Berlinale 2012: Rückblick & Fazit





Vor anderthalb Wochen ging das Filmfestival in Cannes zu Ende, eine (mehr oder weniger) gute antizyklische Gelegenheit also, plötzlich noch mit dem bislang schuldig gebliebenen Berlinale-Fazit um die Ecke zu kommen. Immerhin ein wenig früher als letztes Jahr der „späte Vogel„, aber dennoch mit einer einigermaßen stattlichen Verspätung in (mehr oder weniger) bester ET-Tradition. Mit dem zunächst vielversprechenden, ungezwungenen „Schmierzettel“-Vorhaben wurde es leider nach den „ersten Notizen“ nichts mehr, und nachdem die Rückkehr aus Berlin erst einige Tage nach Festivalende erfolgte und da schon wieder ein wenig die Luft raus und Distanz zum Geschehen da war, ging erst einmal lange nichts mehr. Als kleiner Mehrwert und Verspätungs-Bonus sind beim jetzigen Rückblick immerhin nicht nur die auf dem Festival gesehenen, sondern auch die danach noch nachgeholten Filme inbegriffen. Außerdem liegt der Schwerpunkt dieses Beitrages weniger auf den Filmen im Einzelnen, zu denen in den meisten Fällen von diversen Kritikern und Bloggern bereits sehr viel geschrieben wurde, sondern auf einigen spezielleren Betrachtungen, die andernorts wenig bis keine Aufmerksamkeit bekommen.

Insgesamt habe ich auf der Berlinale 49 Vorstellungen besucht. Immer noch sehr viel. Klar, man fährt zum Filmschauen hin, richtet sich auf einen Marathon in einem Paralleluniversum ein. Trotzdem im Vergleich zu den letzten beiden Jahren alles merklich entspannter, mehr Zeit zum Plaudern dazwischen, zum halbwegs stressfreien Essen, im Grunde sogar zum gemütlichen Aufstehen und theoretisch vormittags noch ein paar Zeilen schreiben. Zeit wäre tatsächlich gewesen, Motivation eben leider schnell nicht mehr. Der Unterschied zu den doch recht grenzwertigen 55 besuchten Vorstellungen vorletztes Jahr fiel jedenfalls gefühlt und auch tatsächlich deutlich aus, aber auch gegenüber dem eigentlich ziemlich moderaten letzten Jahr, wo ich sogar weniger Vorstellungen als diesmal besuchte. Die Erklärung ist einfach: Diesmal gab es eine ungewöhnlich hohe Anzahl auffällig kurzer Filme, die nur zwischen 60 und 80 Minuten lang waren, während letztes Jahr allein die beiden fünfstündigen Mammutwerke HIMMEL UND ERDE und HEAVEN’S STORY gewaltig zu Buche schlugen (deren Länge quasi jeweils vier kurzen Langfilmen entsprach!). Der Unterschied machte sich doch deutlich und durchaus angenehm bemerkbar.

Wie schon angedeutet sind in den nachfolgenden Auflistungen sämtlicher gesehener Titel auch alle Berlinale-Filme inkludiert, die ich erst nach dem Festival gesehen habe. Das hat die Auflistungen doch nochmal deutlich verlängert. Gerade in den Wochen direkt nach der Berlinale habe ich durch eine Verkettung kaum noch erklärender (und nicht immer sonderlich glücklicher) Zufälle fast alle der zeitnah regulär im Kino anlaufenden Filme aus Wettbewerb und Panorama gesehen. Hinzu kam dank längerem München-Aufenthalt auch die Gelegenheit, einige im dortigen Filmmuseum nachgespielte Retrospektiven-Beiträge nachzuholen. So kommt dann bei dieser Auflistung von auf-der-Berlinale-und-in-den-darauffolgenden-Monaten-gesehenen-Berlinale-Filmen doch einiges zusammen.

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Seen & ranked:

Die gesehenen Filme sind nach (teils zusammengefassten) Sektionen aufgeteilt. Inspiriert von den Berlinale-Fünf-Sternchen-Auflistungen von Lukas und Thomas habe ich die Filme ebenfalls nach diesem System bewertet. Ein zwar recht vages Bewertungssystem, das aber zumindest durch die wiederum in den Sektionen nach Wertschätzung absteigend geordneten Auflistungen ein wenig zusätzlich konturiert wird. Als exklusiver Mehrwert dieses Beitrags ist zudem bei sämtlichen gesehenen aktuellen Filmen das Aufnahme- und Projektionsformat angegeben. Nachdem die Berlinale mittlerweile nicht mehr imstande scheint, neben den Projektionsformaten (die auch nur noch im Komplettkatalog angegeben sind, in den handlicheren Programmheften dagegen seit diesem Jahr komplett gestrichen wurden) auch die Aufnahmeformate anzugeben, habe ich das jeweils nach eigener Beobachtung ergänzt. Insofern nicht zwingend fehlerfrei, aber in den allermeisten Fällen bin ich mir doch sehr sicher (eine einzelne unsichere Ausnahme ist mit Fragezeichen versehen). Für originalgetreue Aufführungen und entsprechend ausgewiesene Transparenz mag sich kaum noch jemand interessieren, ein paar versprengte Leser und Google-Suchende mögen sich über diese teils nirgends recherchierbaren Informationen aber womöglich doch freuen. Außerdem ermöglicht es immerhin auch interessante statistische Einblicke in Zeiten des technischen Kinowandels. Allgemein ist der Anteil der 35mm-Projektionen von neuen Filmen bei Premierenfestivals soweit abgesunken, dass er dieses Jahr nur noch rund ein Fünftel ausmacht (aus Cannes waren kürzlich ähnliche, eher noch niedrigere Zahlen zu vernehmen, wobei man dort wohl sogar eine noch offensivere DCP-Politik fährt, die bewusste ästhetische Entscheidungen von Regisseuren mit blindwütiger Ignoranz straft). Wobei meine Auswahl dahingehend natürlich aus verschiedenen Gründen nicht ganz querschnittsrepräsentativ ist, aber letztlich doch eine sehr ähnliche Tendenz aufweist. Um entsprechende Angaben allerdings auch nicht zu penetrant in den Vordergrund treten zu lassen, sind sie in kürzest mögliche Abkürzungen gefasst, die hier kurz erläutert seien (bei den Aufnahmeformaten ist die Trennung zwischen SD und HD natürlich nicht immer ganz eindeutig zu ziehen, da müsste man wohl tatsächlich auf Kameratypen und ihre Potenziale zurück kommen, aber dazu bin ich zu wenig Experte und mehr interessierter Laie, dem es eher um grundsätzlichere Unterscheidungen geht):

Legende:

X-to-X = Aufnahmeformat-zu-Projektionsformat / shooting format to screening format

shooting format: S = SD (Standard Definition Digital), HD = HD (High Definition Digital), (S)16 = (Super)16mm, 35 = 35mm

screening format: H = HDCam, D = DCP (2k Digital Cinema Package), 16/35 = 16mm/35mm-Filmprojektion

