Chinatown erleben

Es gab für mich bisher bisher 2 Möglichkeiten Roman Polanskis Chinatown (1974) zu erleben. Den Film zu sehen, oder separat Jerry Goldsmiths wunderbaren Soundtrack zu genießen (den er angeblich innerhalb von 10 Tagen abschließen musste, da er gegen Ende des Projekts kurzfristig als Ersatzkomponist einsprang). Nun habe ich eine dritte Möglichkeit entdeckt: Jim Emersons Video-Essay, der über 7 Minuten ohne Kommentar Film und Musik ineinandergreifen lässt, und komprimiert nocheinmal die Essenz des Films sinnlich erlebbar macht.


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Vorschau Filmfest München: SHIT YEAR (Cam Archer)



SHIT YEAR ist ein Film des amerikanischen Independentregisseurs Cam Archer, sein zweiter Spielfilm nach dem von Gus van Sant produzierten WILD TIGERS I HAVE KNOWN, der 2006 seine Premiere auf dem Sundance Festival feierte. Seitdem entwickelte der Film sich zu einem kleinen Independent-(Festival-)Hit, der im Juni 2008 von Salzgeber sogar einen kleinen deutschen Kinostart und eine anschließende DVD-Veröffentlichung spendiert bekam. Näheres zu TIGERS hier und hier, einen ersten Eindruck vermittelt auch der Trailer:



SHIT YEAR (zu dem es leider noch keinen Trailer gibt) scheint noch einmal ein ganzes Stück experimenteller geworden zu sein. Der Film wurde auf 16mm und in Schwarz-Weiß gedreht und handelt, so liest man, von einer erfolgreichen Schauspielerin, die ihre Karierre aufgibt und sich in ihre Haus in die Berge zurückzieht – und in der dortigen Isolation feststellt, dass sie mit ihrer Schauspiellaufbahn auch sich selbst aufgegeben hat.

Oder wie Archer selbst es im Interview mit dem „Filmmaker Magazine“ äußert:

„After making Wild Tigers I Have Known, the first [movie], I started to feel disenchanted by the creative process. I started thinking, what would it be like if I stopped making art. How would that affect my identity? Would I now mean something else? Do I define my work, or does my work define me? Could I exist without it? What I am getting out of it any more? I started to feel that it was losing the thrill that it once had [for me]. I had been obsessed, and I was starting to feel burdened, and that was shitty. I knew I didn’t want to make a movie about a filmmaker [to explore these ideas], but an actress seemed more interesting to me — someone who is already stepping into other identities and removing themselves from themselves. And then I thought, what if that actress is retiring?“ (…) Mehr

Die Hauptrolle in SHIT YEAR spielt Ellen Barkin („played to perfection“ – Variety), die in Deutschland leider nicht so bekannt ist wie in den USA – am Ehesten kennt man sie vielleicht noch aus THE BIG EASY (aber auch aus Solondz‘ PALINDROMES, aus Hills JOHNNY HANDSOME, aus Jarmuschs DOWN BY LAW). Auch mit Blick auf ihre eigene Karriere eine sicher interssante Besetzung.

Jay Weissberg schwärmt in „Variety“ weiter vor allem über die Kameraarbeit:

„Together with d.p. Aaron Platt, he’s [Cam Archer] created a world of striking images that combine elements from such black-and-white photographic masters as Garry Winogrand and Ansel Adams.“

Insgesamt scheint SHIT YEAR in Cannes durchaus gemischt aufgenommen worden zu sein (siehe z.B. Eric Kohn bei Indiewire), es gibt sogar Berichte, dass während den Vorstellungen nicht wenige den Saal verlassen hätten (was in Cannes ja eigentlich nie ein schlechtes Zeichen ist). Für mich klingt SHIT YEAR zunächst aber nach einer sehr spannenden Kombination aus formalem Experimentierwillen und sehr persönlich-reflektivem Inhalt – genug um mir den Film anzusehen.

Links:
SHIT YEAR beim Filmfest München
Ellen Barkin-Porträt der „New York Times“ (von 1993)

Geborgte Filme – endlich gesehen! #2: Tenebre (1982)

