100 deutsche Lieblingsfilme #75: Es ist nur eine Phase, Hase (2021)





Kommt man später einmal in schlimmstenfalls eingeweihten, scheußlich cinephilen Kreisen, bestenfalls aber breitem rezeptionsgeschichtlichem Konsens auf das deutsche Populärkino der Wechseljahre hin zu den neuen wilden Zwanzigern zu sprechen, so wird man sich hoffentlich erinnern an das, was heute noch als künstlerisch tadelhaft gilt: Jene bemerkenswerte Auffächerung, die die vorwiegend romantische Komödie nach Schweigerschem Patentrezept ungefähr zehn Jahre nach ihrem gemeinhin verhassten Urknall hinlegte. Originär filmisch heraussezierte Weisheiten hinterm literarischen Niveau davonflatternder Kalendersprüche bei Florian David Fitz, das ungezwungen Emanzipatorische bei Anika Decker und Karoline Herfurth, der messerscharfe Blick aus leichter Hand Bora Dağtekins – jetzt: Florian Gallenberger, der schon mit seinem letzten Kinofilm eine pilcherwürdige Altersabschiedsreise ins Sublime überführte und nun ansetzt, das Stiefkind des teutonischen Gegenwartskinos mit internationalem Arthouse auszusöhnen. Vermutlich abermals abseits des Blickes all jener, die die Offenheit neuer Konzepte stets lautstark einfordern, ihnen dann aber selbst nie mit ebensolcher begegnen wollen. Die Reifephase dann eben ohne sie.

Ganz ähnlich ergeht es Paul Mann (Christoph Maria Herbst), Schriftsteller, dessen berufliche Untätigkeit im filmischen Raum jedes betretene Figurenschweigen zu midlife induzierten Schreibblockaden formidabel ersetzt, drei Kinder, verheiratet mit dem längst im Kopf zur Büste versteinerten Abbild seiner Jugendliebe Emilia (Christiane Paul). Ihre Differenzen im Memorialisierungsprozess erklärt Gallenberger ganz profan in einer der in ihrer Schlichtheit avanciertesten Parallelmontagen der jüngeren deutschen Kinogeschichte. Eine Dragshow für den Nachwuchs aufführend gibt sich Paul alle Mühe, den Anschein modern verbliebener Urbanität im Unterhaltungsprogramm aufrecht zu erhalten. Doch bald schon muss er nachträglich den Kürzeren ziehen gegen seine Frau, die doch eigentlich nur einen tristen Spieleabend besuchen wollte, jedoch in einem aus fear of missing out geborenen Clubbesuch landet. Pumpende Beats, deutlich jüngere Körper im schwummrigen Licht, Emilia in Bestform mittendrin drängen den strauchelnden 1990er Transgressionsdarsteller nebenan ab, bis er entgleist und langsam aus dem Wechselstrom ausgeschlichen wird. Ganz simpel: Sie tanzt in der Gegenwart, er in der Erinnerung, den Partyspäßchen von einst. Es kann nur eine Konsequenz drohen.

Denn in diesen Sphären werden sie verweilen, weiter traumtanzen, während die von Beginn an zum Scheitern aufgezogene RomCom-Narrative sie das Klischee einer Trennung auf Probe samt kurzlebigen Jungpartner*innen und allerhand Häutungen im Cringebad der Gefühle verfolgen lässt, nur um sie freilich guten Schlusses wieder auszusöhnen. Wichtig ist, was dazwischen steckt, den Humor der Buchvorlage mit so noch nicht auserzählten Bildern für allvertraute Lebenslagen zusammenleimt: Ein singendes, klingend schlagendes Herz, das Gemeinsamkeiten im unterschiedlichen Misserfolg der ausprobierten Verjüngungsstrategien in den gellenden Überschwang emporreißt, der dem Beziehungskino zuverlässig am besten steht. Gesang, Spiel und Tanz in überquillend dominieren die Inszenierung so sehr – von der sich himmelhochjauchzend aus der Niederschmetterung freibrechenden Karaokenummer, die den Kraftakt gleich zehn strahlender Musikbiopics in einen aufblühenden Trübling verpflanzt, zum performativ mit Friedenspfeife herbeigerauchten Vorerstschulterschluss zwischen jungem Lover und den Kindern – dass sie in der akkumulierten bitteren Zuneigung zum Leben, zur Performance des Weiterspielens, zu einem deutschen Cassavetes-Film gerät. „Faces“ (1968) in kurz und Farbe; jung, brutal, gutaussehend. Nirgendwo wird das deutlicher als in jenem Szenenkomplex, der Christoph Maria Herbst als deutschen Al Pacino auf Obstbrand und in besserer „Say goodnight to the bad guy!“-Manier einen verlogenen 50. Geburtstag sprengen lässt, bloß um ihn danach mit dem entwendeten Nullluftballon überm Kopf schwebend beim Austrüben in den engen Gassen seiner Existenz aufzufangen. Später wird sich die fliegende 30 seiner Karaokeliebschaft sanft zwischen die Begrenzungen seines Versagerscheins schmiegen und das Geschehen auf die völlig von Hindernissen wie anderen Personen entrümpelte Leere eines großen Platzes verlagern. Frei, aber nicht allein.