[x] = regulär im Kino in anderem Format gesehen als auf der Berlinale gezeigt

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Wettbewerb, Außer Konkurrenz, Special

Mit weitem Abstand so viele Wettbewerbsfilme gesehen wie noch nie zuvor, wenn auch ein Drittel davon erst nach dem Festival regulär. Ursprünglich beabsichtigt war beides nicht, ergab sich durch Zeitkonstellationen und Zufälle aber dann letztlich so. Ein Aufwärtstrend des Wettbewerbs ist durchaus zu erkennen, dennoch mag ich mich dem Euphorie mancher nicht recht anschließen. Bei aller Freude über eine insgesamt fraglos erfreuliche und gelungene Berlinale, hat gerade der Wettbewerb (ebenso wie Panorama) weiterhin eine hohe Nieten-Dichte. Knapp die Hälfte der davon gesehenen Filme hätte ich mir letztlich sparen können, auch wenn ein paar Entdeckungen und zwei herausragende Filme ein Stück weit entschädigten. Leider verpasst: Ursula Meiers SISTER und Benoît Jacquots als Eröffnungsfilm präsentierter LEB WOHL, MEINE KÖNIGIN (Nachtrag: Aber später nachgeholt und nachgetragen). Ebenso Guy Maddins KEYHOLE in der seltsamen Special-Sektion (wo in der Vergangenheit schon mal Manoel de Oliveira oder Rudolf Thome versteckt wurden, während diesmal wenig davon lockte), die ich diesmal aber komplett ausgelassen habe, mit Ausnahme des nachträglich regulär gesehenen GLÜCK, der wahrlich kein ebensolches bescherte.

***** Tabu (Miguel Gomes, 35-to-35)
***** Barbara (Christian Petzold, 35-to-D&35 [35])
**** Metéora (Spiros Stathoulopoulos, S-to-D)
**** Les adieux à la reine / Farewell, My Queen (Benoît Jacquot, H-to-D)
**** Aujourd’hui (Alain Gomis, H-to-D)
**** Csak a szél / Just The Wind (Bence Fliegauf, S16-to-D)
**** L’enfant d’en haut / Sister (Ursula Meier, H-to-D [35])
**** Haywire (Steven Soderbergh, H-to-D)
*** Captive (Brillante Mendoza, H-to-D)
*** Flying Swords of Dragon Gate (Tsui Hark, 3D-D)
** Extremely Loud and Incredibly Close (Stephen Daldry, H-to-D [35])
** Kebun binatang / Postcards From The Zoo (Edwin, 35-to-D)
** Cesare deve morire / Caesar Must Die (Paolo & Vittorio Taviani, H-to-D)
** Rebelle / War Witch (Kim Nguyen, H-to-D)
** A moi seule / Coming Home (Frédéric Videau, H-to-35)
* The Iron Lady (Phyllida Lloyd, 35-to-D [35])
* Dictado (Antonio Chavarrías, 35?-to-35)
* Glück (Doris Dörrie, 35-to-D [35])

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Panorama

Eigentlich wie immer: Mit einer kleinen gezielten Auswahl geschätzter Filmemacher oder ausdrücklich persönlich empfohlener Titel liegt man am besten, sobald man sich darüber hinaus wagt, scheint in dieser Sektion nach wie vor nicht allzu viel zu holen. LOST IN PARADISE und LOVE sind allerdings bewusst mit einem Plus (+) markiert, das kennzeichnen soll, dass zwar beide unsägliche Kitsch-Machwerke sind, aber darin wiederum so grotesk entgleist, dass sie zumindest streckenweise wieder Spaß machen. Allerdings halt auch nicht auf sonderlich sympathische oder ernstlich gelungene Weise, die man ihnen großartig anrechnen möchte.

**** L’âge atomique / Atomic Age (Héléna Klotz, H-to-D)
**** Glaube, Liebe, Tod (Peter Kern, S-to-D)
**** Angriff auf die Demokratie – Eine Intervention (Romuald Karmakar, S-to-D)
**** König des Comics (Rosa von Praunheim, H-to-D)
**** Mommy Is Coming (Cheryl Dunye, H-to-D)
*** Keep the Lights on (Ira Sachs, S16-to-D)
*** Indignados (Tony Gatlif, H-to-D)
** Dollhouse (Kirsten Sheridan, H-to-D)
*+ Lost In Paradise (Vu Ngoc Dang, 35-to-35)
*+ Love (Doze Niu Chen-Zer, 35-to-D)
* Xingu (Cao Hamburger, 35-to-35)

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Forum

Diesmal doch eine Menge schöner Sachen dabei. A NIGHT TOO YOUNG hat mich unvermutet ziemlich umgehauen. Ganz ähnlich wie im Vorjahr EIGHTY LETTERS – beides tschechische Langspielfilmdebüts von einer in schönstes Super16 gegossenen formsprachlichen Souveränität, die einen aus den Socken hauen kann. Jede Einstellung, jeder Schnitt sitzt. Bezwingend, glasklar, von einer atmosphärisch ungemein absorbierenden Eindringlichkeit. OUR HOMELAND ist aber mindestens auf Augenhöhe mit dem in sehr beweglichen langen Improvisationssequenzen tief sitzenden Schmerz einer zwangszerrissenen Familie. Plá und Jude sind vielleicht etwas harsch bewertet, die mögen bis zu einem gewissen Grad ihre Meriten haben, geben mir aber aus verschiedenen (hier den Rahmen sprengenden, weil grundsätzlicheren) Gründen wenig. Leider verpasst: DIE LAGE und TOMORROW. Alles schafft man halt nicht. Auch nicht so schlimm.

***** Prílis mladá noc / A Night Too Young (Olmo Omerzu, S16-to-35)
***** Kazoku no kuni / Our Homeland (Yang Yonghi, H-to-H)
***** Lawinen der Erinnerung (Dominik Graf, S/H/S16-to-H)
***** Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton (Heinz Emigholz, 35?-to-D)
**** Jaurès (Vincent Dieutre, H-to-H)
**** Escuela normal / Normal School (Celina Murga, H-to-H)
**** Bestiaire (Denis Côté, H-to-D)
**** Revision (Philip Scheffner, H-to-35)
**** Hemel (Sacha Polak, S16-to-35)
**** Le sommeil d’or / Golden Slumbers (Davy Chou, H-to-H)
*** What Is Love (Ruth Mader, S16-to-D)
*** Tepenin Ardi / Beyond the Hill (Emin Alper, H-to-D)
** La demora / The Delay (Rodrigo Plá, S16-to-35)
** Toata lumea din familia noastra / Everybody in Our Family (R. Jude, S16-to-35)
* Formentera (Ann-Kristin Reyels, H-to-D)

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Forum Expanded & European Film Market (EFM)

Eine bewusst paradoxe Sektionen-Zusammenführung meinerseits, hier ausnahmsweise ohne Sternchen, weil ich das gerade bei den Expanded-Kurzfilmen jetzt mit dreieinhalb Monaten Abstand nicht mehr zufriedenstellend hinkriege. Die beiden Höhepunkte innerhalb der drei von mir gesehenen Expanded-Programme waren jedenfalls die Filme von Nicolas Rey und Rosalind Nashashibi, nicht nur wegen ihrer 16mm-Poesie in Reinform. Programm F war hingegen, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne überzeugend, so doch einigermaßen unfassbar (Geday wird weiter unten bei den Awards geehrt, und Feizabadis Film war eigentlich primär unter dem esoterischen Gesichtspunkt des „Prätentionstrash“ goutierbar). Die beiden EFM-Abstecher gehörten wiederum zu den Höhepunkten meiner Berlinale-Auswahl, auch wenn sie nicht im eigentlichen Sinne zur offiziellen Festivalselektion gehörten. Darin liegt vielleicht auch begründet, dass sie in ihrer Genre-Nähe und ungezwungenen Direktheit einen ungemein erfrischenden Kontrast zu den Festival-typischeren Filmen lieferten.

Programm B
Falgoosh (Blames & Flames) (Mohammadreza Farzad, DVCam)
349 (for Sol LeWitt) (Chris Kennedy, H-to-H)
Carlo’s Vision (Rosalind Nashashibi, 16-to-16)
Austerity Measures (Guillaume Cailleau, Ben Russell, 16-to-16)
American Colour (Joshua Bonnetta, 16-to-H)

Programm F
Bye Bye (Paul Geday, S-to-H)
Conference of the Birds (Azin Feizabadi, S/H-to-H)

Programm H
autrement, la Molussie / anders, Molussien (Nicolas Rey, 16-to-16)

EFM:
Sexual Chronicles of a French Family (Jean-Marc Barr, Pascal Arnold, H-to-H)
Wrong (Quentin Dupieux, H-to-D)

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Komplett ausgelassen:
Generation, Kulinarisches Kino und Perspektive Deutsches Kino

Wobei das gerade bei Generation sicher ein Fehler ist, aber irgendwo muss man halt Grenzen ziehen und Prioritäten setzen (und die Kplus-Untersektion mit nicht einmal durch O-Ton-Kopfhörer vernünftig abschirmbaren, den Saal durchflutende deutsche Übersetzungs-Einsprache scheidet zumindest für mich leider sowieso von vornherein aus). Schade nur um den heißen HK-Preisträger-Anwärter JOVEN & ALOCADA, dessen letzte Aufführung ich eigentlich mitnehmen wollte, aber angesichts des sich andeutenden Andrangs lieber auf einen Retro-Beitrag umgestiegen bin, in den Reinzukommen unproblematischer war.

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Älteres abseits der Hauptretro (Forum Specials, Hommage etc.)

Die älteren Forum-Specials gehören eigentlich traditionell zu den geheimen Berlinale-Höhepunkten und Pflichtterminen. Seit ich das Festival besuche, habe ich eigentlich immer versucht, mir fast nichts davon entgehen zu lassen, und es nur selten bereut. Auch diesmal mit dem kleinen Schwerpunkt für den Japaner Yuzo Kawashima, den (nicht ganz den Erwartungen entsprechenden) kambodschanischen Filmen und ein paar anderen ausgewählten Sachen (der Glowna-Tribut-Film gehörte wiederum nicht zur Sektion) durchaus eine feine Ausbeute. Auf Format-Angaben verzichte ich hier und bei der Hauptretro, da ich bei den älteren Filmen (mit einer 16mm-Ausnahme) ohnehin ausschließlich die 35mm-Aufführungen besucht habe. Auf digitale Screenings älterer (= normalerweise auf Film gedrehter) Filme verzichte ich gern. Viele gab es davon glücklicherweise auch (noch) nicht. Hoffentlich werden die Retro-Sektionen auch zukünftig mit dem entsprechenden Mindestmaß an Respekt vor Filmgeschichte und werktreuer Aufführung kuratiert, dass man sich diese Haltung noch einige Jahrzehnte leisten kann. Vermutlich reines Wunschdenken, wenn man sich die tristen Entwicklungen auf diesem Gebiet (Archivvernichtungen, Ausleihsperren etc.) ansieht. Insofern eher trübe Aussichten.

***** Suzaki Paradise: Red Light (Yuzo Kawashima)
***** Between Yesterday and Tomorrow (Yuzo Kawashima)
***** Ornette: Made in America (Shirley Clarke)
**** Desperado City (Vadim Glowna)
**** Peov Chouk Sor (Tea Lim Koun, 16mm)
**** Swoon (Tom Kalin)
*** Puthisen Neang Kongrey / 12 Sisters (Ly Bun Yim)
*** The Sun in the Last Days of the Shogunate (Yuzo Kawashima)

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Retrospektive

JENSEITS DER STRASSE war zweifellos mein Film des Festivals, noch vor TABU (meinem Favoriten unter den aktuellen Filmen). Ich hatte ihn mal in einer gekürzten und in falscher Geschwindigkeit laufenden Videofassung gesehen und sehr gemocht, aber dieses elektrisierende Kinoerlebnis spielte nochmal in einer ganz anderen Liga und kam einer völligen Neusichtung gleich. Brillante Kopie, tolle Musikbegleitung. Optimalbedingungen für diesen Wahnsinnsfilm, dem angemessenere Worte würdig wären, als ich sie hier und auch überhaupt vorerst zustande kriege. Für mich jedenfalls der krönende Höhepunkt der wohl unbestritten stärksten Retro der letzten Jahre, von der ich eigentlich noch ein paar mehr Filme hätte sehen sollen.

***** Jenseits der Straße (Leo Mittler)
***** Slutschajnaja wstretscha / Accidental Meeting (Igor Sawtschenko)
***** Dewuschka s korobkoi / The Girl With the Hat Box (Boris Barnet)
***** Dwa okeana / Two Oceans (Wladimir Schnejderow)
***** Okraina / Outskirts (Boris Barnet)
**** Gibel sensazii / The Loss of the Sensation (Aleksandr Andrijewski)
**** Schachmatnaja gorjatschka / Chess Fever (Wsewolod Pudowkin)
**** Pozelui Meri Pikford / The Kiss of Mary Pickford (Sergej Komarow)
**** Rwanyje baschmaki / Torn Shoes (Margarita Barskaja)
**** Aelita (Jakow Protasanow)
** Sorok serdez / Forty Hearts (Lew Kuleschow)

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DIE PREISVERGABE

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Der Materialfetischisten-Award für besondere Verdienste hinsichtlich Erhalt, Umgang und Einsatz von klassischem Filmmaterial geht an:

Tabu (Miguel Gomes, 35mm-to-letterboxed-35mm)
Lost In Paradise (Vu Ngoc Dang, 35mm-to-35mm)
A Night Too Young (Olmo Omerzu, Super16-to-35mm)
anders, Molussien (Nicolas Rey, 16mm-to-16mm)

