Geborgte Filme – endlich gesehen! #2: Tenebre (1982)



Als ich Tenebre dank eines guten Freundes zum ersten Mal als DVD-Beam auf der Kinoleinwand bewundern durfte, war das erst mein dritter oder vierter Film von Dario Argento, einem der Schutzheiligen des italienischen Genrefilms. Mein erster Argentofilm war bereits Jahre zuvor seine von Produzentenseite völlig zerstückelte Neuinterpretation des Phantom der Oper-Stoffes Il fantasma dell’opera (1998) gewesen, der zum damaligen Zeitpunkt unter Filmfans als schlechtester Argentofilm überhaupt galt (eine Einschätzung die sich inzwischen leider stark gewandelt hat). Ich liebte den Film. Ich erinnere mich noch wie mein Staunen sich zur Überzeugung formte, hier etwas völlig Neuartiges zu erblicken. „So hätten Filme im 19. Jahrhundert ausgesehen“ war in etwa mein Gedanke, wobei mich wohl vor allem die schwebende Kamera in ihren Bann zog. So genau weiß ich das leider nicht mehr (damals war ich wesentlich Filminteressierter als heute, und machte mir bei der Sichtung auch entsprechend mehr Gedanken), aber ich erinnere mich noch genau an das Gefühl einem Regisseur begegnet zu sein, der eine einzigartige Vision vom Kino hat. Wie zunächst Tarkowskij, Chaplin oder Kubrick, oder inzwischen auch Zulawski und Borowczyk, ist Argento für mich einer jener Filmemacher die dem Kino seine Möglichkeiten vor Augen führen, das Unergründliche zum Vorschein bringen, ohne dass es dadurch wirklich greifbarer werden würde. Die Tatsache, dass der Filmemacher die Welt mit der Kamera erschafft, durch den Sucher blickend, dass Film BILD ist, aber eben beweglich, sich verflüchtigend, paradox wie das Leben selbst, exemplifiziert sich für mich in der Welt dieser Voyeure, denn nichts anderes sind die meisten der größten Filmemacher für mich, jeweils auf ihre eigene Art. Der Blick des Voyeurs fetischisiert das Objekt, und durch die Kameralinse wird die Welt immer Fetisch, egal ob bei Bergman oder Spielberg. Das Wissen wollen, der Drang nach Erkenntnis, zeigt sich bei Argento im Beharren auf dem Blick, dem Blick in all seiner sinnlichen und intellektuellen, seiner umfassenden Form. Der Blick ins Unbekannte durchdringt die Gegenstände ohne dass er sie definiert. Erfahrung als Moment, als etwas das nur erlebbar, nicht begreifbar ist. Die Intensität speist sich hierbei aus der Phantasie. Denn wie der Fetisch selbst nur im Kopf des Betrachters zu sich selbst kommt, öffnen sich die Filme Argentos nur dem beharrenden Auge. Eine wiederholte Sichtung  ist daher immer eine Steigerung der Wahrnehmung, der Komplexität, der Vielfalt des Blicks, wobei der Blick hierbei nicht nur das Auge als Organ, sondern das Auge als Körper meint.

Bei der ersten Sichtung hat mir Tenebre nicht so sehr gefallen wie die zuvor gesehenen Filme von Argento. Zu kühl, zu klinisch, und zu unspektakulär erschien mir die scheinbare Simplizität eines zeitverhafteten Thrillers im Vergleich zum barocken Überschwang der bis dahin erlebten märchenhaften Geschichten. Irgendetwas fehlte, der Film wirkte für mich einerseits leer, und andererseits überkonstruiert. Bei wiederholter Sichtung erschloß sich mir der szenische Aufbau jedoch viel deutlicher: wie Perlen an einer Kette reiht Argento meist gleichwertige, voneinander unabhängige Sequenzen aneinander, die im Gesamtbild ein Möbiusband ergeben, an dem das Ende wieder am Anfang steht. Der Look scheint stark von frühen 80er Jahre Filmen wie Possession (1981) inspiriert zu sein, und weist in seiner Farbsetzung an eine gestaffelte Inszenierung von flächigen Bildschichten hin. Was bei Argento aber immer auch eine besondere Betrachtung verdient ist sein Umgang mit Ton. Oft als Schwäche oder mangelnde Perfektion interpretiert, ist seine Affinität zu einer Ästhetik des Stummfilm, bei dem die Töne wie die Tasten eines Klaviers über die Bilder gelegt worden sind, eines der auffälligsten Merkmale seiner Filme. Sätze, Schritte, Atmen, Schreie, auch die Musik, wirken seltsam Andersartig, immer etwas unpassend, leicht versetzt. Was dem Anschein nach primär der italienischen Technik der Nachsynchronisation angelastet werden könnte, und sich auch in zahlreichen anderen italienischen Filmen der damaligen Zeit in ähnlicher Weise wiederfindet, funktioniert bei Argento aber auf eine einzigartige Weise. Indem das Artifizielle, das Gemachte dieser Geräusche Betonung findet, werden die Bilder zusätzlich überhöht und der gewohnten Sphäre des „Realen“ entrückt. Wie in der Metaphysik üblich, stellt sich dadurch die Frage des Realen selbst im gewöhnlichsten Kontext permanent. Der ebenso oft bemängelte und scheinbar arbiträr eingesetzte Humor wirkt in diesem Kontext als Verfremdungselement, das den Film nicht auflockert, sondern den Widerspruch zwischen den einzelnen Szenen noch verstärkt. Als würde man den Teufel lachen hören.