Als ich Tenebre dank eines guten Freundes zum ersten Mal als DVD-Beam auf der Kinoleinwand bewundern durfte, war das erst mein dritter oder vierter Film von Dario Argento, einem der Schutzheiligen des italienischen Genrefilms. Mein erster Argentofilm war bereits Jahre zuvor seine von Produzentenseite völlig zerstückelte Neuinterpretation des Phantom der Oper-Stoffes Il fantasma dell’opera (1998) gewesen, der zum damaligen Zeitpunkt unter Filmfans als schlechtester Argentofilm überhaupt galt (eine Einschätzung die sich inzwischen leider stark gewandelt hat). Ich liebte den Film. Ich erinnere mich noch wie mein Staunen sich zur Überzeugung formte, hier etwas völlig Neuartiges zu erblicken. „So hätten Filme im 19. Jahrhundert ausgesehen“ war in etwa mein Gedanke, wobei mich wohl vor allem die schwebende Kamera in ihren Bann zog. So genau weiß ich das leider nicht mehr (damals war ich wesentlich Filminteressierter als heute, und machte mir bei der Sichtung auch entsprechend mehr Gedanken), aber ich erinnere mich noch genau an das Gefühl einem Regisseur begegnet zu sein, der eine einzigartige Vision vom Kino hat. Wie zunächst Tarkowskij, Chaplin oder Kubrick, oder inzwischen auch Zulawski und Borowczyk, ist Argento für mich einer jener Filmemacher die dem Kino seine Möglichkeiten vor Augen führen, das Unergründliche zum Vorschein bringen, ohne dass es dadurch wirklich greifbarer werden würde. Die Tatsache, dass der Filmemacher die Welt mit der Kamera erschafft, durch den Sucher blickend, dass Film BILD ist, aber eben beweglich, sich verflüchtigend, paradox wie das Leben selbst, exemplifiziert sich für mich in der Welt dieser Voyeure, denn nichts anderes sind die meisten der größten Filmemacher für mich, jeweils auf ihre eigene Art. Der Blick des Voyeurs fetischisiert das Objekt, und durch die Kameralinse wird die Welt immer Fetisch, egal ob bei Bergman oder Spielberg. Das Wissen wollen, der Drang nach Erkenntnis, zeigt sich bei Argento im Beharren auf dem Blick, dem Blick in all seiner sinnlichen und intellektuellen, seiner umfassenden Form. Der Blick ins Unbekannte durchdringt die Gegenstände ohne dass er sie definiert. Erfahrung als Moment, als etwas das nur erlebbar, nicht begreifbar ist. Die Intensität speist sich hierbei aus der Phantasie. Denn wie der Fetisch selbst nur im Kopf des Betrachters zu sich selbst kommt, öffnen sich die Filme Argentos nur dem beharrenden Auge. Eine wiederholte Sichtung  ist daher immer eine Steigerung der Wahrnehmung, der Komplexität, der Vielfalt des Blicks, wobei der Blick hierbei nicht nur das Auge als Organ, sondern das Auge als Körper meint. Weiterlesen…

Tod der Arthouse!

 

Beim Lesen eines Artikels in der neuen Ausgabe von Cargo, ist mir mal wieder eines der großen Übel der gegenwärtigen Filmlandschaft über den Weg gekrochen. Nein, ich spreche nicht vom Multiplex. Aber im Grunde vielleicht doch, denn es geht um ein sehr ähnliches Problem. Dem allgegenwärtigen Formatierungswahn unserer Mediengesellschaft sind inzwischen ja bekanntlich keine Grenzen mehr gesetzt. Alles muss abgemessen, gewogen und kategorisiert werden, und auch beim Film lässt sich eine Tendenz ablesen, die die Musikbranche für mich schon längst zum abschreckenden Beispiel hat mutieren lassen. In unserer heutigen Welt kann jede Rand/gruppe ihr eigenes Süppchen kochen. Die Schwulen, die Schwarzen, die Feministen, die Nazis, die Politiker, die Freunde der Wale, des Eichhörnchens, oder der Fledermaus. Aber bitte nicht die Anderen damit belästigen. Ich stelle mir einen Arbeiter im 19. Jahrhundert vor, der sich fragt was er denn gerade liest? Einen Gesellschaftsroman, ein Theaterstück oder eine Kriminalgeschichte. In unsere heutige Zeit versetzt, würde er sich wohl fragen, warum ihn scheinbar nichts mehr angeht, weil er nicht zu der und der Gruppierung zu zählen ist. Über Migranten können scheinbar nur Politiker und die Migranten selbst reden. Ein bisschen mehr Glück hat man vielleicht als Rollstuhlfahrende schwarze Lesbierin mit S/M-Fetisch. Da kann man dann in mehreren Bereichen mitreden. Ich gebe zu, selbst in der Malerei gab es recht lange Unterscheidungen in Kategorien wie Portrait, Landschaft oder Stilleben. Kategorien, die aus der Funktion von Kunstwerken erwachsen sind, und was damals galt, gilt zum Teil auch heute. Doch Funktion heißt nicht automatisch Sinnhaftigkeit. Wenn in der Post-Post-Post-Moderne des 21. Jahrhunderts die Kategorien längst aufgeweicht sind, und vieles was früher unvorstellbar gewesen wäre gesellschaftlich erlebte Wirklichkeit geworden ist, wobei den Möglichkeiten immer weniger Grenzen gesetzt zu sein scheinen, sagt die Tatsache, dass ein Auto rot ist, dennoch meist immer noch so wenig über das Auto aus, wie vor 100 Jahren.




