100 Deutsche Lieblingsfilme #18: Abstecher (1992)

Viele Menschen, die in Ulrich Weiß‘ Abstecher interviewt werden sind ehemalige Ostdeutsche. Und viele von ihnen sind sich einig, dass eines im neuen Deutschland etwas verloren gegangen zu sein scheint: die Menschlichkeit. Wie kann es sein, dass Bewohner des Unrechtsstaates DDR, eines Staates der seine Bürger permanent mundtot zu machen versuchte, und jeden Anflug von Individualität als Angriff auf die herrschende Ideologie verstanden haben wollte, ausgerechnet diese Feststellung machen? 1991. Zwei Jahre nach der Wende?

Um diese Frage dreht sich der gesamte Film. Wo bleibt der Einzelne innerhalb revolutionär anmutender Prozesse? Und wie hat sich die Wiedervereinigung auf die Bewohner der ehemaligen DDR wirklich ausgewirkt? Große Teile des Films spielen während einer Zugfahrt von Ost nach West. Die Menschen sind müde, erschöpft, resigniert. Der Aufbruchstimmung nach dem Mauerfall, ist der Wunsch nach bürgerlichen Träumen gewichen. Und die meisten wünschen sich nur noch das mindeste: eine Arbeit zu haben.

Der Film fängt mit einer Fernsehansprache an. 1989: Friedrich Schorlemmer, spricht über Euphorie, Glücksvorstellungen, Neuanfang. Danach: die Gegenwart, 1991, zwei Jahre später. Wieder Schorlemmer, diesmal privat. Die Szene erdrückend, die Enttäuschung groß. Die Utopie einer angeblich freien Gesellschaft, in der der Einzelne mit der Freiheit nichts anfangen kann. Da nun scheinbar alles möglich ist, gibt es nichts mehr zu tun. Die Illusion würde sich gerne als Realität behaupten, doch die Aufnahmen des Films sprechen eine andere Sprache.

Als Friedrich der Große gegen Ende des Films in Potsdam seiner neuen Ruhestätte zugeführt werden soll, sind zahlreiche Gruppierungen angetreten um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ein Spektakel, das Jeder für sich und seine Interessen ausnutzen möchte, eine Selbstdarstellung, in der die Leichen von Friedrich und seinem Vater als Vorwand für diverse eigene Agenden in der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden. Ein Aufmarsch Homosexueller, die den Anlass zur Anprangerung der Tatsache nutzen, dass ja anscheinend ein schwuler Kaiser mit allen Staatsehren bedacht wird, während in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft Homosexuelle immer noch wie der letzte Dreck behandelt werden, wird jedoch nicht gern gesehen. Deutschland wächst zusammen, heißt es über das Voice-Over von Helmut Kohl. Eine PR-Aktion für die Wiedervereinigung. Die feindliche Übernahme als große Versöhnungsinszenierung.

Abstecher ist ein großer Film. Nicht nur das Pendant zu den bestimmenden Fernsehbildern aus der Nachwendezeit, sondern im Grunde zu einem Film, wie ihn sich jeder Staatschef wünscht. Zur Propaganda der herrschenden Staatsmacht, zu einem Werk wie Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935), verhält sich Ulrich Weiß‘ Abstecher wie die notwendige Ergänzung, der unliebsame Bruder, das schwarze Schaf. Er ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen, die die Abhängigkeit des Einzelnen von einer kollektiven Idee veranschaulicht. Wunsch und Realität liegen in der neuen BRD ebenso weit auseinander wie in der ehemaligen DDR. Die Möglichkeit für eine neue Gesellschaft, für eine neue Form des Miteinanders, wurde nicht wahrgenommen. Weiß ist bitter, denn die Realität ist bitter. Im Grunde hätte ’89 auch Krieg sein können. Der Sieger schreibt die Geschichte.

Vielleicht wird Abstecher von einer zukünftigen Kulturpolitik einmal als Beweis angeführt werden, dass es „damals“ ja auch andere, „kritische“ Stimmen gegeben hätte. Der Zuschauer wird sich jedenfalls, wie immer, auch dazu seine eigenen Gedanken machen müssen.

Abstecher – Deutschland 1992 – 65 Minuten – Regie und Drehbuch: Urich Weiß – Produktion: Andrea Hoffmann, Tony Loeser – Kamera: Johann Feindt, Eberhard Geick – Musik: Peter Rabenalt – Schnitt: Petra Heymann – Darsteller: Bewohner des wiedervereinigten Deutschland

Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-437 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA

100 Deutsche Lieblingsfilme #17: Das Kaninchen bin ich (1965)

Wenn man gemeinhin vom deutschen Film spricht, wird oft allzu schnell vieles vergessen. Über die Weimarer Republik, die NS-Zeit und das Nachkriegskino, ist man auch schon rasch bei den Oberhausenern, beim Neuen Deutschen Film und in der Gegenwart gelandet.