Immer dann, wenn die auslesende Dunkelheit die Oberhand zu gewinnen droht, gibt Gallenberger genuin kinetische Energie frei, die ein Einrasten in der Eindimensionalität krachend oder mit Irritation davonbläst. Materialästhetische Kung-Fu-Filmimitate, die die gehörnten Kids zum zumindest imaginären Widerspruch gegen die selbstsüchtige Erwachsenenwelt empowern, treffen in ein und demselben kinematografischen Universum auf H.P. Baxxter, dessen majestätische Gen-X-Gravitas den umgebenden Spielfilm nach einem Vortrag aus Pauls abschließend Karriere wie Liebe erneut beflügelnden Besserungserkenntnissen schlicht anhält und in essayistisches Montagewerk über die zentralen Bildzeugnisse der jetzt Endvierziger umgestaltet. Florian Gallenbergers genüssliches, nie aber als wohlfeile Insidergeste (schließlich ist er, Baujahr 1972, ohnehin mitgefangen, mitgehangen) ausgestelltes Augenzwinkern bringt formale Verwegenheit zur unterschätzten Hintersinnigkeit deutscher Romantikerzeugnisse, die das wertige Fundament stellt.

Hatte er zuletzt schon bewiesen, dass ihm das Verorten von Ortslosen in der Weite des filmarchitektonischen Außen liegt, erweist sich Gallenberger hier als ebenso versiert in der Rauminszenierung als Coming-of-age-Rahmen für Stagnierende. Das Gros seines Singlewohnungsdaseins über sehen wir Christoph Maria Herbst dabei zu, wie er sich auf dem Bett betrinkt, Blick abgewandt von den großen Parks, die wir Zuschauenden allein weit über grauen Fassaden hinaus hinter seinem Profil erspähen. Sie sind wie ein Bild, das er zwecks Aufmunterung einmal aufgehangen hat, dann nie anschaut. Als er endlich seinen Groove wiederfindet ist unser Posten ein anderer, draußen vor dem Fenster, in welchem das pralle Leben nun inmitten derselben Betonstücke wuchert. Sie überzieht ein Leuchtschirm, exakt jene nächtliche Wärme aus einer anderen Welt, die auch Herbst zuvor von der Leinwand aus erfahren durfte. Dieses bemerkenswert weite Spannungsfeld der Eindrücke findet sich in allen Gestaltungselementen des Filmes wieder; nicht zuletzt auch in Gallenbergers ein weiteres Mal exzellenter Schauspielführung, die „Es ist nur eine Phase, Hase“ als Schauspielkino im selten guten Sinne ausweist und seine Akteure jede formale Gradwanderung reaktiv nachempfinden lassen kann. Herbst, Paul, Vogel – sie alle sind so energetisch wie lange nicht mehr, so gut wie nie.

In einem Film so reich an miteinander inter- und reagierenden Elementen fallen natürlich jene sofort ins Auge, die sich von solchen Wechselspielen weitestgehend ausnehmen – die Kinder, nach deren Verbleib sicherlich schon einige fragen wollten. Denn im Gegensatz zu ihren Eltern, auf die sich der Titel bezieht, leben sie allem Anschein nach schon ihr ganzes Leben lang je eine spezifische Variante von Gefestigtheit. Eine Phase wie die Pubertät, nicht einmal eine „dauerhafte“, wird je erwähnt – die abiturierende Tochter war immer schon wütend auf die Welt, die jüngere immer schon mit der Weisheit am Ende dieser angelangt, das männliche Küken immer schon leicht erregbar ohne tieferes Verständnis für die Untiefen der anderen. Im Kräftespiel der filmischen Extreme ist ihre statische Entwicklungskurve, ihr durch nichts zu brechender Stoizismus Gegenentwurf zu den fluiden Erwachsenen, der allen Lebensdurst verneinenden Deutungen einen verschmitzten Riegel vorschiebt. Die gängige Meinung, dass alles im Leben seine feste Zeit habe, umschifft „Es ist nur eine Phase, Hase“ mit Warmherzigkeit: Es ist völlig in Ordnung, eine Phase zu durchleben, selbst dann, wenn man an ihrem Ende angelangt feststellt, dass man sie nie brauchte, alles bereits hatte, was die eigene Vorstellung von Glück ausmacht und zu den nicht permanent an sich selbst zweifelnden Freuden der jüngeren Jahre zurückfindet. Ein Selbstreinigungsprozess, oder wie Sano Cestnik es einmal so oder so ungefähr formulierte: „Man muss sein inneres Kind hegen und pflegen, es wird viel zu schnell erwachsen.“


Es ist nur eine Phase, Hase – Deutschland 2021 – 105 Minuten – Regie: Florian Gallenberger – Produktion: Benjamin Hermann – Drehbuch: Malte Welding, Florian Gallenberg, nach dem gleichnamigen Roman von Maxim Leo und Jochen-Martin Gutsch – Kamera: Christian Rein – Schnitt: Sven Budelmann – Musik: Enis Rotthoff – Darstellende: Christoph Maria Herbst, Christiane Paul, Emilia Nöth, Bella Bading, Wanja Valentin Kube u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum der Majestic Film GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Oktober 23rd, 2021 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Essays, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen