Das ist er. Der einzig wahre deutsche Agentenfilm – wenn es jemals so etwas wie einen deutschen Agentenfilm gab. Das ist sie, die einzig wahre Agentenfilm-Persiflage, wenn es jemals eine wirklich gewitzte, pointierte Agentenfilm-Persiflage gab. Das ist sie, die deutsche Nouvelle Vague, so gar nicht „neuer deutscher Film“ und weit weg von Godards ALPHAVILLE. Das ist der Eurospy-Film, der mehr 60ies-Pop, mehr lässige Attitüde, mehr unschuldigen Sex, mehr schrille Set-pieces und mehr charmante Selbstverliebtheit im Dialog zur Schau stellt.
Ein deutscher Agenten-Comic, in biegsam-stilvernarrtem Techniscope und knalligen Werbefarben. In dem nach nur wenigen Minuten Hellmut Lange seinen Einzug in die USA auf Wasserski vor der Golden Gate Bridge halten und sich gleich in den berühmten Zick-Zack-Turbinen der Lombard Street von Barbara Lass vor seinen Verfolgern retten lassen darf. In dem reuelos ordentlich gekifft wird und anschließend Schäferstündchen in einem luxuriösen Doppelbett am nächtlichen Strand von San Francisco abgehalten werden. In dem der Held sich explosiver Frühstücksbrötchen erwehren muss . In dem ein deutscher Geheimagent mit seinem Privatflieger in Las Vegas mitten auf der Hauptstraße landen kann. In dem die Frauen die Hosen anhaben und dem Helden befehlen können, für sie selbige inklusive Unterwäsche herunterzulassen. In dem Tony Kendall einen schmierigen Gentleman-Gauner a là Peter Voss spielt und Italowestern-Chefdirigent Francesco de Masi die groovige Musik besorgt. In dem sich der große Endkampf in einem Aquarium mitten in der Wüste abspielt. Und durch den sich ein unverschämt gut aufgelegter Hellmut Lange, ein urdeutsches Charaktergesicht, mit seinem unverwüstlichen Narbengesicht mit einer dreisten Chuzpe gaunert, ja, mit einer spezifisch „deutschen“ Coolness, die sich in den köstlichen Dialogen als das Produkt typisch deutscher Gründlichkeit manifestiert – Dialogen, die man als solche wahrnehmen darf und soll. Denn die Anlage des Films ist (Steil-)Vorlage, seine Schauplätze, seine Darsteller, deren Namen statt im fehlenden Vorspann beim jeweils ersten Auftritt ihrer Figuren eingeblendet werden.
Ein Film, der die Pop Art ins deutsche Kino trägt, die Acid-Ästhetik der späten 60iger und frühen 70iger vorwegnimmt und – und das ist im Film auch wirklich so unglaublich wie es klingt – die filmische Postmoderne im Geist eines Quentin Tarantino im Jahr 1965 mit einer Exzessisivität und verspielten Selbstverständlichkeit betreibt, dass einem in fassungsloser Hilflosigkeit und entgeisterter Begeisterung die Kinnlade nach unten klappt. Ungefilterte Liebe zum überlebensgroßen Kino-Eskapismus, wie ihn das deutsche Kino so vielleicht nie wieder gesehen hat. Purer cineastischer Sex-Appeal mit Mut zur Albernheit aber strikter Ablehnung der Klamotte. Dieser Film ist der ultimative Beweis dafür, dass das heutige Verständnis von filmischer Postmoderne ein einziger großer, grotesker Irrtum ist: Selbstverweis und Ironie, sie müssen nicht zwangsläufig das Ironisierte und dessen Eigendynamik sabotieren sondern können lustvoll miteinander harmonieren. SERENADE FÜR ZWEI SPIONE ist ein verschmitzter Kniefall vor dem Genre-Kino und vor einer intellektuell-entspannten Rezeption desselbigen, ein Kniefall vor einem Kino, wie es in Deutschland nie Tradition gewesen ist und tragischerweise nie sein wird, vollzogen mit solcher Inbrunst, dass er diesen Verlust beinahe im Alleingang kompensiert. Wie würde unser Held John Krim alias 006 sagen? „Ich hab‘ doch schon immer gewusst, dass ich das besser kann als diese Amis. Hatte nur keine Gelegenheit, es zu beweisen!“
SERENADE FÜR ZWEI SPIONE – BRD/Italien 1965 – Regie: Michael Pfleghar – Produktion: Hans Jürgen Pohland – Drehbuch: Klaus Munro und Michael Pfleghar – Kamera: Ernst Wild – Schnitt: Margot von Schlieffen – Ausstattung: Peter Scharff – Musik: Francesco De Masi Darsteller: Hellmut Lange, Barbara Lass, Heidelinde Weiss, Tony Kendall, Mimmo Palmaro, Wolfgang Neuss
Die sich schleichend entwickelnde Tragödie des wandernden Hahnenkämpfers Asakichi, der völlig ohne Absichten durch seine Liebe zu der Geisha Kotoito in den Machtkreis der Yakuza gerät, beschreibt Yasuzo Masumura über weite Strecken nüchtern ohne die expressive Schwerblütigkeit seiner frühen Melodramen. Die Welt, von der Asakichi und der sich ihm anfangs noch enthusiastisch anschließende junge Ex-Yakuza Sada absorbiert werden, wird von starren männlichen Verhaltenskodizes beherrscht, von ehrenhaften Selbstopfern und einem undurchdringlichen Zyklus formell-traditioneller Gesten, deren Macht Asakichi widerstandslos die unerwünschte Position als Yakuza-Hauptmann akzeptieren lassen und an der die Frauen um ihn und Sada zugrunde gehen, da sie nicht in der Lage sind, sich diesem ewigen Spiel aus Abhängigkeiten und maskulinen Ritualen weit genug anzupassen, in dem die Kette fallender Dominosteine nie zuende geht. Gewaltsam zu Ende gebracht wird sie schließlich, wie so oft bei Masumura, durch die mit japanischer Konsequenz und Determiniertheit ohne Selbstzweifel gewählte letzte Option des Suizids, der hier, anders als in seinen Melodramen, nicht einmal mehr aktiv verübt wird. Das System, welchem sich Asakichi und Sada unterworfen haben, will sie vernichten – und vernichten lassen sich beide willenlos, Sada von den Yakuza und Asakichi von einer Gesellschaft, deren Werte sich so eindeutig in ihrer Unterwelt widerspiegeln, dass für ihn keine Hoffnung mehr besteht, den Rest an Liebe, der ihm geblieben ist, in das befreiende Ideal zurückzuverwandeln, als das er ihm, dem von seiner Familie vor Jahren Geächteten, zu Beginn des Films stillschweigend und ohne Erwartungen erschienen ist. Masumuras Figuren sehnen sich bis zur völligen Selbstaufgabe danach zu leben, doch sie schreien erst dann mit einer alles verzehrenden Verzweiflung danach, steigern sich erst dann in den ihnen zustehenden emotionalen und sinnlichen Exzess, wenn sie sich in einem rituellen Todeskampf noch einmal ekstatisch aufbäumen. Das hat dieser, in seinen intimen Momenten mit observierender Distanz und in seinen zahlreichen Kampfszenen betont physisch, trocken brutal aber auch bewusst undynamisch inszenierte, stählerne Film mit den düsteren, erdrückenden und leidenschaftlichen Melodramen gemein, die Masumura in den 60iger Jahren mit seiner Muse Ayako Wakao in der Hauptrolle drehte. Ein Gangster-Film, der keiner ist, weil die Gangster zwar zentrales Motiv sind, allerdings ihrer verqueren Moral enteignet werden. Vielleicht hätte sich Francis Ford Coppola mit seinem THE GODFATHER PART II unangenehm berührt gefühlt, wenn er diesen Film gesehen hätte. Ihm wäre dann vielleicht bewusst geworden, dass man die Hölle eines Systems nur dann wirklich als solche in Szene setzen kann, wenn man sie selbst mit voller Intensität fühlt.