Die DDR ist ebenso Ausdruck deutscher (Film-)Geschichte wie deutscher Verdrängung; Parallelen zum Nazikino treten fast von Selbst auf. Wenn Maria im Film ihren Geliebten, der gleichzeitig auch Richter ist, fragt wie das Recht sich ändert, und warum es sich ändert, so antwortet er ihr: „Jede herrschende Klasse gibt ihr positives Recht als Naturrecht, als die allgemeine Glückseligkeit aus.“ Die DDR natürlich auch, schiebt er nach, aber mit größerem Recht.

Wenn man ins 20. Jahrhundert blickt, könnte man sich fragen, welcher deutsche Staat denn nun ein Rechtsstaat war, und wie deutsche Selbstbestimmung aussah. Aus heutiger Sicht scheint es klar – aber war das Kaiserreich ein größeres Unrecht als die Weimarer Republik, haben die Nazis die Macht ergriffen, während die DDR von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurde, und hat der Westen Deutschlands von seinen Besatzern eine Verfassung geschenkt bekommen, die er nach der Wiedervereinigung an die frisch Hinzugekommenen weitergab?

Die Geschichtsschreibung steckt voller Mythen, und nicht anders verhält es sich mit der Filmgeschichte. Und diese Phantome, die Konstruktionen und Rechtfertigungsversuche des Geistes, scheinen sich bevorzugt einzuschleichen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geht. Das Kaninchen bin ich wurde 1966 verboten, und durfte in der DDR nicht öffentlich vorgeführt werden. Es erscheint nicht als Zufall, dass er vor allem um die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart kreist.

Wenn ich mir den Film heutzutage anschaue, ist es schwierig zu entscheiden, was den Funktionären damals im Besonderen aufgestoßen haben mag. Den erwünschten Sozialistischen Realismus zeigt der Film sicher nicht, aber das hatte z.B. Berlin – Ecke Schönhauser fast zehn Jahre zuvor auch nicht gemacht. Statt Verbot gab es damals aber Auszeichnungen.

Vielleicht war das Unerhörte an diesem Werk, dass er den deutschen Faschismus als Kontinuitätslinie zeichnete, der in der DDR genauso zum Ausdruck kam, wie die überwunden geglaubten Jahrhunderte zuvor. Die Figur des Richters – mit seinen juristischen Argumentationen aber auch mit seinem Privatleben – hätte man so auch in die 30er Jahre verpflanzen können. Die Person und das Drama hätten genauso funktioniert. Es hatte sich eben nicht viel geändert.

Wenn man sogenannte Diktaturen als Sonderfälle der Geschichte darstellen, und ihre Filme sozusagen als Sonderlinien der allgemeinen Filmgeschichtsschreibung gleich mit ins Abseits stellen möchte, indem man sie vornehmlich als Zeitdokumente, als „historisch relevant“ betitelt, so übersieht man leicht die Kontinuität und die Verwandschaft, die Ähnlichkeiten des Einen mit dem Anderen, des Vergangenen und des Gegenwärtigen.

Nach über 40 Jahren seit Entstehung des Films, ist das Auffällige in erster Linie eben nicht das nihilistische Menschenbild, die marode Zeichnung der sozialistischen Gesellschaft, oder der schrankenlose Sexismus früherer Generationen. Erschreckend ist die Aktualität, die niederschmetternde Gewissheit, dass sich in der Gegenwart immer noch nichts geändert hat.

Das Schlussbild, in dem Angelika Waller als Maria Morzeck mit einem Leiterwagen in der Hand entschlossen ihren Weg zu gehen versucht, erweist sich somit nicht als historisch oder zeitverhaftet, sondern als universell. Und es ist auch keine Frau, die sich durchzusetzen versucht, sondern ein Mensch. Auch heutzutage noch – eine Utopie.