Von zentraler Bedeutung ist in Tenebre, wie in vielen anderen von Argentos Filmen, aber auch die Paranoia. Paranoid sind zumindest die Hauptfiguren, und entweder es gelingt ihnen die eigenen Störungen auf eine äußere Figur zu verlagern, oder sie werden zu Opfern ihrer Selbst. Der Täter ist bei Argento immer das Spiegelbild des Opfers, die unaussprechliche Tat immer eine, derer jeder fähig ist. Wenn bei ihm so oft das Böse als eine Kraft an sich thematisiert wird, ist sie nie etwas vom Menschen Losgelöstes, aber auch nie etwas das durch seine Darstellung erfasst werden könnte. Die Abbildung ist nur eine Abbildung, Moral ein Konstrukt, und der Akt des Tötens ebenso ein Weg der Freiheit wie einer der Beschränkung. Ästhetisierung des Tötens wurde Argento vorgehalten, der Effekt um des Effektes willen. In unserer zivilisierten Kultur, in der das Unheimliche bevorzugt durch eine Leerstelle, durch seine Abwesenheit charakterisiert werden soll, ist jemand wie Argento der es abzubilden versucht natürlich der Voodoozauberer im Universitätsklinikum. Nichtsdestotrotz ist das Kindliche, das Naive, das Abseitige, ebenso ein Quell der Erkenntnis und der Begegnung wie das logisch-rationale. Durch die Abbildung Gottes verliert selbiger nicht weniger an Faszination, sondern wird im Gegensatz als Wirken des menschlichen Geistes offenbar. Im Kino von Dario Argento sitzen wir wirklich noch im Kino, und sind damit der Realität ebenso Nahe wie im Dokumentarfilm, denn das Abbild des Außen verweist unweigerlich auf das Innen.

Tenebre ist ein Film über menschliche Perversionen und ihren Effekt auf die Welt – jedoch nur aus Sicht des Perversen betrachtet.

Dieser Beitrag wurde am Montag, Juni 14th, 2010 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

4 Antworten zu “Geborgte Filme – endlich gesehen! #2: Tenebre (1982)”

  1. Der Halunke on Juli 2nd, 2010 at 15:58

    Toller Essay! Es ist nicht einfach, die Kunst von Dario Argento in Worte zu fassen… zu viele Aspekte, die berücksichtigt werden müssen, zu viele Facetten… interessant, der Vergleich mit „Possession“. Und gleichzeitig deprimierend, wenn man bedenkt, dass so jemand wie Pascal Laugier beide Filme als Inspiration für seinen unsäglichen „Martyrs“ nennt…

    Bei der ersten Sichtung von „Tenebre“ ging es mir übrigens ähnlich wie dir. Ich hatte bis dato auch wenige Argento-Filme gesehen, und „Tenebre“ hatte für mich damals einfach nicht die Klasse von „Profondo Rosso“ und „Suspiria“. Heute sehe ich das natürlich ganz anders.
    Für mich war er ein eher konventioneller Krimi mit extremer Gewalt. Erst nach mehreren Sichtungen entfalteten sich die anderen Aspekte (u.a. auch der Plot, der auf den ersten Blick simpel, aber eigentlich recht komplex und clever ist).

    Mich stören ja vor allem die typischen einseitigen Internet-Kritiken, die Argento immer auf dieselben Nenner bringen wollen: Gewalt, Mysogynie, Atmosphäre, „hanebüchene“ Plots.

    Nicht, dass diese Elemente nicht da wären, aber die Unfähigkeit über den Tellerrand zu schauen, die Unfähigkeit, diese Elemente mit anderen in Verbindung zu setzen, ist doch ärgerlich.
    Da merkt man, dass Argento eher als Genre-Regisseur denn als Künstler wahrgenommen wird. Er ist nun mal beides, und das verstehen viele nicht.