Doch der Wahn der Zuordnung, und der Grad der Obsession mit medialen Catchphrases hat zugenommen. Wohl ein Erbe der zahlreichen „-ismen“ der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts, als einzelne Kunstströmungen noch das Wesen ihres Selbstverständnisses stets in einem Allmachtsanspruch des „Neuen“ gegenüber dem „Alten“ behaupten zu müssen glaubten, existiert heute ein unbekümmertes Nebeneinander von chillout downtempo ambient dub trip hop acid jazz melodious acoustic rock rap electro world. Doch der scheinbare Individualismus, der anfangs Vielfalt erzeugt, erweist sich im Nachhinein oft als verzeifelter Identifikationsversuch, der einem sprachlich nicht zu klassifizierenden Phänomen kaum beizukommen vermag. Im Grunde sind die unzähligen Genrebezeichnungen ein Auslaufmodell, das einem Verständnis von Musik als Gesamtkunstwerk ebenso zuwiderläuft wie der einfachen Konsumierbarkeit. Ein Auslaufmodell, dass sich in unserem Zeitalter der Political correctness aber hartnäckig zu behaupten weiß.



Von ähnlichem rein historisch geprägtem Interesse ist beim Film die Bezeichnung Arthousekino, die sich dennoch als gängiger Alltagsbegriff durchgesetzt hat. Wie andere beliebte Labels (siehe „Berliner Schule“) ist mit diesem Marketing-Kunstwort eigentlich nichts ausgedrückt, und doch umfasst er scheinbar Vieles. Die skurrile Komödie aus Lateinamerika, Skandinavien, oder Osteuropa, den sozialkritischen Blick auf eine globalisierte Wirklichkeit, das „wir sind doch so verschieden aber doch alle gleich“ einer vom ewigen Mittelmaß geprägten westeuropäischen Wohlstandsschicht des kreativen Stillstands. Und in Deutschland im Grunde alle Dokumentarfilme, die die Kinoleinwand erreichen. Auf eine präzise Formel bringt Bert Rebhandel den Begriff, wenn er in seinem Beitrag in Cargo schreibt: „Arthouse-Filme sind auf eine weniger ausdrückliche Weise kommerziell, sie verzichten aber auch so weitgehend auf Formexperimente und reflexive Strategien, dass sie in der Regel problemlos zu konsumieren sind.“ Im Grunde sind Arthousefilme also der erwachsene Bruder der üblichen Multiplexfilme. Denn finanziert und hochgezüchtet werden sie meist von europäischen Förderkonzernen mit großkapitalistischen Ansprüchen. Man kann fast 100-prozentig sicher gehen, dass in jedem in Deutschalnd als Arthousefilm betitelten Kinostreifen mehr oder minder kräftig an den Fördertöpfen genascht worden ist. Mit den nationalen Filmlandschaften und den Bedürfnissen der einzelnen Filmemacher (falls sie denn welche besitzen) hat das wenig zu tun, denn geträumt wird nicht nur vom übergreifenden „Europäischen“ Film, sondern im Sinne des globalen Anspruchs vom Film, der in jedem Teil der Welt als beliebige Projektionsfläche zwischen sozialkritischer Attitüde und geschmäcklerischem Kunstersatz funktionieren kann. Wohlgemerkt in jedem zivilisierten, industrialisierten und kultivierten Teil der Erde. Mit dem Alter wird die Welt manchmal eben doch etwas größer, der Horizont erweitert sich, die Ansprüche steigen. Und es ist in bestimmten gesellschaftlichen Situationen einfach nicht gleichermaßen angebracht, über den hedonistischen Genuß der letzten kolonialistischen Superheldenfantasie zu berichten, wie zu behaupten, dass man sich in der skurrilen portugiesischen Verliererkomödie Gedanken zum Stand der gegenwärtigen Arbeiterklasse gemacht hat.