Vier herausragende Arbeiten mit analogem Filmmaterial quer über die Sektion verteilt. Department visuelle Taktilitäten, Auftritt TABU und A NIGHT TOO YOUNG: Wie diese beiden Filme Abstufungen von Licht und Schatten ausloten und damit, insbesondere auch in den Nachtszenen, atmosphärische Akzente setzen, ist schon eine selten gewordene Kunst. In Zeiten grassierender 4:3-Phobie und weil auch viele Kinos und Festivals das Format bereits nicht mehr spielen können, wurde TABU leider in einer letterboxed-Kopie gezeigt (1,37:1 innerhalb des 1,85:1-Frames, was natürlich die Bildauflösung an allen vier Seiten beschneidet, aber wenigstens das Originalformat erhält), die für diese Voraussetzungen dennoch ungewöhnlich schön aussah. DCP als Alternative wäre gerade bei diesem Film auch ein Trauerspiel gewesen. LOST IN PARADISE gehörte neben den anderen beiden Wertungs-Schlusslichtern in der Panorama-Sektion zu den drei neuen Filmen, die ich tatsächlich nicht zuletzt wegen Neugier auf den Einsatz des Formates sah. Abgesehen davon, dass sich keiner der drei als Filme so richtig lohnte (zwei machten zumindest trotzdem halbwegs Spaß), wurde einer entgegen Katalogangabe als DCP gezeigt und ein anderer war nur noch ein Wrack einer unfassbar verpfuschten digitalen Postproduktion. Zumindest LOST IN PARADISE veranschaulicht aber mal wieder, wie wahnsinnig toll Filmmaterial heute aussehen kann, wenn man tatsächlich noch analog schneidet und sich standardisiertes Colorgrading spart. Wahrscheinlich wurde das hier eher aus Kostengründen oder mangelnder technischer Ausrüstung überhaupt so gemacht. Ironischerweise braucht es also erst einen überschaubar budgetierten Film aus einem armen Land, um zu demonstrieren, wie toll allein etwa 35mm-Farben heute aussehen können, wenn man sie zur Geltung kommen lässt. Bezeichnend genug. Und als vierten Preisträger dann natürlich noch die sich in schönster Grobkörnigkeit und charakteristischen Farbdurchströmungen badende 16mm-Odyssee von Nicolas Rey, der im Anschluss dann auch die zunehmend schlimmer werdende Situation in Sachen 16mm-Kopierbarkeit nachfühlbar beklagte (siehe dazu auch: Tacita Dean).

Ein ausdrückliches Anti-Lob sei an dieser Stelle zwei geradewegs als Materialschändungen zu bezeichnenden Filmkopien ausgesprochen:

Xingu (Cao Hamburger, 35mm-to-35mm)
La demora / The Delay (Rodrigo Plá, Super16(CS)-to-35mm)

Blieb man bei den meisten Festivalfilmen auf der Berlinale zum Glück immerhin weitgehend von der Seuche des konventionalisierten Standard-Colorgradings verschont, vergriffen sich diese beiden dafür umso scheußlicher in der von grässlichen Orange-Tönen dominierten Farbabstimmung, was aber nur zu gut ins Bild zweier auch sonst in der digitalen Postproduktion zu Tode verschlimmbesserter Filme passte, die in ihrer fahlen und flauen Erscheinung jeder „texturalen Dichte“ beraubt waren. In solchen Fällen kann man wahrlich gleich ein DCP zeigen, wenn auf einer derart missglückten Filmkopie ohnehin kaum noch etwas vom Look des Aufnahmematerials erhalten bleibt. Zwei unfreiwillige, klägliche Abgesänge auf die Filmkopie. Wenn das Ergebnis so aussieht, kann man sich im Grunde nicht nur die Projektion von Film, sondern auch gleich den Dreh auf Filmmaterial sparen. Zum Glück zwei Ausreißer, denen in der Mehrheit positive Beispiele gegenüber standen.

Zumal sich andererseits durch (again) puren Zufall die Gelegenheit eines weitgehenden A/B-Vergleichs ergab, wie er bei den in der Regel (un- oder) bewusst manipulierten oder verzerrten Vergleichens-Sichtungs-Veranstaltungen zwischen analoger und digitaler Projektion eben genau nicht gegeben ist. Im exakt gleichen Saal liefen nämlich hintereinander HEMEL und WHAT IS LOVE, beide genau im gleichen Format gedreht (Super16/CinemaScope), ersterer jedoch als 35mm-Kopie, zweiterer als DCP präsentiert. Es mag kein optimales DCP gewesen sein, und die Formsprache der Filme insgesamt vielleicht zu verschieden, aber es war doch einigermaßen schockierend, mit welcher Deutlichkeit die 35mm-Filmkopie dabei gewonnen hat. In jeder Hinsicht kraftvoller, dynamischer und vibrierender (ein wenig wie gesagt wohl auch in der Formsprache des Films herrührend), während das DCP unmittelbar danach den schalen Beigeschmack von Leblosigkeit und Sterilität nicht abschütteln konnte und damit allen negativen Klischees gerecht wurde (zugegeben, der ebenfalls auf gleichem Material gedrehte THE DELAY wiederum sah von Film wie bereits ausgeführt mies aus, aber wie schrieb Neil Young kürzlich bei Twitter den derzeitigen Stand trotz arg apodiktischer Zuspitzung sehr treffend auf den Punkt bringend: „digital stays the same, never looking great. 35mm is variable – I’d rather take my chances. Have had *very* few bad experiences“ – zumindest bezogen auf die Projektion von analog gedrehten Filmen kann man ihm da nur aus vollem Herzen zustimmen).

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Der Pixelforscher-Award für bemerkenswerte Verdienste im Umgang mit den Möglichkeiten des digitalen Filmemachens geht an:

Jaurès (Vincent Dieutre, HD-to-HDCam)
L’âge atomique / Atomic Age (Héléna Klotz, HD-to-DCP)
Indignados (Tony Gatlif, HD-to-DCP)
Aujourd’hui (Alain Gomis, HD-to-DCP)

Auch wenn ich aufgrund der daraus folgenden mangelnden Vielfalt und der grundsätzlichen Verdrängungsdynamik wahrlich kein Freund der mittlerweile erdrückenden Dominanz von Digitalprojektionen bin, gab es tatsächlich im Einzelnen wenige Fälle bei dieser Berlinale, bei denen es konkreten Anlass zur Klage gab. Zumindest, sofern die Filme auch digital gedreht waren, denn dann habe ich ohnehin im Regelfall gar keine Einwände gegen eine Digitalprojektion (Werktreue ist hier eben immer wieder das Stichwort, und dass leider eben auch zahlreiche analog gedrehte Filme digital gezeigt wurden, ist ein Ärgernis, das meistens auch nicht im Sinne der Filmemacher sein dürfte und den Filmen in der Regel ungleich weniger gerecht wird als eine analoge Filmkopie, was mich in manchen Fällen wie Petzolds BARBARA die Filmsichtung dann auch sicherheitshalber lieber auf den regulären Start verschieben ließ). Die vier genannten Filme machten sich dabei besonders bemerkbar mit einer jeweils eigenen digitalen Ästhetik, die sich nicht in Filmmaterial-Nachahmung oder unmotiviertem Drauflos-Gefilme erschöpft. Das sanfte Pixelrauschen von JAURÈS ließ dabei sogar Gedanken an ein mögliches eigenständiges digitales Äquivalent zum 16mm-Film zu. An INDIGNADOS begeisterte die Agilität und Wendigkeit der Kameraführung, wie sie das reduzierte Gewicht & Größe digitaler Kameras ermöglichen, aber bislang noch viel zu wenig genutzt werden. Für Tony Gatlif zugegeben nicht wirklich etwas grundlegend Neues, dessen analoge Filme sich auch bereits durch eine bemerkenswert bewegliche Kamera auszeichneten (dass INDIGNADOS bei aller audio-visuellen Rauschhaftigkeit während der Sichtung dann mit seiner unreflektierten Massenbewegungs-Verherrlichung einen recht faden Nachgeschmack hinterlässt, steht ohnehin auf einem anderen Blatt). Und er hatte zugegeben Glück, der erste einer Reihe von auffällig farbgesättigten Digitalfilmen zu sein, die sich in ihrer Häufung spätestens bei WAR WITCH oder CAPTIVE dann doch abnutzten und die Filme mit einer irritierenden Werbeclip-Aura versahen (was zumindest bei Gatlifs Agitprop wiederum durchaus noch passte, aber halt auch nur da).

Unbedingt zu erwähnen wären auch zwei erfrischende ästhetische Affronts:

Glaube, Liebe, Tod (Peter Kern, SD-to-HD)
Metéora (Spiros Stathoulopoulos, SD-to-DCP)

Zwei Werke, die sich in Form und Inhalt mit aller Kraft gegen gediegende Wohlgeformtheit stemmen. Gerade Letzterer, dessen Bilder bisweilen eher nach schlecht gemasterter DVD eines schäbigen Homevideos aussahen und dementsprechend ungewöhnlich viele Beschwerden nach sich zogen, bot innerhalb des glattpolierten HD-Hochglanzes vieler Wettbewerbspräsentationen einen willkommen schäbigen Kontrast. Und zeigte gerade in den vermeintlichen Defiziten seiner gleichwohl sehr bewussten und konsequenten Ästhetik (tolle Kadrage immer wieder, und sogar ein Hauch Borowczyk weht mal durch den Film) einen spannenden Gegenentwurf zum pixelzählenden Auflösungswahn.

Ebenso gebührt eine besondere Erwähnung für den herausragenden Einsatz von 3D einem Film, der in den furios inszenierten Actionszenen (die nach vergnüglichem Anfang zum Teil für die leider weitgehend uninspirierte zweite Hälfte entschädigten, die erst im Finale nochmal an Fahrt gewinnt) tatsächlich eine Ahnung davon vermittelt, welches Potenzial sich in der Kombination von Raumtiefe, Bewegung und Dynamik noch bislang kaum erschlossen im stereoskopischen Aufnahmeverfahren verbirgt:

Flying Swords of Dragon Gate (Tsui Hark, 3D-DCP)

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Die Vergabe des „Goldenen Sleaze-Bären“ entfällt dieses Jahr (wenngleich es auch jenseits der nachfolgend noch Genannten ein paar halbwegs passende Kandidaten gäbe, von der klerikalen Erotik eines METÉORA bis zu HEMEL, der bereits in den „ersten Notizen“ gewürdigt wurde) und wird durch eine Reihe von anderen Preisen des Hofbauer-Kommandos für Absonderliches aller Art ersetzt.

Der Spezialpreis des Hofbauer-Kommandos geht an:
Bye Bye (Paul Geday)

Auf eine kaum beschreibbare Weise ein eigentümlich inspirierendes Erlebnis verbarg sich hinter diesem fünfminütigen Forum-Expanded-Kurzfilm. Auf eine mit Sicherheit nicht beabsichtigte, gleichwohl bewusstseinserweiternde und wohl noch nie dagewesene Weise konterkariert und unterläuft der interviewende Off-Sprecher allein durch Tonfall und Sprachduktus die Geschehnisse und Aussagen vor der Kamera. Wenn der Abschied von Dingen, die mit einer langen familiären Tradition verbunden und daher mit Erinnerungen aufgeladen sind (hier etwa ein Klavier), vom Sprecher gegenüber den porträtierten Figuren mit unnachahmlich skeptisch-brummigen Nachfragen wie „Ah, piano. Excellent, yeah?!“ kommentiert wird, blitzt vor dem eigenen inneren Auge kurzzeitig eine ganze alternative Filmgeschichte auf, in denen der unwillig-brummige Gestus von Sprechern jede Seriosität und jeden angestrebten heiligen Ernst in einer absurden Verdrehung aufhebt. Vergleichbares habe ich vielleicht noch nie gesehen. Das implizite und gänzlich unauffällige Wunder dieses kleinen Films zwang die anwesenden HK-Vertreter indes zu enormer Selbstbeherrschung in einem Saal, der solch freudig unerwartet-widersprüchlichen Erkenntnissen gänzlich verschlossen schien.

Einen Lust-und-Lebensfreude-Award (was übrigens, wie bei dieser Gelegenheit erwähnt werden sollte, durchaus gar nicht so weit weg ist – wie man vermuten könnte – vom längst äußerst weitgespannten Sleaze-Verständnis des HK) hätte die befreiend schöne Utopie SEXUAL CHRONICLES OF A FRENCH FAMILY verdient, sofern er offizieller Berlinale-Bestandteil gewesen wäre. Als Stellvertreter passt hier aber auch MOMMY IS COMING sehr, der als vermutlich einziger Berlinale-Beitrag mehrmals die Grenzen zu pornografischer Explizitheit überschreitet und sich dabei stets eine lustvoll-spielerische Aura bewahrt.

Um unsere Faszination (in diesem Schlock-Fall ein Anziehung-Abstoßung-Verhältnis) für ambivalente Filmerlebnisse zum Ausdruck zu bringen, verleiht das HK außerdem eine in letzter Instanz allerdings durchaus nicht lobend gemeinte stinkende Klobürste für den widerwärtigsten Film an GLÜCK. Eine redlich verdiente außerordentliche Rüge für einen Film, der zwar einerseits derart verunglückt ist, dass er gerade in der ersten Hälfte und später im Finale mit einigen die Grenze zum Grotesken durchbrechenden Geschmacksentgleisungen unfreiwillig zu amüsieren versteht (widerwärtige Filme können partiell durchaus Spaß machen, ohne dass dies ihre Widerwärtigkeit mildert oder in eine Qualität verwandelt – es gibt natürlich auch Beispiele für letzteres, die aber dann schon wieder ganz anders geartet sind als der vorliegende Fall), dabei aber andererseits leider letztlich seinen zynischen Grund- und Nachgeschmack nicht abzuschütteln vermag. Ein Film, der alternative Lebensentwürfe offenbar einzig als Scheitern an tradierten bürgerlich-karrieristischen Lebensentwürfen sich vorzustellen im Stande scheint. Am Ende träumt eben auch der verlotterte Punk und die kriegsgebeutelte Prostituierte insgeheim vom teuren Auto, vom schönen Haus, vom gut gefüllten Warenkorb und trauter Familieneintracht – und wenn die Arbeitsscheu mal überwunden ist, lockt auch prompt die erfolgreiche gesellschaftliche Eingliederung. Es fehlen einem wirklich die Worte für die reaktionäre Unfassbarkeit dieses im Endeffekt ungeheuer abstoßenden Films…

Lieblingsfigur des Hofbauer-Kommandos: Der schicksalsgebeutelte Schwan aus dem nicht ganz unreizvoll missratenen LOST IN PARADISE (wenngleich mit weniger Sleaze-Appeal als die Bilder vermuten lassen), der zusammen mit seinem klotzig durch die Gegend watschelnden Herrchen (siehe Bild oberhalb dieser Absätze) immer wieder in haarsträubend verkitschten Pathosmomenten bizarre Auftritte feiert. Ihm und seinem Nachwuchs seien die abschließenden Bilder aus diesem ohnehin recht offenkundig um Tierliebe bemühten Film gewidmet…



(Bilderquelle im Wesentlichen: berlinale.de)

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Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Juni 7th, 2012 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, Andreas, Blog, Festivals, Listen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

11 Antworten zu “Berlinale 2012: Rückblick & Fazit”

  1. Rajko on Juni 7th, 2012 at 12:49

    Sehr schön!

    Und doch, doch: Die Bilder geben Lost In Paradise durchaus sehr gut wieder. 😀

  2. vannorden on Juni 7th, 2012 at 16:51

    Zwei Sterne für Dollhouse?!? Du Barbar. Dir fehlt wohl der intellektuelle Zugang.Dir empfehle ich nie wieder was! 😛

    Und mir fehlt eindeutig ein Bild der Ente auf dem Fluss, wie sie zurückgeflogen/schwommen kommt. Das hat für mich den ganzen Film ausgemacht. 🙂

  3. Andreas on Juni 8th, 2012 at 01:53

    @Rajko
    Einerseits schon, gerade so im Rückblick. Andererseits versprechen sie halt doch eine vergnügliche Camp-Bombe reinsten Wassers (mir würden sie jedenfalls gewaltig Lust machen^^), die der Film dann eben nur partiell ist, getrübt durch zahlreiche zähe und enervierende Passagen.

    @vannorden
    Hehe, war auch extra für dich gedacht. Ein paar Dinge haben mir an DOLLHOUSE schon gefallen, aber sein Potenzial verspielt der durch mangelnde Konsequenz dann imho leider ziemlich. Hätte ich mir viel wilder und tolldreister erhofft, ehrlich gesagt. Trotzdem nur haarscharf an drei Sternen vorbei, aber habe dann bewusst zur niedrigeren Wertung gegriffen – als Revanche für deine barbarische TABU-Verkennung! Quasi quid pro quo. 😛

    Dafür sind wir uns einig, dass der zurückschwimmende Schwan (oder Ente oder whatever) der Höhepunkt von LOST IN PARADISE war! Habe davon leider kein Bild auftreiben können. War sowieso überrascht, so ohne weiteres eine Reihe anderer passender Bilder auftreiben zu können. Scheinen sich wohl die meisten einig zu sein, wer der heimliche Star des Films ist… 😀

  4. Sano Cestnik on Juni 10th, 2012 at 07:03

    Danke ersteinmal für deinen ausführlichen Beitrag Andi. Habe ihn, wie auch sonst bei deinen Texten, mit Genuss gelesen. Aber zunächst einmal Folgendes: Beim Aktualitätsgedanken, verstehe ich deine defensive um Verständnis plädierende Herangehensweise durchaus, da Sie ja vor allem mit eigenen Ansprüchen an sich selbst zu tun hat (und mir es of tähnlich geht: Ich hätte meine Texte gerne eher fertig). Aber im Grunde ist das doch der falsche Ansatz. Zum einen berichten Zeitschriften auch immer erst „verspätet“ von einem Festival, und je nach Erscheinungsrhythmus, manchmal erst ein halbes Jahr nach dem ‚Ereignis, und das weitverbreitete Verständnis eines Blogs bzw. einer Internetseite, dass es bei Veröffentlichungen immer um aktuelles „zur Zeit relevantes“ gehen solte, teile ich nicht. Das kann ja auch ein Qualität smerkmal sein: von etwas zu berichten, wenn es möglicherweise niemanden interessiert, es „gerade“ keiner lesen will. Dieser Aktualitätswahn geht mir in seinen gegenwärtigen Ausmaßen in unserer Gesellschaft ja generell sehr gegen den Strich. Vor allem bei Festivalberichten geht es ja meiner Meinung nach darum, dass man von den Festivals berichtet. Das ist die Leistung – und das ist auch das Maximum was ein Festival erwarten kann. Die Wahl des Zeitpunkts der Berichterstattung liegt dabei beim Berichterstatter. Das ist auch eine der großen Qualitäten die ich an Eskalierende Träume schätze, dass es eben nicht primär um einen klassischen Aktualitätsgedanken geht, sondern aktuell ist, was gerade im Kopf des Autors vorgeht.
    Ich hoffe daher, dass wir auch uns selbst gegenüber diesen im absoluten Sinne fehlgeleiteten Anspruch der sofortigen Reaktion bald noch mehr ablegen. Zumindest in meinen kommenden Festivalberichten, will ich das auch nicht mehr thematisieren. Ein Text muss ja immer so interessant sein, dass man ihn auch unabhängig der Tagesrelevanz gerne list. Und ich denke dein Berlinalefazit hält dieser kritischen Überprüfung stand.

    Ansonsten schätze ich aber deine persönliche und das Subjektive betonende Herangehensweise sehr, auch den Tagebuchartigen, beichtenden Tonfall. 🙂
    Des weiteren noch einmal ein ausdrückliches Lob an deine weiter schreitende Materialforschung und alle Bemühungen in dieser Hinsicht. Die Auflistung der Formate (und vor allem die Unterscheidung zwischen Aufnahme- und Vorführtechnik) ist Gold wert und sollte unbedingt Schule machen!
    Und in gewisser Hinsicht hast du mich auch endgültig davon überzeugt, dass man ein Festival mit zwei Augenpaaren betrachten sollte, und es dem eigenen seelischen Wohlbefinden sehr zuträglich ist, diese zwei Betrachtungsweisen dann für sich selbst noch einmal zu separieren. Festivalpolitik und Öffentlichkeitswahrnehmung sind eine Sache. Da kann man bei der Berlinale, wie bei vielen größeren Festivals, einiges kritisieren. Die Filme stehen aber natürlich auch für sich, und natürlich kann (und muss!) man sich aus einer Auswahl immer auch ein zweites Mal zusätzlich bewusst bedienen; und du beweist jedes Mal aufs Neue, das man Meisterwerke und sonstige Sehenswürdigkeiten mit einem guten Riecher überall finden kann. Denn in der Kunst verhält es sich rein der Wahrscheinlichkeit nach ja immer noch so, dass Quantität auch irgendwo irgendwie immer auch Qualität beinhaltet. Wie sollen sich in einer vielfältigen Auswahl an 400 FIlmen nicht mindestens 50 lohenswerte Sichtungen befinden?

    Es gilt wie immer seinen Blick zu erweitern, und das für mich Erstaunlichste an deiner (dich ja größtenteils sehr beglückenden) Auflistung: dein Mammutbericht und deine Marathonähnlichen Vielsichtungen sind ja immer noch nur ein begrenzter Teilausschnitt der zahlreichen Möglichkeiten die ein Festival wie die Berlinale bietet.

  5. Settembrini on Juni 16th, 2012 at 07:46

    Etwas verspätet möchte ich mich auch noch mal kurz melden. Zunächst einmal großes Lob für Deinen ausführlichen Rückblick, mit dem ich in dieser Form nach den schnell eingestellten Kurznotizen gar nicht mehr gerechnet hatte. Ich hatte Deine Ausführungen auch schon letzte Woche gefunden und streckenweise überflogen, streckenweise richtig gelesen; daß ich jetzt erst antworte, hat damit zu tun, daß momentan mein Filminteresse insgesamt gerade ein Wellental durchläuft (in den letzten drei Wochen sah ich überhaupt nur zwei Filme, als letztes übrigens den doch recht starken „This Is Not a Film“, den Du mir ja letztes Jahr schon empfohlen hattest), was zum Teil mit einem sehr hartnäckigen Stimmungstief, zum Teil damit, daß sich meine diversen anderen Interessen gerade massiv in den Vordergrund geschoben haben, zu tun hat.
    Nun aber zu Deinem Berlinale-Rückblick: So sehr viel zu sagen gibt es da ja nicht, weil uns bei den Filmen, die wir beide gesehen haben, die jeweiligen Auffassungen schon weitgehend bekannt sind. Interessant, daß Du den Kuleschow auch nicht so toll fandest – ich sah den ja noch in Verbindung mit zwei Kurzfilmen davor (wovon zumindest einer, „Der Rückstand“, ein ziemlich dämliches Agitationsfilmchen war) – hast Du die vielleicht auch noch zu sehen bekommen?
    Ansonsten ein durchaus passender Kommentar zur nach wie vor absolut unberechenbaren Panorama-Sektion…
    Unsere erfreuliche (erfreulich auch, da selten gewordene) Übereinstimmung bei „A Night Too Young“ hatten wir ja schon festgestellt, den trennenden Abgrund bei „Tabu“ ebenfalls – da gehöre ich ja zu den barbarischen Verkennern.
    So richtig interessantes habe ich nun also nicht geschrieben, aber ich wollte mich dann doch noch mal kurz (?) zu Deinem schönen und umfassenden Rückblick äußern.

  6. Andreas on Juni 21st, 2012 at 02:23

    @Sano
    Wahrscheinlich war das auch bei mir das letzte Mal, dass ich diese Aktualitätssache explizit thematisiert habe. Eine, wie beim FB-Hinweis andeutungsweise formuliert, selbstironisch-sarkastische Variante in der Art von „noch nie wurde auf ET derart früh von der Berlinale berichtet“ (was ja im obigen Fall sogar stimmt^^), wäre zudem wohl die elegantere Lösung gewesen. Man muss auch dazu sagen, dass beim Schreiben der Einleitung noch nicht absehbar war, dass der Beitrag dann doch so lange werden würde. Schien erst im Wesentlichen nur auf eine Auflistung hinaus zu laufen, und das schien mit angesichts der zeitlichen Distanz dann doch etwas zu schäbig, um nicht irgendwie darauf einzugehen. Als der Beitrag jedoch länger wurde, hatte ich keine große Lust mehr, die Einleitung wieder zu ändern. Ansonsten teile ich tendenziell deine Einschätzung des Aktualitätsgedankens, allerdings mit ein paar Einschränkungen: Den Anspruch an sich selbst erwähnst du ja selbst, und hier in diesem Fall gingen dem Rückblick ja die „ersten Notizen“ voraus, die ja offensichtlich durchaus ein Bemühen um Aktualität waren, weshalb ich allein deshalb eine Notwendigkeit sah, das irgendwie aufzugreifen. Zudem: Gerade die Format-Auflistungen z.B. sind ja vor allem dann wertvoll, solange die Filme auch tatsächlich in Kino- oder Festival-Zusammenhängen zirkulieren. Oft genug hat man es ja selbst erlebt, dass man vergeblich solche Informationen gesucht hat, und im ein oder anderen Abwägungsfall durchaus auch mal eine (Kino-)Sichtung davon abhängen kann, jedenfalls bei unsereins. Wenn die Sachen dann jedoch sowieso nur noch für zuhause verfügbar sind, bleibt das zwar weiterhin eine interessante Information, aber weil man dann meist sowieso keine Auswahloption mehr hat verringert sich auch die Relevanz. Insofern ist gerade bei Format-Angaben eine gewisse zeitliche Nähe durchaus sinnvoll. Über den Rest kann man in Bezug auf Aktualität wohl streiten. Bin ja auch kein Fan der Mentalität, unbedingt um jeden Preis als Erster ganz schnell seinen Senf irgendwo rauszuhauen, aber andererseits dann so lange zu warten, bis die meisten Filme regulär im Kino oder zuhause verfügbar sind, erübrigt ein Stück weit halt auch einen Festivalbericht. Dann könnte man auch einfach gleich einen Haufen Filme aus einem früheren Jahrgang nachholen und darüber schreiben – überspitzt gesagt (gerade bei einem Nachspielfestival kann das dann wirklich problematisch werden, wie ich an meiner immer noch rumliegenden Viennale-2011-Skizze merke, ein Premierenfestival wie die Berlinale hat da insgesamt gewissermaßen einen größeren „zeitlichen Puffer“). Ein gewisser Aktualitätsgedanke ist Festivals und demzufolge auch der Auseinandersetzung mit ihnen dann wohl einfach inhärent, auch wenn wir das hier und da redlich zu unterlaufen versuchen. 🙂
    „Beichtenden Tonfall“ ist übrigens toll, würde mich ja interessieren, ob du eigentlich „berichtenden“ meintest – sprich: Tippfehler oder Absicht? 😀
    Und ja, gerade bei der Berlinale muss man einfach für sich einen Weg finden, eine Orientierung und ein Gespür zu gewinnen, sonst wird man dort nicht glücklich. Habe das mittlerweile aber glaube ich ganz gut raus. Und glaube, dass ich tatsächlich doch nicht unwesentliche Teile der lohnenswerteren Berlinale-Filme ganz gut abgegrast habe. Natürlich wird es hier und da noch unentdeckte Perlen geben, gerade in der ausgelassenen Generation-Sektion und auch bei einigen der erwähnten verpassten Titeln. Aber man kann es ganz sicher auch wesentlich schlechter treffen, wie wir alle bei der Berlinale ja schon selbst erleben durften.