Es hat auf mich langsam den Anschein, als würde im kommerziellen japanischen Kino (respektive Mainstream) wesentlich unmittelbarer auf die Enge und die Kompromisslosigkeit, die emotionale wie sexuelle Repression und perfide Konsequenz des eigenen Kulturkreises reagiert als im Amerikanischen, wo eine konkrete Reaktion oft erst mit einer Distanz in der Perspektive einhergeht – zumindest ist das ein Gedanke, der mir bei meinen jüngsten Begnungen mit den Filmen Yasujiro Ozus (den ich nicht sonderlich schätze, obwohl er das Übel mit seinen eigenen Waffen zu schlagen versucht), Nagisa Oshimas (bei dem der intellektuelle Verarbeitungsprozess sofort auf den Impuls folgt) und eben Masumuras gekommen ist. Masumura allerdings lässt den Impuls einfach schwingen, solange, bis aus den kleinen Wellen eine schaumgekrönte, wogende Wasserwand erwachsen ist, die tosend in sich zusammenfällt und den Versuch des Begreifens ertränkt. Masumuras Filme erlangen Transzendenz durch Exzess. Das teilen sie mit anderen aggressiv existenzialistischen Regisseuren wie Andrzej Zulawski, Douglas Sirk oder Paul Verhoeven, die zu meinen engsten Lieblingsregisseuren gehören, deren Kreis Yasuzo Masumura nun, nach nur sechs Filmen, mit AKUMYO: SHIMA ARASHI offiziell beigetreten ist. Seit langem hat mich kein Filmemacher mehr so nachhaltend und umfassend inspiriert, stimuliert, berührt und vor allem zutiefst verstört. Diese Filme sind ein Geschenk, für das man sich nicht oft genug bedanken kann. Ich wünschte, ich wäre in der Lage, mehr und schlüssiger über sie zu schreiben. Doch Filme wie diese kann zumindest ich unmöglich adäquat in Worte fassen. Man muss sie in erster Linie spüren.
5 Masumura-Filme, 5 neue Lieblingsfilme: MANJI – DIE LIEBENDEN* (1964), SEISAKU’S WIFE ** (1965), RED ANGEL* (1966) , DIE BLINDE BESTIE * (1969) , AKUMYO: NOTORIOUS DRAGON (1974)
* Auf DVD in England von Yume Pictures und den USA von Fantoma erhältlich. In Deutschland sind bei Rapid Eye Movies „Die blinde Bestie“ und „Irezumi“ (1966) erschienen. ** In Frankreich auf DVD erhältlich von Ciné Malta, leider nur mit französischen Untertiteln und in mäßiger Bildqualität.
Anmerkung: Offenbar handelt es sich bei AKUMYO: SHIMA ARASHI um den letzten Teil einer ganzen Serie von Filmen um den von Shintaro „Zatoichi“ Katsu gespielten Hahnenkämpfer Asakichi. Davon habe zumindest ich beim Ansehen nichts bemerkt; der Film wirkt in sich abgeschlossen, auch wenn Kenner der übrigen Filme den Protagonisten vielleicht weniger enigmatisch empfinden dürften als ich.
Abschließend noch ein Zitat von Masumura, auf dass ich in der IMDb gestoßen bin:
„My goal is to create an exaggerated depiction featuring only the ideas and passions of living human beings. In Japanese society, which is essentially regimented, freedom and the individual do not exist. The theme of Japanese film is the emotions of the Japanese people, who have no choice but to live according to the norms of that society . . . After experiencing Europe for two years *, I wanted to portray the type of beautifully vital, strong people I came to know there.”
* Masumura studierte Anfang der 50iger Jahre Film am “Centro Sperimentale Cinematografico“ in Rom.
Und als negatives Fundstück ein in meinen Augen zumindest äußerlich (es handelt sich allerdings nur um einen Hinweis auf eine Masumura-Reihe im Arsenal-Kino Berlin) ausgesprochen engstirniger Kurztext, der eindimensional am Geist von Masumuras Werk vorbeischreibt, da er nicht der durchaus fließenden Entwicklung des Regisseurs nachspürt sondern sein Schaffen in handelsübliche Kategorien handelsüblichen Kritiker-Jargons einbettet und ihm im Vergleich mit Nagisa Oshima (der selbst zu Masumuras Anhängern zählte) auch flugs noch unterstellt, weniger radikal gewesen zu sein:
Entfremdetes „upper class“-Pärchen fährt ans Meer, um das Wochenende im eigenen Strandhaus zu verbringen. Er (Riccardo Salvino) ein luschiger, pedantischer und dumpfer Spießer wie er im Buche steht, Sie (Mara Maryl) frustriert und apathisch nach Jahren trister bürgerliche Ehe-Routine, die offensichtlich nicht in ihrem Sinne war. Doch just nach einer besonders unromantischen, mechanischen „Liebesnacht“ naht eine Brise, die frischen Wind ins Eheleben bringen wird: Ein Quartett von grimmig dreinschauenden Rockern bzw. Bikern (…) steht vor der Tür und verliert keine Zeit: Noch vor dem Frühstück bekommt der brave Hubby eine Faust in die nüchterne Magengrube und die kratzbürstige Ehefrau einen ganz und gar unerwünschten Besucher in ihr Bett. Doch das Blatt wendet sich schnell, denn Sie entdeckt in Fred (Robert Hoffmann), dem Anführer der Gang, all ihre seit Jahren ungestillten Sehnsüchte nach Freiheit und einem Leben ohne betäubende Gleichmäßigkeit. Das passt ihrem Gatten, der sich bisher ängstlich winselnd in die Ecke hat drängen lassen, natürlich gar nicht und er beginnt nach allen Regeln der Kunst zu intrigieren, um die haltlosen Rauhbeine gegeneinander auszuspielen… Weiterlesen “Rocker sterben nicht so leicht (1971)” »
Wenn man einem seltenen Film jahrelang verzweifelt hinterjagt, nach obskursten Fassungen fahndet in der Hoffnung, es möge einem doch irgendwann eine alte Kaufkassette oder TV-Aufnahme in die Hände fallen, ist man im entscheidenden Augenblick – wenn man das Objekt cineastischer Begierde schließlich ungläubig in Händen hält – in der Regel auf alles gefasst. Denn man hat ja schließlich schon Zeit genug gehabt, in alle erdenklichen Richtungen zu spekulieren.