Aber Worte wie Arbeiterklasse sind im Athousesegment inzwischen ebenso verpönt wie das Signum der Unterhaltung, denn Ernst muss es klingen, auch wenn man im Grunde um der humoristischen Spitzen ins Kino gegangen ist. Meist habe ich das Gefühl die wirklich widerlichen Vertreter des Arthousekinos an ihrem Zuckerguß aus Ironie zu erkennen. Denn das beliebte Stilmittel der Distanzierung ermöglicht in diesem Fall nicht die Reflektion, sondern öffnet tatsächlich die Tür zur verantwortungsfreien Zone der bewusstseinslosen Identifikation mit dem Fremden als Eigenem. Wenn in Texten deutscher Schlager der 60er und 70er Jahre oft der wilde Italiener oder der rassige Spanier auftauchten, waren sie so Ausländisch-Deutsch wie der Mallorcabesucher  im Sauerkrautzelt. Die Aneignung des Fremden im Arthousefilm verläuft über ähnliche Praktiken, sind doch der arbeitslose Brötchenbäcker aus Venezuela, oder die sympathische kasachische Prostituierte stets mit Charaktereigenschaften ausgestattet, die für den europäischen Zuschauer die erforderliche Balance zwischen erwarteter Realitätsbezogenheit und geforderter Identifikationsfläche bieten. Der gegenwärtige Arthousebrei, der die deutschen Kinos ebenso verstopft wie das amerikanische Hollywoodpendant die postindustriellen Lagerhallen des Mehrzweckgebäudes, verursacht dem Cineasten aber meist noch größere Magenkrämpfe. Heuchelei ist hierbei das Stichwort eines Konsumenten, der den Kinderschuhen entwachsen, nicht mehr in der Norma, sondern im Biosupermarkt einkaufen geht und seine Markthörigkeit und Markenabhängigkeit möglichst unter dem Deckmantel der Liberalität verstecken möchte. Im Grunde kann ein Label wie das Arthousekino nur in Gesellschaften Fuß fassen, denen es erfolgreich gelungen ist ihre Mitmenschen auszubeuten, und dennoch Solidarität zu predigen, von der Welt zu reden als hätte man sie schon zwanzigmal bereist, und dennoch immer pünktlich zu allen Konferenzterminen zu erscheinen – in Gesellschaften also, in denen der Selbstbetrug zum allgegenwärtigen Mantra geworden ist. Apolitisch im schlechtesten Sinne, spricht der Arthousefilm jeden und niemanden an, erzählt von „uns allen“ und hat doch nichts zu sagen. Natürlich gibt es auch im Arthousesediment sehenswerte Filme, die jedoch aufgrund der zwangsweisen Labelisierung kaum auf Anhieb als solche zu erkennen sind. Scheiße stinkt eben in der Masse gewaltiger, und ein frischer Lufthauch verschafft dem Erstickenden nur vorübergehend Erleichterung. Wenn also eines Tages die ganzen Multiplexe Konkurs anmelden sollten, folgt der europäische Förderungsfiskus hoffentlich direkt nach. Vom Tod des Kinos mögen dann manche reden. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Final Mission (1984)

     

Mein erster Film von B-Film Legende Cirio H. Santiago hat mich gleich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Final Mission ist einer von unzähligen Vietnamfilmen die in den 80ern gedreht worden sind, verbindet hierbei aber zusätzlich noch Elemente des Polizeifilms mit einer Rachegeschichte. Im letzten Drittel geht es dann um ein Quasi-Remake des 2 Jahre zuvor entstandenen First Blood. Viel geklaut möchte man da vielleicht sagen, und in der Tat äußern sich die meisten Kommentare, über die ich im Internet gestolpert bin, hierzu auch ziemlich abfällig. Aber die Kreuzigungsszene ist in der Geschichte der Malerei auch schon tausendfach abgebildet worden, und die Notenskala lässt sich in der Musik ebenso endlos variieren. Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen habe ich prinzipiell nicht das Geringste gegen Plagiate einzuwenden. Originalität ist was man daraus macht, und wie beim Jazz ist Improvisation manchmal entscheidend. Das „Wie“ ist also wieder einmal wichtiger als das „Was“. Jedenfalls in meiner Welt. Weiterlesen…

Vorschau Filmfest München: LA DOPPIA ORA (Giuseppe Capotondi)



Als „Mystery-Thriller in der Tradition von M. Night Shyamalan, erzählt als Liebesmelodram“ wird der Film LA DOPPIA ORA auf der Homepage des Münchner Filmfestes beschrieben. Giuseppe Capotondis Regiedebüt gewann auf dem Filmfestival in Venedig 2009 gleich drei Preise, darunter den Coppa Volpi für die beste Darstellerin, der an Ksenia Rappoport ging.