Das Kaninchen bin ich – DDR 1965 – 114 Minuten, ursprünglich 121 – Regie: Kurt Maetzig – Drehbuch: Kurt Maetzig, Manfred Bieler – Produktion: Martin Sonnabend – Kamera: Erich Gusko – Musik: Reiner Bredemeyer, Gerhard Rosenfeld – Schnitt: Helga Krause – Bauten: Alfred Thomalla – Darsteller: Angelika Waller, Alfred Müller, Ilse Voigt, Wolfgang Winkler, Irma Münch, Rudolf Ulrich, Helmut Schellhardt, Annemarie Esper, Willi Schrade, Willi Narloch, Bernd Bartoczewski

Tree of Life

Vor einigen Stunden wurde ich noch überraschend auf den kursierenden Bootleg-Trailer von Terrence Malicks Tree of Life hingewiesen und hatte beim Ansehen bereits Ganzkörpergänsehaut – jetzt steht der offizielle(?) Trailer endlich in guter Qualität im Internet. Ich muss einfach die frohe Kunde verbreiten, die ersten Bilder, auch wenn es inzwischen wohl schon zig Blogs gibt, auf denen das Gleiche zu sehen ist. Was sich erahnen lässt: Ein weiterer Film für die Ewigkeit, nach „Thin Red Line“ und „New World“ wohl ein weiterer Jahrhundertfilm, oder zumindest der kommenden Dekade. Die Bilder sehen mal wieder nach Gesamtkunstwerk aus, dem Willen zum ganz Großen, dem GGFÜA (wie vor kurzem Ekkehard Knörer schrieb). Zum Glück gibt es das noch: Filmemacher die genial-größenwahnsinnig arbeiten. Vision in GROSSBUCHSTABEN. Egal was man darüber denken mag: Ich bin gespannt.


Wenn es damals schon Trailer gegeben hätte…

Der Löwe des gelben Meeres (1963)

Nach Christophs vorhergehendem wunderbarem STB-Ausrutscher-Langtext-Posting, habe ich mir überlegt es ihm wenigstens im Ansatz gleichzutun, und einen von mir noch ausstehenden STB-Kommentar (aus der problematischen Zeit vor unserem Providerwechsel) etwas auszubauen, und ebenfalls auf den Blog zu stellen. Eigentlich versuche ich ja meist nur Texte zu veröffentlichen, die aus einer Kombination aus Inspiration und Arbeit zu einem für mich zufriedenstellenden Ergebnis geführt haben, aber in diesem Fall möchte ich eine Ausnahme machen. Ich brauche nämlich einen Motivationsgrund anstelle einer möglichen Schreibblockade, die mich nach einem blöden Unfall vor ein paar Tagen aus Frustration überkommen hat. Statt einem längeren Eskalierende Träume Essay über einen älteren thailändischen Film der mir sehr imponiert hatte, gab es bei mir nach dem Stolpern über ein Stromkabel dank OpenOffice bug nur den kompletten Datenverlust und ein unlesbares Dokument zu begutachten, das sich auch nach mehreren Stunden herumklempnern nicht mehr reparieren ließ. Aus Vorsicht und Mißtrauen daher, erst einmal eine Sehempfehlung eines tollen japanischen Films, der mich vor ein paar Wochen überraschend zu begeistern wusste, bevor ich mich wieder an Texte wage, die mir mehr am Herzen liegen.

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Eskalierende Träume treibt sich herum


Für alle Leser, die die letzten zwei Monate vergeblich auf mehr Texte unserer Autoren gewartet haben, wird der Dezember (Providerwechsel sei Dank!) ein besserer Monat werden. Bevor es an dieser Stelle aber mit neuen Beiträgen weiter geht, noch ein kurzer Hinweis.

Da die meisten unserer Autoren auch der Veröffentlichung außerhalb von Eskalierende Träume nicht abgeneigt sind, haben sich Alex P. und ich entschieden bei der Negativ Adventskalenderaktion mitzumachen, bei der an 24 Tagen jeweils ein über- oder unterschätzter Film der letzten Dekade von täglich wechselnden externen Autoren vorgestellt wird .

Alex‘ Text zu Hollywood-Ausnahmeregisseur M. Night Shyamalan und seinem Film The Happening beschäftigt sich vor allem mit Glaubensaspekten in Shyamalans leider oft unterschätzten Meisterwerken, und ist am 03. Dezember erschienen. Mein Beitrag zu Sören Voigts Identitätsstudie Identity Kills ist seit heute online, und polemisiert auch ein wenig über das deutsche Filmschaffen. Die beiden Artikel sind jeweils hier und hier zu finden.

Bild: © Grey59 / pixelio

Film und Buch (#0): Robert Zion – William Castle, oder die Macht der Dunkelheit (2000)

Einige Betrachtungen zur allgemeinen Wahrnehmung von Filmemachern
am Beispiel von William Castle.


