100 Deutsche Lieblingsfilme # 37: Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn (1967)
Fritz Wepper spielt einen fleißigen Studenten und einen braven Sohn. Nebenbei verkauft er aber noch Drogen und betreibt einen Prostitutionsring. Als er sich verliebt, will er aussteigen – doch so einfach geht das nicht. Um ihn davon abzubringen, entschließen sich seine Freunde, die auch gleichzeitig seine Arbeitskollegen sind, Lotti, seine frisch Erwählte, in ihrem Etablissement ebenfalls an ältere Herren zu verhökern. Das erweist sich als nicht weiter kompliziert, denn die leichten Mädchen der Jungs sind fast allesamt ihre Mitschülerinnen. Und da sie ihr die Freuden von Drogen und Nebenverdienst nicht vorenthalten wollen, der „Nonne“, wie sie Lotti nennen, jedoch nicht recht über den Weg trauen, wird sie einfach unter falschen Vorzeichen zum Ort der Vollstreckung gelockt. Es kommt wie es kommen muss, sie ist so naiv, wie die anderen abgebrüht: LSD-Rausch, und der unerkannte Beischlaf mit dem Vater Weppers. Als Sohnemann vorbeischaut und die beiden zur Rede stellt, kommt es zur Aussprache zwischen Vater und Sohn einerseits und zum Selbstmord der Freundin andererseits.
So ist das in der Welt von Rolf Olsen. Alle sitzen zusammen im gleichen Boot, haben mehr gemein als sie wahrhaben möchten. Und alles passiert nicht nur rasend schnell, sondern wird auch ständig auf den Punkt gebracht. Exploitation könnte man sagen. Akkumulation gefällt mir aber besser. Akkumulation von Eindrücken, Beobachtungen, von Verhältnissen, die zwangsweise explodieren müssen, irgendwann. Was bleibt ist nur das fade Happy-End, die Maschinerie die nur diejenigen wieder ausspuckt, die sich ihr beugen.
Das sind jedoch nur kleinere Handlungseinheiten, kurze Sequenzen, die wie Rädchen im Getriebe ineinander greifen um die Dramaturgie der gesamten Geschichte am Laufen zu halten. Es gibt noch viel mehr zu sehen. Viel mehr.
Olsen ist ein Verpackungsgenie. Und er hat keine Skrupel, seine Matroschka-Puppe immer weiter zu zerlegen. Klarheit ist bei ihm jedoch schon von Anfang an gegeben. Die erste Szene: Ein Mann fährt ein Mädchen an, das im Drogenrausch auf die Straße getaumelt ist. Er bremst kurz, schaut raus, fährt dann weiter. Später wird er erpresst und verhaftet. Aber das ist nebensächlich. Denn das Entpacken, das Aufreißen der Oberfläche, verweist auf nichts anderes, als das, was wir auf den ersten Blick sowieso bereits erkennen können. Das Karussell dreht sich, und die Ahnung wird zur Gewissheit. Hinter der Fassade gibt es immer nur mehr vom Immergleichen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist ein Monstrum und sie verschlingt alles und jeden.
Ein wenig erinnert das an den im gleichen Jahr entstandenen Heisses Pflaster Köln. Statt der Auspeitschung im Hinterhof der Kneipe bei Hofbauer, gibt es bei Olsen am Anfang ein Harpunieren im Lagerhaus. Und beide Filme enden mit einer Massenerschießung der Täter und dem obligatorischen moralisierenden Schlussmonolog. Selbst der Vorspann ist beinahe identisch. Die Kamera auf das Dach eines fahrenden Polizeiwagens montiert, das rotierende Blaulicht im Zentrum. Hofbauer und Olsen. Beide sind große Satiriker, beide gallige Kommentatoren der ungeheuerlichen Vorgänge auf der Bühne des Lebens. Schausteller die ihre Attraktionen anpreisen, mit denen sie fesseln und schockieren, locken und abstoßen, den freudigen Schauer im Zuschauer auslösen, wie die frühen Künstler am Anfang der Filmgeschichte. Sie sind Zauberkünstler wie Segundo de Chomon oder Walter R. Booth die nichts dagegen haben, den Anforderungen einer sensationsgierigen Produktionsmaschinerie zu folgen. Die Bilder die die Menschen sehen wollen, und die Ihnen die Augen ausbrennen: Electrocuting an Elephant – 1967 in der BRD.
Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn – BRD 1967 – 98 Minuten – Regie und Drehbuch: Rolf Olsen -Produktion: Heinz Willeg – Kamera: Franz X. Lederle – Schnitt: Renate Willeg – Musik: Erwin Halletz – Darsteller: Erik Schumann, Heinz Reincke, Karl Lieffen, Fritz Wepper, Jürgen Draeger, Herbert Tiede, Marianne Hoffmann, Tanja Gruber, Rudolf Schündler, Konrad Georg, Rolf Olsen
Das hat ja auch lange genug gedauert, bis dieser Olsen es endlich in die heiligen Hallen geschafft hat. Tightes Werk.
Ja, was für ein Erlebnis! Hat mir bezüglich des Filmemachens in Deutschland die Augen geöffnet wie seit langem nichts mehr – und ist meiner Meinung nach ein direkter Vorläufer der Grafschen Kunstwerke. So etwas wie DIE KATZE lässt sich jetzt für mich filmhistorisch klarer nachvollziehen und erscheint nicht mehr so singulär. Mal schauen, ob es noch ein weiterer Olsen in die Reihe schafft bis die 100 voll sind. Ist ja jetzt der zweite, glaube ich. 😀