Auch Lee Marshall von SCREEN DAILY gab sich begeistert und sah frischen Wind durchs italienische Genrekino wehen:

„With this tasty genre piece, first-time director Giuseppe Capotondi proves there is life in Italian cinema beyond ponderous glossy dramas and pneumatic sex comedies. Mixing film noir, thriller, love story and supernatural horror, The Double Hour has some of the dour provincial atmosphere and subtly menacing tone of 2007 Italo murder mystery The Girl by the Lake; but it’s more intricately plotted, and takes us into much more intriguing dream-and-reality territory.“

Was auf dem Papier so klingt, als könnte Capotondi versuchen an einige der atmosphärischen, extravaganten italienischen Genremixe (mit Haupteinfluss des Giallo) der 70er anzuknüpfen, sieht im Trailer schon eher nach einem kühlen, unglamourösen psychologischen Thriller mit Euro-Noir-Anleihen aus:


Capotondi hat vor seinem Debütfilm hauptsächlich Musikvideos gedreht, so dass es nicht verwundert, dass der Soundtrack ziemlich ausgewählt ist und etliche Progressive Rock Bands vereint (u.a. „Godspeed You! Black Emperor“). Dazu hat Pasquale Catalano einen Score komponiert, einige seiner früheren Arbeiten (aus LE CONSEGUENZE DELL’AMORE von Paolo Sorrentino) kann man sich bei Youtube anhören. Klingt ein bißchen nach Philip Glass, aber in der Tat erstmal sehr atmosphärisch und viel versprechend.

Ein amerikanisches Remake soll angeblich auch schon in Planung sein.

Links:
LA DOPPIA ORA beim Filmfest München

Vorschau Filmfest München: DAS LETZTE SCHWEIGEN (Baran bo Odar)



Die Reihe „Neue Deutsche Kinofilme“ war 2009 am Tiefpunkt, als die Jury um Caroline Link den Förderpreis Deutscher Film in den Kategorien Regie und Drehbuch nicht vergeben wollte – aus Mangel an geeigneten Kandidaten und weil sie sich durch eine Vorschlagsliste bevormundet fühlte. Insofern wird diese Sektion 2010 sicher besonders im Fokus stehen, zumal die Jury mit u.a. Christian Petzold erneut mit Köpfen besetzt wurde, von denen nicht zu erwarten ist, alles unkritisch abzuwinken, was ihnen in der Reihe so vorgesetzt wird.

Mit dem frisch aus Cannes kommenden UNTER DIR DIE STADT von Christoph Hochhäusler, DER LETZTE SCHÖNE TAG von Ralf Westhoff und DER LETZTE ANGESTELLTE von Alexander Adolph sind schon mal drei Hochkaräter im Programm, die allerdings alle nicht für den „Förderpreis Deutscher Film“ in Frage kommen dürften, da es sich bei allen dreien um relativ erfahrene Regisseure handelt.

Ein möglicher Kandidat für den Preis wäre dagegen DAS LETZTE SCHWEIGEN des HFF München-Absolventen Baran bo Odar, mit dessen Nominierung den Kuratoren der „Neuen Deutschen Kinofilme“ durchaus ein kleiner Coup gelungen sein könnte.

Odars 60-minütiger, in Cinemascope gedrehter Debütfilm UNTER DER SONNE, dessen stylischen Trailer man sich auf der offiziellen Homepage des Regisseurs anschauen kann, war ein Festivaldauerbrenner von Max Ophüls über Sao Paolo bis Slamdance und erhielt hymnische Kritiken der deutschen wie ausländischen Presse (ebenfalls nachzulesen auf der offiziellen Homepage). Ein bißchen wirkt er wie der abgründigere kleine Bruder von Hendrik Handloetgens 80er-Kindheitserinnerung und Beatles-Hommage PAUL IS DEAD. UNTER DER SONNE wurde in Erlangen, dem Ort Odars Kindheit, gedreht.



Im Presseheft schreibt Odar dazu:

„Ich bin in einer typischen, deutschen Kleinstadt in den 80er Jahren aufgewachsen. Ein Ort, der überall in Deutschland wieder zu finden ist: Endlose Reihenhaussiedlungen, spießige Kleingärten, die dicht an dicht gereiht sind, heiße Asphaltstrassen, Steintischtennisplatten, leere Garagenhöfe, schreiende Kinder in Schwimmbädern aus Beton, Schürfwunden am Knie, Lakritzschnecken in weißen Papiertüten, Puffreis… Kindheitserinnerungen, die diese Zeit prägen und das Gefühl des Wohlbehüteten und des Sicheren wiedergeben. Aber auch für die Leere und Langeweile, die für diese Zeit steht. Allen geht es eigentlich gut und dennoch stimmt etwas in dieser heilen“ Welt nicht.

Diese Banalität lag wie eine kuschelige Decke über uns, beschütze uns und lag doch schwer auf unseren Schultern. Tauchte man erst einmal unter ihre Oberfläche, entdeckte man ihre erschreckende und gähnende Tiefe und Leere.