Ursprünglich sollte dieser Text eine längere Abhandlung zu William Castle werden, die sich auf Grundlage von Robert Zions Buch (zugegebenermaßen etwas polemisch) mit der Problematik der Autorenfrage befassen sollte. Wie so manches, blieb es im Ansatz stecken. Da William Castle aber für mich DIE Entdeckung des letzten Jahres darstellte (u.a. hier zu erkennen), und ich ihn einerseits auf dem Blog nicht einfach vollständig unter den Tisch fallen lassen möchte, andererseits aber zur Zeit mit anderen Filmemachern beschäftigt bin, habe ich mich entschlossen, diesen alten Text in etwas bearbeiteter Form als Fragment zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass er, wie so mancher nur in Bruchteilen erhaltene Film, zum Phantasieren und Weiterspinnen einlädt, und der Leser die fehlenden Abschnitte mit seinen eigenen Ideen füllt. Ich erinnere mich an dieser Stelle an Ausschnitte aus Max Linders  Be My Wife, die es auf einer DVD-Kompilation zu bewundern gab, und die mir trotz der großartigen vollständig zur Verfügung gestellten übrigen Filme am Besten gefallen haben. Zwar bin ich leider nicht Max Linder, aber ich hoffe, dass mancher der diese Zeilen liest, vielleicht im Mindesten ein Interesse am Fragmentarischen für sich entdeckt.

„Sicherlich war William Castle kein großer Regisseur, erst recht kein intellektueller Filmemacher, dem die Kritikerzunft lange Studien hätte widmen können – alles in allem sind seine Mise-en-scène, Schauspielerführung und Montage bestenfalls als routiniertes Handwerk zu bezeichnen.“

Hiert irrt Robert Zion, wenn er trotz großem Enthusiasmus für Castle und der im Buch angelegten versuchten Ehrenrettung seiner Person und seines Werks, seine Leistungen als Regisseur nicht betonen will. Castle als bloßen Handwerker hinzustellen, hieße einen der talentiertesten und raffiniertesten amerikanischen Filmemacher zu verkennen. Wie viele legendäre in Hollywood tätige Filmemacher sahen sich als bloße Handwerker? Alfred Hitchcock, Raoul Walsh, John Ford, und nicht zuletzt Charles Chaplin wären da zu nennen. Aber lediglich von der Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung eines Künstlers auszugehen, ist ein fataler Fehler, der nicht zuletzt in der Geschichte der Bildenden Künste zu maßlosen Überschätzungen einerseits, und völliger Unkenntnis andererseits geführt hat. Die Proportionen zu wahren, die Verhältnismäßigkeit im Urteil, war schon immer ein Problem von Kunstkritik – nicht zuletzt diejenigen zwischen verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten. Genau das ist nämlich das Problem der etablierten Kritikerzunft, und der in diesem Zitat Robert Zions implizit angelegten höheren Einschätzung sogenannter „intellektueller“ Filmemacher.

Ich wünschte es gäbe eine Studie zu Norman Taurog und seiner Zusammenarbeit mit Elvis Presley mehr, und eine zu Ingmar Bergman weniger. Das wäre eine gerechtere und und auch weitsichtigere (Film-)Welt als all die Lobhudeleien und Thronerhebungen der sogenannten „seriösen“ Filmkritik, und eine seit Einführung der Auteur-Theory dringend benötigte Korrekturmaßnahme und Öffnung der Filmemachergeschichtsschreibung. Der immer noch gegenwärtige Tunnelblick weiter Kreise der Filmwissenschaften, was die Vielfalt der zu untersuchenden Gegenstände angeht, hängt natürlich mit einem in den letzten Jahrzehnten in großem Ausmaß geschwundenen Selbstbewusstsein von Filmliebhabern und ihrem Vertrauen auf die persönlichen Seherfahrungen zusammen, welches wohl im Zuge der Akademisierung und Verwissenschaftlichung von filmtheoretischen- und historischen Erkenntnissen aufgetreten ist, und auch zu einer vermehrten Zersplitterung der Filmkunst in „kommerzielle“, der „bloßen“ Unterhaltung dienende „Massenware“ einerseits und „persönlichen“, als „künstlerisch wertvoll“ erachteten „Individualwerken“ andererseits geführt hat.

Wenn sich Zion jedoch in einem anderen Abschnitt seines Buches für Bill Castle eine „hochtrabende, geschwätzige Abhandlung in Cahiers du Cinéma“ wünscht, dann liegt er mit seiner Einschätzung nicht nur näher an den Möglichkeiten die zu Castles Lebzeiten herrschten, sondern verweist auch auf die im Gegensatz zu den späteren Manifestationen stehenden ersten Entwicklungslinien der politique des auteurs. Denn was anderes haben die jungen Wilden von Godard, über Truffaut, und Chabrol, damals in den 50er Jahren gemacht, als das Abseitige, Verdrängte und Marginale zu bejubeln? Dabei ging es eben nicht darum, zu beweisen, dass ein Vertragsregisseur wichtigere Filme gemacht haben könnte als ein bis dato anerkannter Künstler, sondern vielmehr um die Parteinahme für persönliche Vorlieben.