Seit ich vor etwa vier Jahren Giulio Questis Fiebertraumhaften Italowestern SE SEI VIVO SPARA (“Töte, Django!” – Ein Film aus dem Land jenseits des Hades!) sah, habe ich den Werken der sehr überschaubaren Filmographie des mysteriösen Filmemachers mit viel Energie nachgejagt. Seinen avantgardistisch-grotesken, antikapitalistischen Thriller LA MORTE HA FATTO L’UOVO („Die Falle“) aufzutreiben war aufgrund dessen häufiger (fälschlicher) Zuordnung zum Giallo-Genre nicht allzu schwer. Doch ARCANA, der dritte und traurigerweise auch letzte Kinofilm Questis, schien praktisch außerhalb italienischer Archive nicht zu existieren. Ein Horrorfilm sollte es sein, ein übersinnlicher – und das von diesem exzentrischen, ganz und gar unangepassten, ruppigen Giulio Questi! Vor meinem damals frisch in Leidenschaft fürs Surreale entflammten Auge sah ich wilde, glühende und delirierende Abgründe sich auftun und bastelte mir den Film auf abenteuerliche Weise im Kopf aus den anderen beiden Questi-Filmen zusammen. Weiterlesen “Arcana (1972)” »
In Kurt Hoffmanns Verfilmung des ewigen Jugendbuch-Klassikers nimmt Kästners Erzählweise die epische Erscheinungsform an, die ihr gebührt – nicht zuletzt wegen seiner Drehbuchmitarbeit sehr viel mehr als in den meisten anderen Adaptionen seiner Romane. Kästners klarer und manchmal auch erschreckend direkter Blick auf das Innenleben seiner Charaktere, denen er menschlich so oft so erstaunlich und bewunderswert nahe kam, ohne sich ihnen dabei als „Schöpfer“ aufzudrängen und ihnen ihre Intimität zu nehmen, ist hier mit beachtlicher Kongenialität in eine den Kitschfallen des kommerziellen deutschen Nachkriegsfilms weitgehend elegant ausweichende, transparente Filmsprache übersetzt worden. In seinen Anflügen von poetischem Realismus (Kamera: Friedl Behn-Grund – ALRAUNE [1952]) weckt Hoffmanns Film mitunter Reminiszenzen an die Filme von Jean Vigo – weniger an dessen Internatsfilm ZERO DE CONDUITE denn sein Hauptwerk L’ATALANTE- während das naturalistische Schauspiel insbesondere der jungen Darsteller wiederum an Elia Kazan erinnert. Vergleiche wie diese können aber nur Randnoten sein, denn das hier ist ein Familienfilm – ohne den meisten negativen Konnotationen dieses Terms Rechnung zu tragen.
Die einzige Strömung in Kästners Werk, die seinen suchenden Observationen und seinem Humanismus hier und da widersprach, war sein – sicherlich auch der gesellschaftlichen Mentalität während der Jahrhundertwende geschuldeten – Hang zu überstürzten moralischen – wenn auch niemals reaktionären oder schulmeisterlichen – Implikationen, die unter anderem in seinen Kurzgeschichten dominanter auftreten als hier. Vieles davon hat sich in den Film gerettet und doch ist es wundersam und beeindruckend, mit wieviel Respekt Hoffmann den Charakteren vielleicht nicht ganz auf Augenhöhe aber doch auf „Wellenlänge“ begegnet. Kinder im deutschen Nachkriegsfilm sind ein zwiespältiges Kapitel für sich. DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER gehört zu den wenigen deutschen Filmen der 50iger, in dem sogenannte Kinder- und Jugend -Probleme angerissen werden und der dafür ohne Scheu vor dunklen Untertönen das Melodram schrammt – für eine Fokussierung auf Kinder und Jugendliche in der gesellschaftlichen Hierarchie war es noch zu früh.
Zwischen den verträumten, schwarzweißen Postkarten-Impressionen des verschneiten Kufstein und der Rahmenhandlung um die Theateraufführung auf der Weihnachtsfeier stehen Momente, in denen die Angst vor dem Verlust dieser mit versonnenem Ernst zusammengehaltenen Verbindung der Jungen, dieser Ersatz-Familie durchschimmert. In denen der von familiären Notständen geplagte Martin im Stillen und der um seinen Status in der Gruppe bangende Uli schließlich lauthals Höllenqualen durchstehen. Vor allem wer selbst ein Internat besucht hat, wird die Präzision der Milieuzeichnung zu schätzen wissen, die Darstellung der Figur des Justus und seines Verhältnisses zu den Schülern – und die spezifische Romantik und nur sporadisch ins Sentiment abgleitende Zärtlichkeit, die Hoffmann und Behn-Grund ihr einhauchen. Vor allem besagte Milleuzeichnung illustriert die Zeitlosigkeit der vor allem inneren Konflikte, die bei Kästner beinahe immer auf emotionaler Repression beruhen. „Warum hast du mir das denn nie gesagt?“ fragt Matz Uli an seinem Krankenhausbett. Dass diese Frage nicht nur im Drehbuch steht, sondern sich durch den gesamten Film zieht und dabei die meisten jungen wie erwachsenen Figuren miteinbezieht, das macht DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER zu einer allen zeitgeistigen Widrigkeiten trotzdenden deutschen Meisterleistung auf dem Feld des Kinderfilms.
DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER – BRD 1954 – Regie: Kurt Hoffmann – Drehbuch: Erich Kästner, nach seinem Roman – Produktion: Günther und Klaus Stapenhorst – Kamera: Friedl Behn-Grund – Musik: Hans-Martin Majewski Darsteller: Peter Tost (Martin), Bert Brandt (Matz), Knut Mahlke (Uli), Peter Kraus (Johnny), Axel Arens (Sebastian), Michael Verhoeven (Ferdinand), Peter Vogel (Der schöne Theodor), Paul Dahlke (Justus), Paul Klinger (Der Nichtraucher), Heliane Bei (Schwester Beate), Bruno Hübner (Professor Kreuzkamm)
Donnerstag, der 17. 12. 2009 gegen 23:30. Ich bereite voll Eifer meinen ersten Beitrag zu unserer deutschen Reihe – nach 7 Monaten England – vor, einen Text zu KAMINSKY – EIN BULLE DREHT DURCH. Kurz vor dem entscheidenden Schritt, respektive Klick, die große Verunsicherung. Der Text umfasst etwa 750 Wörter. Aus den Tiefen meines Hinterkopfes ruft eine Stimme „Zwischen 300 und 500 Wörter“. Und nun? Die Stimme ignorieren und doch posten – ist immerhin für meine Verhältnisse halbwegs gelungen und gar nicht mal so lang – oder lieber erst meine werten Kollegen und Freunde fragen? Schließlich sollte das gute Stück noch vor Mitternacht online gehen.
Minuten inneren Kampfes. Schlussendlicher Sieg der Unsicherheit. Anruf an Andreas, der um diese Zeit normalerweise auf ist und als Organisationsgenie wissen muss, was und wie. Er weiß es auch nicht.
Eigentlich sollte er möglichst nicht länger als 500 Wörter sein, andererseits sei es natürlich schwierig, wenn ich mich außerstande sähe, ihn zu kürzen und es sei ja schon fast Mitternacht.
Vorläufiges Verbleiben bei dem Vorschlag, den Artikel fertigzustellen, zu posten und im Zweifelsfall wieder zu entfernen.
Minuten verstreichen im Angesicht meines Schweißes bei fleißigem Werkeln an HTML, Bildern und Absätzen.
Plötzlich um Mitternacht ein unerwarteter Anruf. Andreas. Er habe mit Sano telefoniert. Ich solle den Text in dieser Länge auf gar keinen Fall posten. Verwirrung und dunkle Vorahnungen meinerseits. Warum sei das denn so schlimm? Der Text sei doch nicht exzessiv lang.
Das schon, aber sie hätten sich darauf eben geeinigt. Aber ohne mich, wie ich, zunehmend verstimmt anmerke. Sofortiger Beschluss, mit Sano zu sprechen. Sano guckt gerade mit Alex S. DIE ÖFFENTLICHE FRAU und ist genervt. Eine halbe Stunde später um 1:15 ist es soweit. Sie hätten sich nach reiflicher Überlegung auf dieses Konzept geeinigt und ich könne nicht verlangen, es jetzt einfach umzuwerfen. Aber es wären doch nur 250 mickrige Wörter. Das seien aber schon 50 % mehr, meint Sano. Warum dieses Limit überhaupt so wichtig sei. Und das wir uns damit doch filmdienstlich-spießig geben würden, meine ich.
Kochendes, funkensprühendes und zischendes Debattieren und Ping-Pong-Spiel mit Metaphern über die Sinnfälligkeit von Regeln/Limitierungen, verteilt über 45 Minuten. Entnervtes Stöhnen von Alex S. im Hintergrund. Warum sich Christoph nicht einfach dem Mehrheitsbeschluss fügen könne. Bedrohliches Gebrumm meinerseits und sich stimmlich überschlagende Bestimmtheit von Sano. Sie alle hätten sich nach langen Diskussionen diese Herausforderung gesetzt und ich hätte protestieren können. Aus dem fernen England, sage ich und betone nochmals, das ich mich übergangen, als Autor rigide zurechtgestutzt fühle, so nicht arbeiten kann, das wir solche Beschränkungen nicht brauchen. Doch, weil sonst alles ausartet und an Form verliert, meint Sano. Weitere 30 Minuten Disput bis zu meiner Forderung einer Krisensitzung zum Thema und Vorschlag, den Text zur Kürzung in Alex‘ und Sanos Hände zu begeben. Missmutiges Gutenachtsagen um 2:30.
Am nächsten Tag eine erfolgreiche persönliche Diskussion. Vielleicht wäre zukünftig ein 300-Wörter-Maximum doch vorteilhafter, zur Vermeidung von Versuchungen. Friedfertiger Konsens und mein unbehelligter KAMINSKY-Text, der in Kürze statt in dieser Reihe einfach regulär auf dem Blog zu finden sein wird. Das waren 500 Wörter, Schluss.
Der Traum vom großen amerikanischen Kino der übergroßen Archetypen. In Frankreich ist es nicht nur genreaffinen Filmemachern eine Gewohnheit – eigentlich schon eine französische Kinotradition – geworden, ihn zu träumen oder mit ihm zu spielen. In Deutschland wird er meist eher von eisenharten Produzenten denn Regisseuren geträumt. Wenn er dann einmal von einem Filmemacher geträumt wird, muss alles da sein. So wie hier: Der verbitterte, alternde Sheriff, der alles und jeden verachtet und in seinem eigenen Schnapstümpel ertrinkt. Der junge, unerfahrene Deputy, der mit dem Zynismus und der Brutalität seines Chefs nicht zurechtkommt. Die einsame und resignierte Ehefrau des Sheriffs, die eine Affäre mit dem Deputy unterhält. Das von zuhause ausgerissene Mädchen in Not, dass zum Auffänger, Sündenbock und Versuch(ung)sobjekt dieser drei nicht minder notleidenden Existenzen avanciert. Und das heruntergekommene, alte Polizeirevier am Rand der Stadt, in einem alten Lagerhaus, in einem Niemandsland leerer Häuser und dreckiger Straßen. Hier kommt das dunkle Gesicht von John Wayne und die stereotype Seite des „new Hollywood“ zum Vorschein.
Und, weil wir hier in dem kochenden, superassigen Klaus Löwitsch nicht nur einen deutschen Jack Nicholson sondern auch einen bei aller markigen Selbstdarstellung und monströsen Inszenierung seitens der Regie immer ein wenig zu echt wirkenden, von Frustration und Lebensverschwendung ermüdeten deutschen Beamten sehen, der die Nase voll hat.
Das kann, hoffentlich, zu der Erkenntnis führen, das frustrierte Beamte und vor allem frustrierte Polizisten kein Phänomen sind, dass exklusiv dem amerikanischen Kino angehört und auch keines, dass im deutschen Kino nur dann auftauchen kann, wenn es ein amerikanischer Film vormacht. Die Bewunderung für Regisseure wie Sidney Lumet, Francis Ford Coppola und Martin Scorsese trieft hier zwar aus allen Poren, gleichzeitig wird aber auch gefiltert – durch jenen Abstraktions-Filter, mit den das französische Kino der 60iger und 70iger Jahre bereits das „Amerikanische“ beäugt hat und mit einem sicheren Gespür dafür, wo die Faszination enden und einer kulturell unterfütterten Wirklichkeit Platz machen muss. Und die hält in KAMINSKY sehr schnell einen deftigen Einzug nach dem prototypischen und irritierend streng konstruierten Auftakt, der seine treffsicher gewählten Klischees mit beachtlicher Unverfrohrenheit platziert.
