szenen geben zusätzlich noch einen Vorgeschmack auf den Body-Horror à la Cronenberg, und betonen gegen Ende noch einmal den surrealistischen Kern des Films.
Wenn man sich mit den Einflüssen des Surrealismus auf den deutschen Film beschäftigen will, kommt man an IM SCHLOSS DER BLUTIGEN BEGIERDE kaum vorbei. Das Gefühl zeitlicher Entrücktheit setzt bereits direkt nach dem Prolog des Films auf einer eher typischen 60er Jahre Party ein. Die Diffusion von verschiedenen Zeitebenen wird dabei auch musikalisch von einer wunderbar verspielten Musik, zwischen orchestralen Klängen, Jazz und „typischer“ Krimimusik der 60er, forciert. Ein eklektizistischer Film im wahrsten Sinne des Wortes, ist IM SCHLOSS DER BLUTIGEN BEGIERDE noch am ehesten mit Paul Morrisseys fünf Jahre später entstandenem FLESH FOR FRANKENSTEIN vergleichbar, für den er wohl eine Art Blaupause darstellt. Der Anspielungs- und Ideenreichtum ist bei beiden Filmen schier unerschöpflich. Doch geht FLESH FOR FRANKENSTEIN im direkten Vergleich schlussendlich einen Schritt weiter ins Groteske, während IM SCHLOSS DER BLUTIGEN BEGIERDE den entrückten Zustand des Gothic Horror betont, und am Ende sogar noch inszenatorische Anklänge beim melancholischen Ernst von Jean Rollin findet.
Einzigartig macht den Film letztendlich diese für eine deutsche Produktion ungemein stilisierte Kombination aus Trieb, Wahn und Prüderie, eingefügt in einen Krimiplot, wie er auch in der Edgar-Wallace-Reihe gut vorstellbar wäre. Doch Hoven geht immer ein Stück weiter, als man vermuten könnte, und überschreitet lustvoll Geschmacksgrenzen – ob in den minutenlangen, ausgesprochen blutig-expliziten OP-Szenen (mutmaßlich mit eingefügten Bildern einer echten Herz-Operation) oder dem ungenierten Ausspielen von Anzüglichkeiten und Metaphern auf Ebene von Bild und Ton, im Verhalten und in der Sprache der Figuren. Ohne vor Plattheiten zurück zu schrecken, wird dem Zuschauer konsequent zu viel des Guten verabreicht. Der Schnitt betont dabei die Irrealität der Szenerie und in der teils wüst zwischen Handlungsorten wechselnden Montage, die schon mal Schlag auf Schlag Herz-Operation, sexuelle Verführung und den unvermittelten Angriff eines Bären in einen direkten Bezug setzt, spiegelt sich auch die Austauschbarkeit der Figuren und ihre Bedeutungslosigkeit in diesem eigentümlichen Schloss der seltsamen Umtriebe. Im nur notdürftig unterdrückten Exzess wild durchmischter Ideen und Inspirationen treffen Camp und Kitsch, Krudes und Kontrolliertes, Genre und Exploitation, Struktur und Ausbruch aufeinander und gehen eine wild wuchernde, absonderlich-schöne Symbiose ein.
Im Schloß der blutigen Begierde – BRD 1968 – 80 Minuten – Regie: Adrian Hoven – Drehbuch: Adrian Hoven, Eric Martin Schnitzler – Produktion: Pier A. Caminnecci, Adrian Hoven – Kamera: Jorge Herrero, Franz Hofer – Musik: Jerry van Rooyen – Darsteller: Janine Reynaud, Howard Vernon, Michel Lemoine, Elvira Berndorff, Claudia Butenuth, Jan Hendriks.
Hinweis: Die Nummerierung der Filme folgt lediglich der Reihenfolge der Einträge. Die Gesamtauswahl von 100 Filmen ist nicht redaktionell abgestimmt, sondern eine im Laufe der Veröffentlichung zufällig entstehende Zusammenstellung, die sich aus den Einzelbeiträgen und persönlichen Vorlieben der Teilnehmer ergibt.