Ein so „unwissenschaftliches“ Vorgehen scheint heutzutage in der publizistischen Landschaft weitestgehend als anstößig zu gelten und mit dem Bann der Nichtbeachtung belegt zu werden. Und so frönen die meisten Filmbuchautoren ihren persönlichen Leidenschaften wohl eher außerhalb von Veröffentlichungen im stillen Kämmerlein oder im Kreise von eingeweihten Gleichgesinnten – so sie denn überhaupt über den Tellerrand ihrer meist stark mittelbaren Filmerfahrungen hinaus zu blicken interessiert sind. Daher kann der Enthusiasmus und Verve den alten Cahiers-Kritikern, denen Robert Zion in seinem Buch an manchen Stellen auf erfrischende Weise Nahe kommt, zunächst einmal gar nicht hoch genug angerechnet werden. Die Problematik die sich daraus ergeben kann, besteht aber in einer neuen Absolutheit, die in den folgenden Jahren auch aufgetreten ist, und ihrerseits in den 60ern wiederum vieles verdrängt hat. In der deutschen Filmgeschichtsschreibung vielleicht stärker als in der französischen doch international sicher mit am stärksten zu beobachten in der fast völligen Missachtung des reichhaltigen italienischen Filmerbes vor dem Aufkommen des Neorealismus. Wenn Bazin wüsste, was sich unter anderem als Folge seiner Lobpreisungen von ihm bewunderter italienischer Filme im Nachhinein entwickelt hat, würde er sich im Grabe umdrehen!

Das Alte ist tot, es lebe das Neue! – seit der Erfindung des Films hat sich dieser Satz nie so falsch angehört wie in der heutigen Zeit. Das filmhistorische Gedächtnis scheint trotz immer größerer Materialfülle und Zugänglichkeit von Generation zu Generation verkrüppelter zu werden, und tot geglaubte Phantome gewinnen mit der Zeit wieder an Einfluß. Erhebt man ausgewählte Regisseure zu Aristokraten, so läuft man Gefahr den Pöbel zu erschaffen. Und um eine solche Entwicklung in der Betrachtung von Filmemachern abzulehnen, muss man beileibe kein Gegner der Autorentheorie sein. Denn wo immer einem heute ein Hauch von „Kultur“ um die Nase geweht wird, stinkt es meist ebenso wie in den Fernsehprogrammen der „Privaten“ gar fürchterlich.

Castles Mise-en-scène hat in den meiner Meinung nach gelungensten Momenten, und nach denen richte ich mich wie bei den meisten anderen Filmemachern auch (denn was ebenfalls oft vergessen wird: Ein Film besteht aus einer Aneinanderreihung unzähliger Momente, die durch ihr ständiges Ineinandergreifen immerfort eine unendliche Anzahl von Erfahrungspunkten erzeugen), eine immense Ausdruckskraft. In diesen Momenten, die einen packen, aufwühlen, oder irritieren, steht Castle keinem einzigen anerkannten Filmemacher in irgendeiner Weise nach. Er erschafft seine eigene Welt, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und eigenen Regeln. Das Problem ist daher wieder einmal dasjenige des sogenannten „Gesamtwerks“. Der fehlgeleiteten, aber immer noch nicht minder beliebten Behauptung, aus dem Stil eines Regisseurs EINEN und nur EINEN Stil herausdefinieren zu müssen, um dann seine anderen Werke bestenfalls verwerfen oder im schlimmsten Fall die gelungenen als Ausnahme oder Zufälle der (sozialen, ökonomischen) Umstände abstempeln zu können. Und welcher Kritiker hat überhaupt alle Filme jedes von ihm beurteilten Regisseurs gesehen? Heutzutage, im Zeitalter der kostengünstigen Reproduzierbarkeit auf unzähligen Trägermedien, wäre es eine Frechheit über einen Filmemacher Endgültiges aussagen zu wollen, ohne zumindest alle seine erhaltenen Filme in der ein oder anderen Form mehrmals untersucht zu haben – auch wenn man nicht, wie ich, die Annahme teilt, dass ein solches Unterfangen in jedem Falle eine Unverschämtheit bedeutet.