    @Settembrini
    Anerkennendes Feedback freut einen natürlich trotzdem, kann ich dazu nur sagen. Wellenförmige Schwankungen des Filminteresse kennen wohl die meisten. Christoph kann derzeit in Italien auch ein Lied von abgeflauter Cinelust singen, er hat in den letzten Wochen gar keine Filme gesehen, obwohl er bis vor kurzem ein recht intensives und regelmäßiges Sichtungspensum hatte. Aber solche Phasen hatte ich durchaus auch bereits. Was die beiden Kurzfilme vor dem Kuleschow betrifft: Die liefen in meiner Vorstellung auch, aber nachdem ich/wir aus nicht mehr detailliert rekonstruierbaren Gründen etwas knapp dran waren, hat man uns erst nach dem Ende der Kurzfilme reingelassen. Das wurde bei Vorstellungen mit Vorfilmen offenbar immer so gehandhabt, um Störungen gering zu halten.

  7. Micha on Juni 21st, 2012 at 02:31

    Ein ganz wunderbarer Text, vielen Dank dafür. LOST IN PARADISE scheint die Gemüter tatsächlich beschäftigt zu haben – so übrigens auch mich, der ganz in der Ambivalenz zwischen Kopfschütteln und quietscheuphorischer Faszination gefangen war.

  8. Andreas on Juni 21st, 2012 at 02:45

    Am faszinierendsten daran finde ich ja fast, dass den Film offenbar beinahe jeder gesehen zu haben scheint. Und obwohl uns allen der Film dank besagter Ambivalenz wohl tatsächlich in Erinnerung bleiben wird, man es also auch nicht bereut, fragt man sich schon auch ein wenig, was uns da eigentlich alle reingetrieben hat. 😀

  9. gerngucker on Juni 21st, 2012 at 22:28

    Nun hätte ich trotz deiner Ankündigung dein Berlinale-Fazit fast übersehen. Bin eigentlich auf einen Blick nach möglichen München-Tipps hier vorbeigekommen und sehe nun deinen mittlerweile schon 14 Tage alten Berlinale-Bericht.
    Meine Achtung gebührt deinem Bemühen um Formate und Abspieltechnik und ich finde deinen Überblick sehr gut gegliedert und gestaltet.
    Tabu, Barbara, Meteora, Csak a szel – ja, die mochte ich auch alle sehr. Barbara hatte ich aber erst nach der Berlinale zum Kinostart gesehen und wie fast alle anderen Petzold-Hoss-Filme sehr gemocht. “Leb wohl, meine Königin” habe ich erst jüngst gesehen und war ganz positiv angetan, um nicht so zusagen: überrascht.
    Unsere einzige Panorama-Überschneidung ist “Xingu“ geblieben, den ich auch sehr ärgerlich fand aber ihm wohl ein wenig milder gesonnen bin als Du.
    Der Forumsfilm “Tepenin Ardi” gehörte noch zu meinen Berlinale-Highlights, mochte an dem das Parabel-hafte inmitten dieser archaischen Abgeschiedenheit. “A Night too Young” werde ich hoffentlich zu einer anderen Gelegenheit noch zu Gesicht zu bekommen. Dir hätte vermutlich noch “Avalon” ganz gut gefallen (auch wenn man mit Empfehlungen vorsichtig sein sollte), ein recht stimmungsvoller Film über drei nicht mehr ganz junge Party-Menschen, für die die Zeit stehen geblieben ist.
    Danke für deine späte aber schöne Zusammenfassung.

  10. Sano Cestnik on Juni 24th, 2012 at 13:08

    Ich meinte schon explizit deinen „beichtenden Tonfall“, Andi. Und ja, deine diesjährige Berlinale-Ausbeute scheint die Beste der letzten jahre gewesen zu sein. Insofern optimierst du deine Auswahlkriterien immer weiter, bzw. wird dein Instinkt immer treffsicherer. Da wir ja in den meisten Fällen ähnliche Einschätzungen bezüglich Filmen teilen, ist das dadurch natürlich natürlich zusätzlich nützlich und relevant für mich, deine Berichte zu lesen. Und selbst die Stinker scheinen dieses Jahr teilweise unverzichtbar gewesen zu sein. LOST IN PARADISE möchte ich nach deinen Ausführungen und der prägnanten Bilderstrecke jetzt gar nicht missen. Der wird von mir sofort geguckt, sobald ich seiner habhaft werden kann – auch ohne 35mm Bonus. Was sich bei mir da alles für Geschichten im Kopf abspinnen… das kann nur ein wahrer Sleanuss werden, bei dem dir die ‚objektiven“ Qualitäten vielleicht ein wenig im Weg standen (und auf solche FIlme ist man ja auch nie adäquat vorbereitet).

    Neben den ganzen Retro-FIlmen bin ich jetzt aber am neidischsten, dass ich bei Paul Gedays BYE BYE nicht neben euch sitzen durfte. Deine Worte lassen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen – muss ein Sichtungsereignis der Extraklasse gewesen sein, vor allem mit dem üblichen Berlinale-Publikum um einen herum. Diese erbauenden Gemeinschaftserlebnisse kommen in solch unerwarteter Form ja leider nicht alle Tage vor. 😀

  11. Andreas on Juli 31st, 2012 at 21:35

    @Gerngucker
    „Barbara“ habe ich ja auch bewusst auf den regulären Kinostart wenige Wochen nach der Berlinale verschoben, aber dann in den Rückblick inkludiert. Mittlerweile habe ich „Leb wohl, mein Königin“ ebenfalls noch regulär nachgeholt und sehr gern gesehen, wenn ich ihn auch nicht ganz so stark wie Jacquots vorletzten Film „Villa Amalia“ fand. Und ja, zumindest die erste Hälfte von „Tepenin Ardi“ fand ich auch sehr interessant (die abgeschiedene Landschaft fängt er tatsächlich bemerkenswert ein), er tritt dann aber in der zweiten Hälfte leider ein wenig auf der Stelle, finde ich. „Avalon“ behalte ich mal im Hinterkopf.

    @Sano
    Über LOST IN PARADISE unterhalten wir uns nach deiner Sichtung nochmal. 😀 Würde den tatsächlich auch nicht missen wollen, aber wie schon gesagt, sind die Bilder natürlich bewusst auf die spektakulären Tierauftritte hin ausgesucht und repräsentieren dadurch nur einen Teil des Films, der zwar seinerseits Spaß macht, aber dann zwischendurch auch immer wieder eine öde bis enervierende Kehrseite hat. Deshalb dann letztlich doch ein nur partieller, wenn auch denkwürdiger Spaß. Aber vielleicht offenbart er sich dir nach dieser Vorbereitung ja nochmal ganz anders, womöglich kehrt aber auch eher Ernüchterung ein. Wir werden sehen, irgendwann. BYE BYE war aber wiederum wirklich ein Erlebnis, wie man es in dieser Form und in diesem Kontext nicht alle Tage bekommt. Auf sowas kann man wirklich nicht vorbereitet sein, vielleicht hat es aber gerade deshalb so gut funktioniert.

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