In besagter Eröffnungsszene schlägt Kaminsky mit von der Brotzeit noch fettigen Händen in einer schäbigen Kneipe einen Drogendealer zusammen, als Gefälligkeit für den vor Angst zitternden Wirt, dessen Sohn apathisch im Drogenrausch dem Geschehen folgt. Eine Western-Szene ist das, ohne jede Frage. Aber sie gibt nicht den Ton des übrigen Films vor, sondern bemerkt mit leiser Süffisanz, wie unmöglich sich der assoziative Kreislauf zwischen Publikum – Öffentlichkeit, „Tough guy“ – Polizist und Kino – (medialer) Wirklichkeit aufbrechen lässt – und dass man sich gegen seine Unzerstörbarkeit nicht wehren sollte. Wenn der Film wenig später sein fiebriges Kammerspiel in die Wege leitet, erkennen wir, warum wir uns gewehrt haben, gegen diese Klischees. Weil wir sie so direkt wiedererkannt haben, als Bausteine aus anderen Filmen und damit aus einer anderen Wirklichkeit, was uns nur daran hindern kann, hier, in KAMINSKY, eine eigene Wirklichkeit zu finden.
Aber wir bekommen sie, auch wenn Michael Lähn hier einen dieser Filme gedreht hat, bei denen man mit konstant zunehmender Unsicherheit darüber grübelt, ob man sich eher ohne Scham und ungehemmt an der asozial-schmierigen Soziopathen-Show des Protagonisten ergötzen soll oder mit feierlichem Ernst der Stimme der wirklichen, deutschen Wirklichkeit hinter dieser filmischen, amerikanischen Wirklichkeit lauschen soll. Der Film ignoriert dieses Grübeln mit Nonchalance und steigert die Widersprüche seines kleinen Universums bis zum Exzess. Ohne dabei den Bezügen zur wirklichen Wirklichkeit ein Gesicht, ein griffiges Profil zu geben. Nur am Ende, als wir dem negativen Höhepunkt dieser angestauten Frustrationen und dieses Zynismus, der Vergewaltigung des Mädchens, aus Dieters Perspektive in der dunklen Toilette beiwohnen, sie also nur mithören, da verflüchtigt sich die filmische, postmoderne Wirklichkeit für einen Moment und die zeitgenössische Wirklichkeit quetscht ihr verkatertes Gesicht durch den Rahmen. Das allerdings bevor wir nach dem finalen Duell, der Konfrontation, der Eskalation völliger Katharsis, das Revier verlassen, dass in der Morgendämmerung wie ein friedliches Monument daliegt, wie ein Western-Saloon. Wenn wir verschiedene, uns bekannte filmische Wirklichkeiten und die Polizisten und Gangster, denen wir dort begegnet sind, durcheinander bringen oder nicht erfolgreich vor unseren Augen verschmelzen können, denken wir in diesen kurzen Momenten des Leerlaufs vielleicht kurz daran, dass sie auch nur Menschen sind und flüchten uns in die wirkliche Wirklichkeit. Aber sobald Ordnung einkehrt in der filmischen Wirklichkeit, wollen wir keine Menschen, sondern Archetypen. Kaminsky ist ein zünftig-deutscher und demzufolge natürlich besonders teutonischer Archetyp, der immer darauf gewartet hat, seine filmische Wirklichkeit zu bekommen. Dass er dabei eine amerikanische Hilfestellung in Anspruch genommen hat, sollte man ihm nicht negativ anrechnen. Dadurch würden sich die beiden Wirklichkeiten unter dem Vorzeichen deutscher Kultur-Identifikation mit amerikanischen Attributen nur wieder in die Haare kriegen – und das wäre doch schade.
Kaminsky – BR Deutschland 1984 – 80 Minuten – Regie und Drehbuch: Michael Lähn – Produktion: Klaus Sungen – Kamera: Jörg Seidl – Schnitt: Camilla Bernetti – Musik: Roberto C. Detree – Darsteller: Klaus Löwitsch (Rolf Kaminsky), Alexander Radszun (Dieter Stecker), Beate Finckh (Renate), Hannelore Elsner (Nicole Kaminsky)
Hinweis: Ursprünglich war dieser Text für die „100 Deutsche Lieblingsfilme“-Reihe gedacht. Warum er dort nicht erschien, ist hier nachzulesen.
… spontan untersucht am Beispiel von CAPOTE (2005).
Es funktioniert eben doch so gut wie nie. Das mit dem „einen Film absichtlich schlecht finden“. Jedenfalls nicht mehr bei mir. So gut wie nie mehr. Mit eiserner Disziplin habe ich für zwei Jahre versucht, eine Technik zu entwickeln, die es mir erlaubt, alle eventuell vorgefassten Meinungen, Vorurteile, Erwartungshaltungen, Prinzipien zur Beurteilung filmischer Qualität, naheliegende Vergleiche, aus denen sich Erwartungshaltungen speisen könnten und eben all diese ganzen schönen Bretter vor dem Kopf mit Aufblenden des Projektors oder Drücken der „Play“-Taste über Bord zu werfen und mich völlig in die Hände des jeweiligen Filmes zu begeben, um ihm die Chance zu lassen meine Gedanken zu formen und nicht umgekehrt. Gelegentlich bezeichne ich mich daher auch scherzhaft als „Film-Hure“, die alles nimmt. Bisherige Versuche, dieses „Prinzip gegen Rezeptionsprinzipien“ anderen Cineasten zu erklären, schlugen weitgehend fehl und ich möchte mich damit hier auch gar nicht aufhalten (viel zu kompliziert!), denn es wurde mir sogar schon vorgeworfen, mich von der Filmrezeption auf die Rezeptions-Rezeption zu verlagern und manchmal kann man einfach nicht anders, als die Lästermäuler durch Schweigen zum Schweigen zu bringen. Und manchmal, trotz all der wundersamen Überraschungen und der grenzenlosen Freiheit von Gedanken und Assoziationen die dieser sich inzwischen gänzlich in einer diffus blubbernden Gedankensuppe verselbstständigte Rezeptions-Ansatz mir gebracht hat und mit der sich meine Sicht aufs Kino radikal verändert hat (sowas klingt immer schön und flach weswegen man beim dreschen derartiger Phrasen immer gerne darauf hinweist, dass man sie nur bei genuinen Anlässen drischt), verwünsche ich ihn fast.