Bis in die späten 70er Jahre war so etwas jedoch Gang und Gebe. Wer hatte schon das Glück, eine vollständige Retrospektive eines Regisseurs auf einem Festival oder in der Kinemathek bestaunen zu können, wenn damals oft nicht einmal die Organisatoren von Festivals und die Betreiber von Kinematheken selbst alle Werke der als bedeutend eingestuften Filmemacher ausfindig machen konnten? Aus der Erinnerung heraus wurde geurteilt, ganze Szenen und Sequenzen wurden aus dem Gedächtnis herbeizitiert. Daran ist natürlich grundsätzlich nichts Falsches. Jedoch haben sich über die Jahrzehnte, nicht zuletzt durch massenhaftes Abschreiben und „Zitieren“ innerhalb von Fachkreisen, Vorstellungen und Ideen festgesetzt, die inzwischen nicht mehr so ohne weiteres aus den zahlreichen Filmgeschichtsschreibungen wegzudenken sind. Die mühselige Kleinstarbeit, sich im Laufe eines Cineastenlebens alle Filme eines Regisseurs anzusehen, kann hierbei auch nicht entschädigen. Schließlich ist auf die eigene Meinung von vor 10 Jahren schon kein Verlass – geschweige denn von 40 oder 50! Und über die Kritiker die ihre persönliche Einschätzung zu einem einmal gesehen Film auch noch nach Jahren unabhängig von der damaligen Rezeptionshaltung als zeitlos relevant darzustellen im Stande sind, möchte ich gar nicht erst viele Worte verlieren. Mitleid zu solch einer Person ist vielleicht noch das edelste, was sich da aufbringen lässt.

Wer kennt das nicht: „Ja, als Kind mochte ich Filme, von denen ich später herausfand dass sie doch nicht so toll waren.“ Herausfand… Mit 15, mit 20? Mit 30? Mit 40?

Wann ist das sagenumwobene Reifestadium der Erkenntnis denn erreicht, ab dem einem alles klar wird? Wohl dem, der kurz nach solcher Illusionsfindung von uns scheidet, um nicht seine Ansichten über die Welt wieder einmal neu überdenken zu müssen.

Alle Filme sind relevant, sind Kunst, sind genial und großartig. Es hängt nur davon ab, wer sie als solche wahrnimmt und in welchen Kontext sie gestellt werden. Eine Binsenweisheit, die für alle Bereiche des Lebens gilt, bei manch einem aber scheinbar nie ankommen wird. Wessen Ego die Welt umspannt, der erblickt nur sich: Unwandelbar, in Stein gehauen – was symbolisch mit dem Tod und der Mumifizierung gleichgesetzt, eigentlich Adjektive wie unseriös, irrelevant und unbedeutend hervorbringen müsste. Stattdessen werden Denkmäler im Wechsel errichtet und niedergerissen. An Vergänglichem, der Zeit verhaftetem, besteht nur im negativen Sinne museales Interesse.

Wenn Begriffe wie Schock, grell, Exploitation und Horror, weniger Wert sind als Intellekt, subtil, Einfühlungsvermögen und Humanismus, gerät man in die Falle der überwiegenden westlichen Sichtweisen innerhalb der Auseinandersetzungen mit Kunst während der letzten Jahrhunderte. Zumindest im Bereich der Bildenden Künste muss es aber wiederum in Grundzügen eine Gegenbewegung zu dieser heuchlerischen Auseinandersetzung gegeben haben, bedenkt man z.B. die Impressionisten, Futuristen, Dadaisten, Surrealisten oder die Pop-Art in der Einschätzung der Kritik. Neben dem Kategorisierungswahn scheint ein Problem jedoch immer noch unsere Welt in ihren Klauen gefangen zu halten: Das der Absicht des Künstlers und seiner intendierten Bedeutung des Werkes.

Hätte William Castle seinen billigen Filmen längere kunsttheoretische Abhandlungen folgen lassen, so wären sie zwar nicht erfolgreicher beim Publikum, aber sicherlich bei so einigen selbsternannten Filmexperten geworden. Denn auch wenn heutzutage einer auf die Leinwand kackt, muss er immer noch einen triftigen Grund dafür angeben oder zumindest etwas Großspuriges behaupten können. Einfach kacken geht nicht. „Ich musste halt mal“, oder „Ich liebe Scheiße auf weißer Leinwand“ ist immer noch nicht „in“. Nein, es muss ein kleiner Zettel daran kleben: „Kritik an der bürgerlichen Welt“ oder „Anti-Kunst“, denn simple Scheiße versteht unsereins eben nicht. Da muss es schon was Größeres sein. Das Problem unserer Zeit. Was hätte Diogenes wohl dazu gesagt…

Wenn Joe Dante sich erinnert, „Die 50er und 60er Jahre waren für mich ein Goldenes Zeitalter… Es war eine unschuldige Ära, und ich denke dabei an Roger Corman und William Castle, an Exploitation, an sehr billige und interaktive Filme“, so spricht er wahrscheinlich von seiner Wahrnehmung als Kind. Denn unschuldig war dieses Zeitalter ebenso wenig wie alle Anderen der Menschheitsgeschichte zuvor. Die Unschuld. Hach, was ist nicht schon alles mit ihr in Verbindung gebracht worden… Eine Fehleinschätzung, die sich zunächst auf die Anfänge der Filmgeschichte, und später auf Dokumentar, Trick- oder Experimentalfilme verlagerte, um heutzutage beim sogenannten „Trashfilm“ ihre Heimat zu finden. Dinge aufgrund von Äußerlichkeiten zu verurteilen liegt wohl in der Natur des Menschen. Um es mit den Worten der Aufklärung zu umschreiben: Wege aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sind eben hart und steinig.