Die Entscheidung in meiner Heimatstadt zu drehen, fiel relativ schnell. Schon beim Schreiben des Drehbuches hatte ich ganz bestimmte Orte und Plätze im Kopf, die mir in meiner Jugend über den Weg liefen. So drehten wir die Reihenhaussiedlung und ihre Häuser, dort wo ich selber gewohnt habe: bei meinen Eltern und bei meiner früheren Nachbarin. Auch das Schwimmbad und die darum liegenden Wälder waren Orte, an denen ich meine Kindheit verbrachte.“

Insofern wirkt DAS LETZTE SCHWEIGEN erstmal wie die verlängerte Version von Odars Erstling. Wieder Nikolaus Summerer als Kameramann, wieder Cinemascope, wieder Erlangen und Umgebung als Drehort (siehe Making Of-Bericht hier), wieder die 80er als Ausgangspunkt, wieder die Provinz, ihre Oberflächen und ihre Abgründe. Diesmal aber mit einer ungeheuer prominenten Besetzung: Ulrich Thomsen, Burghart Klaußner, Kathrin Saß, Wotan Wielke Möhring. Der viel versprechende Trailer ist schon seit Monaten online:



DAS LETZTE SCHWEIGEN basiert auf dem Kriminalroman DAS SCHWEIGEN von Jan Costin Wagner, der Teil einer Trilogie um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa ist (also tatsächlich Skandinavien-Krimis von einem deutschen Autor).

Das Breitwandformat, die erfolgreiche Romanvorlage, die internationale Besetzung (wieder mit einem Dänen) wecken Erinnerungen an Anno Sauls unterschätzten, an der Kinokasse leider völlig untergegangenen Thriller DIE TÜR (der in München zufälligerweise im Rahmen der Hommage an Mads Mikkelsen ebenfalls zu sehen sein wird). Zudem war Baran bo Odar Regieassistent bei Maren Ades knallharter Provinzstudie DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN. Diese Kombination in der Verbindung mit Urbildern deutscher Kinogeschichte (von M bis zu ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG) lässt auf jeden Fall hoffen, dass hier ein außergewöhnlicher deutscher Genrefilm entstanden sein könnte.

Links:

DAS LETZTE SCHWEIGEN beim Filmfest München
DAS LETZTE SCHWEIGEN – Filmhomepage
Baran bo Odar
Nikolaus Summerer
Movies & Sports

3. Widescreen-Weekend mit dem Thema „Sensurround“ am kommenden Wochenende, 5./6. Juni, in der Schauburg Karlsruhe




Schon seit im Oktober 2005 zum ersten Mal das mittlerweile traditionelle, jedes Jahr am ersten Oktober-Wochenende stattfindende und dieses Jahr in die sechste Runde gehende, in dieser Form in Deutschland einmalige Todd-AO-70mm-Festival stattfand, gehört die Schauburg in Karlsruhe zu den Vorreitern, was die Wiederentdeckung und vor allem das am Leben Erhalten des kinohistorischen und filmtechnischen Erbes angeht. Seit 2008 findet dort nun zusätzlich jährlich am ersten Juni-Wochenende das Widescreen-Weekend statt, das sich jedes Jahr einem anderen kinotechnischen Spezialthema widmet. Im ersten Anlauf ging es noch etwas vage und weitläufig um das Thema „In Technicolor, CinemaScope & stereophonischen Magnet-Ton“, bei der letztjährigen zweiten Ausgabe stand wiederum das Aufnahmeformat VistaVision im Vordergrund. Am ersten Juni-Wochenende 2010 geht es nun ans Eingemachte, wenn diesmal das mythenumrankte Tonverfahren „Sensurround“ im Mittelpunkt steht, dessen Konzeption einen Mittendrin-Effekt in neuer Dimension anstrebte und mittels Tiefton-Subwoofern einen Schalldruck auf den Zuschauer loslässt, der Erdbeben oder Kriegsschlachten zur körperlich nachempfundenen Erfahrung werden lassen soll. Abenteuerliche Geschichten von panischen Zuschauern, besorgten Anwohnern und Kinos, deren Wände und Decken durch den Schalldruck zu bröckeln begannen, begleiteten von Anfang an die Sensurround-Aufführungen und trugen ihren Teil dazu bei, dass diesem Spezialverfahren nur eine kurze Lebenszeit beschert war, zumal die dafür benötigte technische Ausstattung für die Kinos einen enormen materialtechnischen und finanziellen Aufwand bedeutete, zusätzlich verbunden mit dem Risiko, sich damit auch noch Schäden an den eigenen Räumlichkeiten einzuhandeln und obendrein für Belästigungen von Nachbarsälen und Anwohnern zu sorgen. Demzufolge wurden die technischen Zurüstungen bald wieder ausgebaut und nach nur fünf Kinofilmen zwischen 1974 und 1978 war das Kapitel Sensurround weitgehend beendet. Gerade die kurze Lebensdauer, die sich wegen der bald auch nicht mehr vorhandenen notwendigen technischen Voraussetzungen in den Kinos auch nicht über Wiederaufführungen fortsetzen konnte, machte das Verfahren zu einer Legende und einzelne Vorführungen zu einer ausgesprochen raren Gelegenheit. Auch ohne Kenntnis genauerer Fakten liegt die Vermutung nahe, dass die nun in Karlsruhe stattfindende Aufführung sämtlicher fünf Sensurround-Filme eine ziemlich einmalige Veranstaltung ist, die es in dieser originalgetreuen Form und diesem Umfang möglicherweise seit Jahrzehnten zumindest in Europa nicht mehr gegeben hat und vermutlich auch auf viele Jahre hinaus nicht noch einmal geben wird, und ist daher auch in Unkenntnis der Filme und des Verfahrens mit Sicherheit eine nachdrückliche Empfehlung wert, zumal sich die Schauburg mit ihrem schönen Saal mit großer, gekrümmter Cinerama-Leinwand und ihrer Ausstattung noch etwas von der Aura der Filmpaläste vergangener Tage bewahren konnte und damit jederzeit einen Besuch wert ist. Neben den fünf Sensurround-Filmen (ERDBEBEN, SCHLACHT UM MIDWAY, ACHTERBAHN, BATTLESTAR GALACTICA, MISSION GALACTICA) und einem begleitenden Rahmenprogramm gibt es als inoffiziellen Abschluss des Programms am Sonntag Abend um 21 Uhr außerdem noch eine Aufführung von TERMINATOR 2 in der englischen Originalfassung in 70mm über die Sensurround Tief-Bass Anlage, die allerdings nicht im Festivalprogramm angekündigt ist, weil es sich nicht um einen der originalen Sensurround-Filme handelt.