Denn wo ist sie nur hin, die geliebte einstige Selbstdisziplin, mit der ich meine, nennen wir es mal ganz profan „Meinungsbildung“, lenken und manchmal auch geradezu domptieren konnte? Was, wenn meine Rezeption tatsächlich, wie auch schon unterstellt, ein wenig zu beliebig, zu wohlwollend, zu unkritisch, zu diffus geworden ist?
Zu meiner eigenen Genugtuung überwiegt die meiste Zeit die Erleichterung darüber, dass ich mich von oben beschriebenem Ballast befreien konnte, der exzessive Genuss der Vorzüge und die geheime Sehnsucht, dass dieses Rezeptions-Modell unter Cineasten vielleicht mal mehr in Mode kommen könnte als es jetzt der Fall ist. Nicht mit mir als Missionar, oh nein! Lediglich, um Filmen mehr Spielraum zu gewähren, die ihn unter den üblichen Vorraussetzungen nicht bekommen. Und da will ich auch gar nicht zu schrill sein sondern mir beispielsweise nur wünschen, dass ein paar mehr Leute Jess Franco gelegentlich auch als ernstzunehmenden Künstler in Betracht ziehen denn angeblich einige nerdige französische Filmkritiker (diese ominösen französischen Filmkritiker sind schon beinahe ein mystisches Klischee für sich, dass man immer nach Belieben zitieren kann, ohne konkret zu werden, nicht wahr, lieber Filmdienst?). Warum schreibe ich all das mit „Capote“ als Beispiel, einem Film der von vorne bis hinten gängigen Vorstellungen von anspruchsvollem Qualitäts-Kino entspricht?
Gerade deswegen eben! Hat mich diese Öffnung – mit der ich nach eigener Einschätzung noch bei weitem nicht an meine Grenzen gestoßen bin da ich mich regelmäßig dabei ertappe, beispielsweise über einen meiner werten Mitautoren hier zu schmunzeln, wenn er in Unverständnis über die Reputation eines durchweg anerkannten Klassikers die Stirn runzelt oder einen obskuren Hongkong-Actionfilm aus den 70igern mit Eisenstein vergleicht – vielleicht verletzlicher gemacht für Manipulation, den segensreichen Fluch des Kinos, den wir ebenso faszinierend wie, in Cineastenkreisen zumindest, auch gelegentlich beängstigend finden? Bin ich am Ende dank dieser Veränderung meiner Rezeptionshaltung wieder genau in dem Stadium angekommen, dessen Kreation ich noch vor etwas mehr als drei Jahren so lautstark als die Todsünde des Hollywood-Kinos beschimpfte, im Zustand williger Manipulierbarkeit für gefälligen Eskapismus und emotionale Prostitution?
Mit Hollywood-Kino beziehe ich mich hier, natürlich, primär auf die letzten 20 bis 30 Jahre, größtenteils. Auch ein springfreudiger Cineast, der zwischen den Dekaden, zwischen Ton- und Stumm-, Farb- und Schwarzweiß-, Vollbild- und Breitwandfilm nach Herzenslust hin- und herhüpft, ist doch ein Stück weit als Filmgucker in seiner eigenen Zeit verankert (wäre es erschreckend oder vorteilhaft, wenn nicht? Das wäre eine andere interessante Frage, die man beliebig erweitern und hypothetisch auseinandernehmen könnte).
Es wäre verführerisch ersteres Kino („gefälliger Eskapismus“) ins Feld zu führen, beispielsweise mit dem von mir kürzlich gesichteten und (vielleicht, aber nicht notwendigerweise dank akutem Filmentzug für Wochen) erheblich genossenem „V for Vendetta“. Weiterlesen “Das Joch cineastischer Selbstdisziplin…” »
Ich veröffentliche diesen Text in erster Linie, um zu illustrieren, wie glücklich es sich eigentlich doch trifft, dass man in der Regel doch nur verhältnismäßig selten die Romanvorlagen von Literaturverfilmungen gelesen hat und wieviele Bretter vor dem Kopf die schiere Unmenge an Romanen und ihren Verfilmungen einem kosten- und energielos erspart. Als Filmkritik ein Desaster, als Exempel aber unter Umständen brauchbar.
ENDLESS NIGHT (zu deutsch nichtssagend, aber in der langen Tradition der langweiligen deutschen Betitelung doppeldeutiger, poetischer oder mysteriöser Christie-Titel stehend „Mord nach Maß“ betitelt) war 1967 das überraschende literarische Comeback von Agatha Christie, gefeiert für seinen gewagten und frischen Stil. Die grande Dame der britischen Kriminalliteratur hatte sich zuletzt mit ihren Romanen A CARRIBEAN AFFAIR und BERTRAM’S HOTEL nur routiniert ihrer bewährten Miss Marple gewidmet – und mit dem 1966 veröffentlichten THIRD GIRL einige ihr neue Kritik geerntet. Schon in ihren Romanen während der 50iger Jahre verarbeitete Christie, Jahrgang 1890, ihr Befremden über die sich wandelnden Zeiten, insbesondere über die „moderne Jugend“ und ihr Versuch, in letzterem Roman die „Swingin‘ Sixties“ zu begreifen – oder auch nur ihre Impressionen selbiger wiederzugeben – erschien vielen Lesern und Kritikern eher grotesk, teilweise peinlich, als mutig. Christie reagierte trotzig – zumindest scheint es heute so – mit einem ihrer abgründigsten und verstörendsten Romane und zielte direkt ins Schwarze, mehr als in irgendeinem ihrer früheren, thematisch entsprechenden Bücher. „Michael Rogers dreamt of a perfectly designed house and a rich, beautiful wife. He found the girl and he built the house – but he built it at ‚Gipsy’s Acre‘, a place with a curse on it where sudden death had struck more than once…“ (Klappentext des Romans)
Christie schrieb diese Geschichte in erster Person – und versuchte damit, sich als 77jähriges, weibliches Relikt aus einer anderen Ära, in einen jungen Mann von „heute“ einzufühlen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Kritiker ihr danach bescheinigten, sich selbst neu erfunden zu haben. In einem ihrer letzten Romane hatte Christie diesen erstaunlichen Drahtseilakt gerade überzeugend genug absolviert um dem mit Horrorelementen versetzten Roman eine nachhaltig verstörende Wirkung zu sichern. Heute spürt man beim Lesen hinter manchen Passagen doch die gerunzelte Stirn, das Rümpfen der Nase und das leicht pikierte Winden bei der stellenweise unausweichlichen Verwendung des Wortes „Sex“. Aber trotzdem: Der Roman funktioniert hervorragend, ganz unabhängig von Christies Persönlichkeit und dem Kontext ihres umfangreichen Werkes. Und er funktioniert als düsteres Drama eines sinnbildlichen Abstiegs in die Hölle sehr viel besser denn als Thriller oder Kriminalroman. Christies Verleger William Collins überredete seine Erfolgsautorin schließlich sogar, einige der Nebencharaktere besser auszuarbeiten um die Semi-Auflösung am Ende effektvoller wirken zu lassen und mehr „Thrill“ in den Roman zu bringen.