 

william

Das trotz mancher Schwächen dennoch äußerst lesenswerte Buch ist erstmals im Corian-Verlag im November 2000 in deutscher Sprache erschienen. Ich möchte es an dieser Stelle nochmals JEDEM Filmliebhaber aufs nachdrücklichste empfehlen, und spreche Robert Zion meinen tiefen Dank aus, mich auf sehr unterhaltsame und persönliche Art William Castle und seinen Filmen näher gebracht zu haben. Und dem Corian-Verlag, das Buch überhaupt veröffentlicht zu haben. Meinem Wissen nach ist es immer noch das weltweit einzige umfangreichere Buch eines Filmenthusiasten über William Castle – seine eigenen biografischen Veröffentlichungen nicht miteinbezogen.

Odds & Ends (1959)

„I just got high and put it together.“


Anscheinend als Parodie auf amerikanische Experimentalfilme der 50er Jahre entstanden, ist Odds & Ends selbst ein Vertreter dieser Richtung.
Experimentalfilm – Für mich heißt das immer, dass ein Filmemacher auf die Suche nach etwas geht, etwas versucht, einen Anfang macht. Kein Statement, sondern ein Experiment. Natürlich ist der Begriff im späteren Kontext auch etwas unsinning. Alles was scheinbar nicht narrativ motiviert sein soll, und etwas schwer verständlich ist (sprich: Fragen aufwirft), wird gemeinhin als „Experimentalfilm“ bezeichnet. Eine Restkategorie für auf der Strecke gebliebenes. In diesem Fall erscheint diese fragwürdige Zuordnung jedoch ganz passend.

Odds & Ends ist ein wildes Durcheinander an Bildern und Farben, Stills und Bewegungsabläufen, begleitet von Musik und einer Stimme aus dem Off: Nonsensical Narration. Was parodiert werden soll ist nicht ganz klar, bzw. überdeutlich. Für mich funktionierte der Film aber als Experimentalfilm par excellence. Ein visueller Stimulus, der vor Einfällen und Phantasie überquillt, und auf eine Art geschnitten ist, dass man in die Knie gehen möchte. Der Kommentar und die Musik sind das akustische Hintergrundgeplätscher, welches jede Art von akustischer Untermalung ad absurdum führt. Das Gesehene spricht für sich – also auch ein genuiner Stummfilm. Die Parodie entspringt deshalb aus der Verbindung von Ton und Bild.

Bei mir löste alles einen Rausch aus, der meinen ganzen Körper ergriff und mein Herz schneller schlagen ließ. Wenn es auf der Seite der National Film Preservation Foundation heißt, die Regisseurin Jane Conger Belson Shimane [was] considered the “most gifted talent” of the “new San Francisco group,”, so glaube ich das aufs Wort. An instant classic.




Odds & Ends – USA, 1959 – 4 Minuten – Regie: Jane Conger Belson Shimane – Sprecher: Henry Jacobs – 16mm, Farbe

Zitat der Woche

In 1973, fresh out of Syracuse University, the video artist Bill Viola went to visit a friend in San Francisco who took him straight from the airport to a camping trip in the desert. “We drove down to Death Valley and arrived at Zabriskie Point at midnight under a full moon. In the next two days, my life was changed,“ Mr. Viola recalled recently. “I realized that, growing up in New York, I’d never seen 75 miles straight in front of me in all directions at once.

“Two things happen. Your self shrinks to an insignificant black speck on the face of the planet that could be flicked off at any moment, like a little bug. You become humbled by the scope. The second thing that happens is your self expands. When you engage something in vision, literally a part of you goes out 75 miles to touch that, and you realize that what you see is not separate from your self.“


zitiert nach Don Shewey: An Artist Finds Poetry in Videotape
aus der US-amerikanischen Tageszeitung The New York Times
veröffentlicht am 08. November 1987