Einige Links mit weiterführenden Informationen:

Über das Widescreen-Festival mit Schwerpunkt „Sensurround“

Das Sensurround-Wochenende bei in70mm.com

Allgemeines zur Sensurround-Historie bei in70mm.com

Die Schauburg Karlsruhe

Bericht von einer früheren Karlsruher ERDBEBEN-Aufführung in Sensurround



Und wie im nachfolgenden rechten Bild recht eindrucksvoll zu sehen ist, kann es der gerätetechnische Aufwand des Ganzen locker mit den Vorbereitungen eines großen Konzerts aufnehmen (weshalb dann der zunächst sehr hoch erscheinende Eintrittspreis von 19 bzw. 15 Euro pro Film sowie 90 bzw. 70 Euro pro Festivalpass mutmaßlich durchaus in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand des Veranstalters und zur Besonderheit des Aufführungs-Gegenwertes steht):

Vollständige Ulrich Seidl-Werkschau beim Filmfest München


Die erste Retrospektive (mit dem/der CineMerit-Award-Preisträger/in wird noch eine weitere, vermutlich etwas kleinere folgen) des diesjährigen Münchner Filmfest steht fest: Ulrich Seidl. Und zwar mit allen Kurz- und TV-Filmen. Zitat:

Das FILMFEST MÜNCHEN präsentiert in der Retrospektive erstmalig alle Filme von Ulrich Seidl – eine Werkschau, die 30 Jahre umfasst: Von EINSVIERZIG, Seidls erstem Kurzfilm auf der Wiener Filmakademie, und DER BALL, „der Grund, warum man mich aus der Filmakademie rauswarf“ – bis hin zu aktuellen Projekten. Neben den Kinofilmen werden auch seine für das Fernsehen produzierten Filme (SPASS OHNE GRENZEN, DER BUSENFREUND, DIE LETZTEN MÄNNER u.a.) sowie einige kaum bekannte Kurzfilme zu sehen sein.

Mehr Informationen hier.

Zur Steigerung der Vorfreude schonmal: Romuald Karmakar über Seidls GOOD NEWS.

Da Cannes-Gewinner UNCLE BOONMEE WHO CAN RECALL HIS PAST LIVES von Apichatpong Weerasethakul eine Co-Produktion des Münchners „Haus der Kunst“ ist, stehen die Chancen nicht schlecht, dass auch er in München zu sehen sein könnte. Zumindest die letzten drei Jahre waren die Gewinner der Goldenen Palme (4 WOCHEN, 3 MONATE UND 2 TAGE, ENTRE LES MURS, DAS WEISSE BAND) auch immer beim Filmfest verteten.