Sidney Gilliats, von Christie kühl aufgenommene Verfilmung, eliminiert diese Verschleierung – und noch einiges mehr. Es erscheint dem Leser der Romanvorlage unmöglich, das psychologische Gefüge der Handlung zu begreifen, ohne mit selbigem nach der Lektüre vertraut zu sein. Die hastige Konstruktion der Beziehung zwischen Michael und Ellie kann als Beispiel dafür herhalten, wie der Film die als Vorlage für einen Psychothriller eindeutig sperrige Erzählung in das Korsett eines Genrefilms zu pressen versucht. Auch das Buch nimmt die Zeitspanne zwischen Ellies und Michaels erstem Treffen mit links, doch die Konstruktion ist geschickt und mit eben jenen Details versehen, die der Film auslässt – auslassen muss. Der Reiz der gutsituierten Dekadenz auf die Unterschicht und umgekehrt die abenteuerliche Anziehungskraft der rauhen Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft auf das wohlbehütete Mädchen aus reicher Familie, diese beiden dezent klischeeisierten Pfeiler, werden im Roman auf virtuose Weise als treibende Kraft in Ellies und Michaels Beziehung ausgestellt. Der Film umgeht sie mit der gleichen Vorsicht, mit der Christie versuchte, ihrem eigenen Klischee vom Klassen-Snobismus zu entgehen. Doch Gilliat will diese Elemente nicht, weil sie Produkt von Christies Perspektive sind. Eine Perspektive, die in einem effektvollen Unterhaltungsfilm für ein modernes Publikum 1971 eher unbequem denn entspannend ist, wenn man so will. Folglich entfällt einer der roten Fäden, der das moralische, oder eher: assoziative Gerüste der Handlung zusammenhält. Der Dreh- und Angelpunkt, die eigentümliche Beziehung zwischen Michael und Ellie, verliert an Glaubwürdigkeit und wirkt nun tatsächlich wie ein Konstrukt, erschaffen als Aufhänger, eher denn als Auslöser.
Dabei scheint Gilliat, der den Roman selbst adaptierte, das Potential seiner Vorlage sehr wohl erfasst zu haben. Szenen wie die Gartenparty der Philpotts, auf der Michael sich von Ellies gierigen Verwandten umzingelt fühlt, Michaels finaler Wutausbruch und vor allem die zentrale und tragisch-enigmatische Figur des gebrochenen Architekten Santonix die hier wie im Buch als Indikator und Prophet von Michaels emotionaler Verfassung fungiert, sind hervorragend getroffen. Die Besetzung Santonix‘ mit dem charismatischen schwedischen Schauspieler Per Oscarsson („Traumstadt“) erweist sich überhaupt als treffsicherster Punkt der Besetzung die ansonsten unter anderem den gegenüber der Vorlage, die auch den amerikanisch-britischen Clash zeichnet, unverzeihlichen Fehler begeht, eine amerikanische Hight Society-Familie komplett mit britischen Darstellern inklusive Akzenten zu besetzen. Dennoch: Der Geist ist da, die Stimmung ist da und es ist völlig belanglos das von Christies raffinierten und dennoch realistischen Dialogen nicht viel geblieben ist in Gilliats Drehbuch. Überhaupt fiele es soviel leichter, den Film in Frieden zu lassen, würde er freier und gelöster mit seiner Vorlage hantieren. Das sture Beharren auf Christies Plot ist völlig hoffnungslos, ist er doch bei aller Schlichtheit und der begrenzten Anzahl von Charakteren zu kurvenreich für rasende 100 Minuten Laufzeit. Es ist auch in diesem seinem letzten Film (bevor er 1972 den Freitod wählte) wie immer ein Vergnügen, den grossen George Sanders zu erleben, doch der von ihm verkörperte Uncle Andrew ist ein Charakter, der aufgrund der Straffungen der Adaption redundant wird und die Funktion eines „red herrings“ zugewiesen bekommt. In der Vorlage ist er der hintergründige, stoische Vorbote des gesellschaftlichen Konfliktes, den Michael zusammen mit Ellie geheiratet hat. Als Auslöser füer den finalen Plottwist wäre er hier jedenfalls nicht mehr erforderlich gewesen. Und überhaupt: Die atmosphärische Seite des Romans.
Auch im Film hören wir Michael aus dem Off erzählen, aber es ist nicht er, der seine Geschichte erzählt. Und trotz des effektvollen Ausverkaufs, den Gilliat streckenweise unverhohlen betreibt – wir bekommen unter anderem Michaels Erinnerung an den schicksalhaften Unfall seines Schulkameraden als grellen Flashback serviert – gelingt es ihm nicht, das einzufangen, was Christies Roman seine Nachdrücklichkeit verlieh – jene finstere Ahnung von Unheil, das Gefühl eines aufziehenden Sturms, der die zerrissenen Kleider der alten Zigeunerin im Wind flattern lässt, als sie Michael und Ellie ihr Unglück prophezeit, der lange Zeit unerklärliche fatalistische, morbide Tonfall, in dem uns Michael seine Geschichte erzählt und der durch den gesamten Verlauf für Unwohlsein beim Leser sorgt, das sich im Finale in Wahnsinn entlädt. All diese Eindrücke fehlen im Film und lassen den Roman paradoxerweise wesentlich näher am von Christie verachteten Horrorgenre erscheinen denn den Film, der sich weidlich, aber erfolglos darum bemüht, die dramatischen Momente der beinahe meditativen Erzählung auszukosten. Es ist unglaublich, wie beiläufig theatralische Momente wie der erste Auftritt von Mrs. Townsend im Film verpuffen.