100 Deutsche Lieblingsfilme #16: Ein Walzer für Dich (1934)

In einem Fantasiestaat tritt ein Tenor die Nachfolge als Herrscher an, während die bisherige Thronfolgerin abgesetzt wird, weil sie eine Frau ist. Es folgen ein paar kleinere Verstrickungen und Geschlechterrangeleien, bis schlussendlich das erwartete Happy-End eintritt. Bei so einem Thema kommen mir unverzüglich Vergleiche zu Lubitschs musikalischen Komödien der frühen 30er. Aber im Gegensatz zu Lubitch, bleibt bei Georg Zoch alles Skizze. Dem Präzisen tritt das Fahrige gegenüber, dem ausgeklügelten Humor kleine kabarettistische Späße. Und die Handlung wird mit einer Beiläufigkeit abgespult, dass jedem Drehbuchautor die Haare zu Berge stünden. Genau das macht aber den enormen Reiz dieses Kleinods aus. Viele Szenen scheinen improvisiert, oft wurde wohl auf eine wiederholte Aufnahme einer nicht vollständig gelungenen Szene verzichtet, und man hat das Gefühl den Schauspielern noch im Probenprozess zuzusehen. Insgesamt erweist sich die Zusammenführung von vier völlig unterschiedlichen Charakteren und deren unausweichliche Auflösung in zwei Liebespaare als Glücksgriff. Nichts passt so richtig zusammen in diesem Film, aber es spielt einfach keine Rolle. Neben der teilweise experimentierfreudigen Kameraführung und dem mäandernden Plot, sind es vor allem die Schauspieler die sich nach belieben austoben dürfen.

Ursprünglich war Ein Walzer für Dich – wie es auch der Titel bereits nahelegt – wohl um den damals erfolgreichen Sänger Louis Graveure konzipiert, der im Film immer wieder auf amüsante Weise schauspielerisch überfordert wirkt, sich aber vor allem durch seine zahlreichen Gesangseinlagen dennoch überzeugend über die Runden zu retten weiß. Heinz Rühmann und Theo Lingen sind heutzutage wahrscheinlich noch die bekannten Namen aus diesem Film. Wer mir jedoch mehr imponiert hat als diese zwei Herren, waren die beiden Hauptdarstellerinnen Camilla Horn und Maria Sazarina. Horn besitzt genuine schauspielerische Qualitäten, die sich in manchen Szenen tatsächlich entfalten können, während Sazarina durch ihre Unbekümmertheit und zwei großartige Tanzeinlagen zu überzeugen weiß, und durch ihre nonchalante Präsenz (so widersprüchlich es auf den ersten Blick auch erscheinen mag) so etwas wie den nötigen Ruhepol im ungezwungenen Durcheinander der filmischen Konstruktion bildet.

Im Grunde kann man Ein Walzer für Dich als Vorgänger der späteren Schlagerfilme die in Westdeutschland in den 60ern und 70ern so populär wurden betrachten. Was ihn jedoch von diesen unterscheidet, ist seine genuine Verspieltheit und das scheinbar damals noch vorhandene Interesse an der Musik, welches wohl mit der Neuheit des Tonfilms zusammenhing. Vieles erinnert auch einerseits an die ausgestellte Künstlichkeit mancher amerikanischer Musicals der frühen 30er (siehe z.B. Ray Enrights Dames), andererseits an die beginnende Screwball-Comedy gekoppelt mit den freizügigen Geschlechterdarstellungen vor der Durchsetzung des Hays-Codes. Das eine so „undeutsche“ und beiläufig anarchische Aufeinanderfolge von Sketchen und Musiknummern als Film verpackt noch 1934 die Zensurstellen der Nazis passieren konnte, spricht für die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten der Filmkunst.


Die Fassung die ich sehen konnte, war leider nur 78 Minuten lang, und entsprach wohl der 1954 wiederaufgeführten Version mit dem Titel Hilfe, ich bin Minister. Was genau fehlt, konnte ich nicht herausfinden, jedoch vermute ich, dass es sich vor allem um Filmrisse und schlecht erhaltenes Material handeln könnte, da die für die DVD abgetastete Kopie erhebliche Qualitätsschwankungen aufzuweisen hat. Eine zusätzliche Möglichkeit wäre das Fehlen der vollständigen Tonspur, bzw. ihre zu starke Beschädigung, da deren Restaurierung Anfang der 50er für einen Kinoneustart zu aufwendig gewesen sein muss.

Ein Walzer für Dich – Deutschland 1934 – 94 Minuten – Regie: Georg Zoch – Drehbuch: Hans H. Zerlett, Georg Zoch – Produktion: Vahayn Badal – Kamera: Willy Winterstein – Musik: Will Meisel – Liedtexte: Hans H. Zerlett – Schnitt: Alwin Elling – Bauten: Erich Czerwonsky – Darsteller: Louis Graveure, Heinz Rühmann, Camilla Horn, Maria Sazarina, Theo Lingen, Fritz Odemar, Adele Sandrock