100 Deutsche Lieblingsfilme #13: Die Sieger (1994)


Ein Politthriller als Geistergeschichte. Die Figuren sind Schatten in einem unübersichtlichen Geflecht aus Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen. Sie treten unvermittelt aus dem Dunkeln ins Bild und verschwinden dort wieder ebenso gleitend, sie sprechen aus dem Off, nachdem die Kamera sie nur flüchtig erhascht hat, flüstern, raunen sich im Vorbeigehen Vertrauliches zu, sind nur verrauschte Stimmen aus Funkgeräten, Telefonen oder von Tonbändern. Ein knallroter Regenmantel…

Es ist Zwischenkriegszeit. Der Kalte Krieg ist vorbei, BRD und DDR sind untergegangen, aber die „Berliner Republik“ hat noch nicht wirklich begonnen. In dieser Übergangsphase hält das organisierte Verbechen Einzug in die Politik, werden hinter Glasscheiben in den Konferenzzimmern die Anteile am neuen Land verkauft. Ein Trümmerfilm aus dem Jahr 1994.

Beschützt werden die Gespenster hinter den Glasscheiben vom SEK. Die Männer sind selbst Phantome, sie tragen Decknamen und Sturmhauben, bei denen nur die Augen als letztes Zeichen von Persönlichkeit hervorblitzen. Die Welt dieser Männer, ihre Rituale, ihr (brüchiger) Zusammenhalt sind wichtiger Teil von DIE SIEGER. Einer von ihnen, Heinz Schaefer ist ein Phantom aus der Vergangenheit – vor vier Jahren soll er sich umgebracht haben, doch Karl Simon erkennt ihn bei einem Einsatz gegen Geldfälscher wieder. Simon und Schaefer arbeiten beide für den Staat und sind doch Gegner in einem Dickicht aus V-Männern und machtpolitischen Grauzonen, sind Gehetzte, Zerrissene. Gesellschaftliches, Berufliches und Privates sind untrennbar, der Riss durch die Männer reicht tief in die Familien.

Oft wird DIE SIEGER als deutscher Actionfilm verkauft, dabei steht er eher in der Tradition der Polizeifilme von Lumet und den Mafiafilmen von Damiani. Doch Deutschland ist nicht Italien – die Mechanismen der Korruption laufen subtiler ab, vielleicht kann man ihnen nur mit Fantasie beikommen. Selten hat Grafs visueller Stil so gut zu einem Sujet gepasst, die unruhigen Kamerafahrten, die hektischen Zooms auf die Figuren, als ob er nach ihnen greifen, ihre Undurchsichtigkeit erfassen wollte. Genre heißt hier im Gegensatz zu vielen deutschen Filmen der 90er auch nicht der Wunsch möglichst amerikanisch auszusehen. Materiell ist der Film tief in der Bundesrepublik verhaftet: den Autobahnen und Raststätten, dem ICE und den Einkaufsmeilen, den Düsseldorfer Reihensiedlungen und den Vorstadtvillen. Hinter dieser materiellen Gegenwart lauern unterirdisch die Gespenster der Vergangenheit, der Terrorismus und sein politischer Mißbrauch. Sehnsüchte werden wach, nach DIE MACHT DES GELDES, dem Film den Graf nach dem Buch von Christoph Fromm über die Herrhausen-Entführung drehen wollte.

Das Ende des Traums vom deutschen Genrekino soll DIE SIEGER gewesen sein. Dass der Film gescheitert ist, darin schienen und scheinen sich fast alle einig zu sein: das Publikum, das ihn mied, die Kritik, die ihn nie bedingungslos liebte und auch Graf selbst – nach vielen Eingriffen ins Drehbuch.

Aber das Schöne am Kino ist, dass die Produktionsgeschichte irgendwann zurücktritt und es kein „hätte, könnte, sollte“ mehr gibt. Und der Film beginnt ein Eigenleben in den Köpfen der Zuschauer zu entwickeln, das weder der Regisseur mit seiner Vision noch die Filmbürokraten mit ihrem Kommerzstreben so vorhersehen können. Es ist wie bei Ciminos HEAVEN’S GATE, wo die Träume zu groß werden fürs Kino, wo nur noch Spuren, Bruchstücke, Ahnungen davon auf dem Zelluloid zurückbleiben. Doch Unvollkommenheit heißt auch immer Unabgeschlossenheit und damit: Offenheit. Eine Einladung mitzuträumen.

Der Traum vom deutschen Genrekino, so viel zu groß er manchmal auch scheinen mag, ist jedenfalls noch lange nicht ausgeträumt.


Die Sieger – Deutschland 1994 – 130 Minuten – Regie: Dominik Graf – Drehbuch: Günter Schütter – Produktion: Günter Rohrbach, Christoph Holch – Kamera: Diethard Prengel – Musik: Dominik Graf, Helmut Spanner, Loy Wesselburg – Darsteller: Herbert Knaup, Katja Flint, Hannes Jaenicke, Heinz Hoenig, Meret Becker, Natalia Wörner, Thomas Schücke.

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