    Gruß
    Sven

  2. Sano on Juli 2nd, 2010 at 17:21

    Tja, was als Inspiration dient ist eben oft unerreichbar. Wenn man sich Interviews mit manchen C-Filmern durchliest, findet man auch die jeweiligen Klassiker der Filmkunst vertreten. Da ist dann zwischen Ed Wood und Theo Angelopoulos kaum ein Unterschied zu finden – das Wunder der Cinephilie. 😉

    Argento ist in der Tat ein Paradebeispiel eines Regisseurs, der sich nicht als Genrefilmer definieren lässt, obwohl er klar innerhalb solcher Strukturen arbeitet, und Vieles bedient. Er ist aber auf seine Art nicht nur sehr innovativ, sondern auch so obsessiv mit bestimmten Thematiken verbunden, dass er in einem eigenen Bereich arbeitet, den ich hier mal etwas hilflos als „Bataillesches“ Kino beschreiben würde (also partiell etwas ähnliches wie Zulawski und De Palma, und wohl in etwa zwischen den beiden positioniert). Er hat auf jeden Fall so starke Obsessionen, dass er ähnlich wie manch anderer Ausnahmeregisseur schwer zu kategorisieren ist. Im Grunde sind die Filmemacher die mit am stärksten Genreelemente bedienen, oft diejenigen, die daraus etwas völlig Neues kreieren. Lucio Fulci wäre wohl so jemand in Italien, und – um bei meinen Vorlieben zu bleiben – in Hong Kong wären das für mich zum Beispiel Cheh Chang oder King Hu, die für mich wie Argento zum Besten gehören, was man im Kino überhaupt zu sehen bekommt. Wie Tarkowskij oder Bresson sind diese Filmemacher visionär.

    Klar gibt’s bei Argento Gewalt, Misogynie, und hanebüchene Plots. Das sind alles sehr wichtige Elemente seiner Filme, und drei Gründe warum die Filme so großartig sind. Man muss sich eben auf die spezifischen Konventionen von Argento einlassen, und darf nicht vermeintlich Allgemeine einfordern. Im Grunde gilt das ja für alle Künstler. Dass da im Internet neben manchem Lob auch immer viel Stirnrunzeln zu finden ist, spricht für mich inzwischen für Argento, und zeigt, was er dem Zuschauer immer wieder abverlangt.

    Ich stelle mir Argento oft staunend vor seinem eigenen fertigen Film sitzend vor, und vermute, dass sein Ansatz viel mit „automatischem Schreiben“ zu tun hat. Man ist selbst immer wieder überrascht, was einen im Leben so beschäftigt… 🙂

  3. Der Halunke on Juli 11th, 2010 at 19:10

    Was „Tenebre“ auch noch eine Sonderstellung verleiht, ist die (indirekte) autobiographische Komponente des Stoffes.
    Argento schrieb das Drehbuch allein (was so oft auch nicht vorkam), und er behandelte darin ein seltsames Erlebnis. Ein Fan, der „Suspiria“ gesehen hat, sprach ihn immer wieder drauf an, wie sehr ihn der Film verändert hätte, etc. Irgendwann hat sich der Kerl so reingesteigert, dass er anfing, Argento zu bedrohen. Der Fan verwandelte sich in einen Stalker.

    Das hat Argento wahrscheinlich ein Gefühl dafür vermittelt, wie stark Kunst sein kann, und wie unkontrollierbar und unvorhersehbar sie eigentlich ist.

  4. Sano on Juli 13th, 2010 at 14:43

    Ja, die Figur des Schriftstellers ist sehr vielschichtig angelegt. Er escheint oft souverän und lächerlich in einem, modern und konservativ, verspielt und ernst. Und was der Zuschauer davon halten soll bleibt ihm überlassen. Wenn man die Figur als Alter Ego Argentos liest, ergeben sich viele Einblicke in die eigenen Vorstellungen nicht nur über Moral und Gewalt, sondern auch darüber, wie wir Personen betrachten, die diese Diskurse mit hervorbringen. Fragen über Autorschaft, Starkult, im Grunde viele Fragen mit schizophrener Ausrichtung. Ein wichtiger Aspekt, auf den ich bei meiner Kritik nicht eingegangen bin, und sicher einer DER Hauptgründe, warum der Film so gut funktioniert, und auch bei wiederholter Sichtung eher einem Möbiusband gleicht, als einer narrativ logischen aufeinanderfolge von Ereignissen. Tenebre hat vieles von dem, was Lynch später mit Twin Peaks, Lost Highway und Mulholland Dr. versucht hat.

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