Doch Gilliat macht zumindest im Finale vorübergehend wett, was er zuvor grobschlächtig umgeworfen hat. Christies, nennen wir es mal konsequenterweise, „altmodisches“ Streben nach Subtilität und Geschmack spielte ihr bei dem finalen Ausbruch des Wahnsinns zwischen Hass, Lust und Verzweiflung ein Schnippchen. Ihre Kritik an der freizügigen Sexszene gegen Ende des Films unterstreicht das sehr treffend. Gerade hier vermisst man im Roman bei allen Beben den konsequenten Schritt ins Leere, ins Chaos und zumindest diesen Effekt lässt sich Gilliat nicht entgehen und trägt schön dick auf, so wie man es sich im übrigen Film mehrmals gewünscht hätte (denn wie wunderbar sich Christies Romane bei Bedarf zum effektvollen Reisser umbauen lassen, zeigt ein Vergleich zwischen der geradezu pedantisch vorlagentreuen 1974er-Verfilmung von MORD IM ORIENTEXPRESS und der sehr freien, grellen, aber im Kern noch kongenialen Cannon-Produktion von RENDEZVOUS MIT EINER LEICHE). Zumal er das unverschämte Glück hatte, mit dem späten Bernard Hermann einen der grössten Filmkomponisten überhaupt verpflichten zu können, einen Spezialisten fürs Metier, dessen Kompositionen zu Hitchcocks MARNIE und VERTIGO einem schon beim Lesen des in seiner Anlage durchaus auch an Hitchcock erinnernden Romans in den Ohren klingen. Doch so kraftvoll Herrmanns Score auch ist, kein Komponist kann vollends kompensieren, was den Bildern fehlt. Es ist einer der emblematischsten Momente des Films, wenn in einem kurzen Flashback Michaels im Gespräch mit Santonix zu Beginn des Films, er sich selbst als Kleinkind sieht, verständnislos und ängstlich einem wütenden Streit seiner Eltern folgend. Trocken zupfende Streicher illustrieren diesen merkwürdigen, karikativen Einschub, der als eines der letzten Überbleibsel des Roman-Michaels dem Film-Michael kurz durch den Kopf schiesst bevor Gilliat von dem maskulinen, selbstbewussten, unbeirrbaren und sexuell offensiven Michael des Romans zurück auf seinen, von Hywell Benett souverän gespielten, sich aber im Gefüge dysfunktional ausnehmenden, von vornherein dämonisch wirkenden, bubenhaften und linkischen Michael zurückfällt. Diesem Michael ist die Bodenständigkeit der Romanfigur völlig abhanden gekommen und in dessen Engelsgesicht ist schon zu Beginn das Ungleichgewicht sichtbar, dass ihn im Roman erst so spät ereilt. Der Effekt am Ende des Films bleibt aus, weil der Charakter Michael nicht interpretiert sondern ummodelliert worden ist – ohne das man sich dabei die Mühe gemacht hätte, das Konstrukt der Handlungen um ihn herum an das neue Modell anzupassen. Konsequenterweise kann der Film sich nicht mit dem unheimlichen, impliziten Ende des Romans zufrieden geben und muss einen PSYCHO-artigen Epilog anhängen, aus dem ein letzter Knalleffekt geschunden wird, eine terrorerfüllte Schlussmontage, mit der Herrmann-Musik als Duschmordszenen-Ersatz perfekt. Bezeichnend.
Anmerkung: Sidney Gilliat war im übrigen, wie ich inzwischen herausgefunden habe, zum Zeitpunkt von ENDLESS NIGHT, bereits ein alter Veteran des britischen Mainstreamkinos, zu dessen grössten Erfolgen die berühmte Reihe um das Mädcheninternat ST. TRINIANS zählte und ehrenwertesten Credits eine Drehbuchmitarbeit an Hitchcocks THE LADY VANISHES. In diesem Fall könnte man darüber sinnieren, inwiefern sich nicht vielleicht Gilliat, dessen letzter Spielfilm „Endless Night“ blieb, noch weitaus stärker in seiner langjährigen Routine festgefahren hat als Christie – die merkwürdige Blut- und Leblosigkeit der Inszenierung über weite Strecken erscheint vor diesem Hintergrund jedenfalls in einem ganz neuen Licht.
– Nachwort –
Etwa nach der Hälfte dieses Textes bemerkte ich, dass ich nicht über den Film schrieb sondern den Roman, mit dem ich ihn immer und immer wieder direkt und ohne den so unerlässlichen Umweg der Abstraktion verglich. Allerdings habe ich ihn aus oben angeführten Gründen nicht in meinem an für unzureichend befundenen Texten reichen Giftschrank verschwinden lassen. Wie die ideale Filmkritik einer Literaturverfilmung aussieht, weiss ich wirklich nicht. Sicherlich aber weder wie obiger Text, noch wie die zahllosen Kritiken, in denen die verlegenen Autoren sich mit einigen hastig recherchierten Verweisen auf eine ihnen nicht bekannte Romanvorlage aus der Affäre ziehen, nur weil sie den Zwang verspüren (und dieser Zwang ist ein Problem und führt so oft zu einer harten Reibung der Kunstformen, die nicht notwendig wäre), der blossen Erwähnung dass es sich um eine Adaption handelt, noch ein Minimum an Hintergrundinformation beizufügen. In dem Gewissen, zuviel derselbigen geben gewollt zu haben, belasse ich es hierbei und hoffe, in Zukunft bei der Sichtung und Besprechung von Literaturverfilmungen, deren Vorlage mir nicht bekannt ist, deren Existenz mit noch mehr Erfolg als bisher zu ignorieren. Und umgekehrt umso mehr.
ENDLESS NIGHT – GB 1972 – Regie und Drehbuch: Sidney Gilliat, nach dem Roman von Agatha Christie – Produktion: Leslie und Sidney Gilliat – Kamera: Harry Waxman – Musik: Bernard Hermann – Schnitt: Thelma Connell – Darsteller: Hywel Bennett (Michael Rodgers), Hayley Mills (Ellie Rodgers), Britt Ekland (Greta Andersson), Per Oscarsson (Santonix), George Sanders (Andrew Lippincott), Aubrey Richards (Dr. Philpott), Peter Bowles (Onkel Reuben), Lois Maxwell (Tante Cora)
Jean-Luc Godard würde wahrscheinlich eine andere Bezeichnung bevorzugen, aber ich nenne das einfach mal ganz trivial-anglizistisch den Trailer, bzw. den Teaser seines (wie zumindest ich insgeheim hoffe) nicht nur nächsten, sondern auch letzten Lang“films“ SOCIALISME (vorraussichtlich im Cannes-Wettbewerb 2010, nehme ich an).
Meine zugegebenermassen exzessive, aggressiv-ablehnende Haltung zu Godard ist in der Vergangenheit unter mir und meinen werten Mit-Autoren schon häufig Anstoss fuer blutrünstige Diskussionen gewesen und angesichts dieses Clips, der wahrscheinlich den fertigen Film angemessen wiederspiegelt, zweifle ich keinen Moment daran, dass Godard, unter allen lebenden Autorenfilmern mein ganz persönlicher „pain in the ass“, mir in einem Jahr mit diesem „Film“ (sofern ich ihn mir zumuten sollte) ganz ähnliche Tiraden ekstatischen Hasses entlocken wird wie mit NOTRE MUSIQUE vor knapp vier Jahren. Immerhin scheint sich JLG nun auch der allgemeinen HDV-Euphorie angeschlossen zu haben, was natürlich irgendwie interessant ist.