100 Deutsche Lieblingsfilme # 38:
Maria – Nur die Nacht war Zeuge (1979)



Ein Film mit einem reißerisch anmutenden Titel, inszeniert vom Regisseur der Schulmädchenreport-Reihe. Ein ausgewogener, ein ausbalancierter Film. Eine Fingerübung auf hohem Niveau. Eine vorhersehbare und im konventionellem Rahmen gehaltene Moralpredigt. Ein Film der sich immer wieder auf sich selbst besinnt und permanent aus allem speist was in ihm zuvor erschienen ist. Eine Schlange die sich in den Schwanz beißt, ein sich selbst verschlingendes Ungetüm. Egal was man über Ernst Hofbauer und seine mannigfaltigen Ansätze sozialkritisches Kino in Deutschland inszenieren zu wollen denkt, eines ist meiner Meinung nach unbestreitbar: Hofbauer weiß wie man Filme inszeniert. Maria – Nur die Nacht war Zeuge zeigt Hofbauer im Vollbesitz seiner inszenatorischen Fähigkeiten und mich würde nicht wundern, hätte Hofbauer gesagt: „Ich hatte bereits alle Einstellungen, alle Details, vor dem Dreh im Kopf“. Doch was Hofbauer hier von den frenetischen Exzessen seiner jüngeren Werke trennt ist nicht Lustlosigkeit sondern Abgeklärtheit. Hier ist kein Regisseur am Werk der noch irgendjemandem irgendetwas beweisen müsste – auch nicht sich selbst.

Was diesen Film besonders auszeichnet, und zeigt, dass Hofbauer sich formal nie auf bereits Erreichtem ausruhte, ist eine neugewonnene Ebene der Klarheit. Nichts wirkt beiläufig, nichts zufällig (auch nicht die gewohnt brillanten Dokumentarfilmanklänge die Hofbauer gerne in seine Filme einbindet), hier ist alles aus einem Guss und dabei doch das Gegenteil von einem Monument. Was man auf den ersten Blick übersehen könnte, offenbart sich auf den zweiten als unübersehbar: Dass jedes Teilstück mit jedem anderen im Film korrespondiert, dass jedes Rädchen im Getriebe nicht nur feinstens geschmiert und kalibriert ist, sondern dessen Einzelteile stets in der gleichen Harmonie zu schwingen verstehen. Hier rollt nichts, stürzt nichts, überschlägt sich nicht, sondern gleitet voran, gleichmäßig, ruhig und bestimmt. Und nichts kann die Struktur der Erzählung von ihrem vorbestimmten Kurs abbringen. Das erinnert auch an Dziga Vertovs Theorie der Intervalle, an Sätze die einander antworten, Aktion und Reaktion, keine Monotonie, sondern der stetige Fluss der Zeit.

Hofbauer weiß: was ich zeige hat man alles schon hundert mal gesehen. Was ich erzähle ist so alt wie das Leben selbst. Und trotzdem erzähle ich es noch einmal. Auf meine Weise. Denn das Einfachste ist immer das Schwierigste – sofern es auch Einfach erscheinen soll. Hofbauers Erzählökonomie erinnert dabei an Raoul Walsh und Howard Hawks in den 40ern, die Annäherung an den Stoff und die Thematik an Peter Pewas‘ Straßenbekanntschaft und Viele kamen vorbei. Hofbauer zeigt immer nur das, was wirklich entscheidend ist. Jede Szene wird auf den Punkt gebracht. In einem fatalistischen Malstrom gefangen gibt es keinen wirklichen Ausweg für die Figuren. Denn jeder Fluchtweg erweist sich als neue Falle. Denn das Leben läuft immer unerbittlich weiter. Und Grausamkeit ist dann am unerträglichsten wenn sie beiläufig und unwissentlich geschieht.

Wenn in einem Film die brutale Vergewaltigung einer Frau noch am harmlosesten erscheint, und der Höhepunkt des Films bereits am Anfang überschritten ist, wird man sich auf vieles gefasst machen müssen. Hofbauer verhält sich jedoch sachlich, beinahe abweisend. Für Nihilismus ist nicht viel Platz, ebenso wenig wie für Satire. Eher nüchtern als düster, beklemmend als eindringlich, und trostlos statt fassungslos, beobachtend statt Anteil nehmend. Der Spiegel wird einem vorgehalten und man erblickt Sand der zwischen den Fingern zerrinnt.

Der teilweise an sowjetische Montagekünste erinnernde Schnitt mit seinen immer wiederkehrenden Montagesequenzen hat vieles vom italienischen Kino der 70er, die vor allem auf Atmosphäre setzende und die Nuancen der inneren Vorgänge der Charaktere zu erfassen versuchende Kamera und die genial kontrapunktisch gesetzte, zärtlich-romantische Musik von Riz Ortolani, tun ihr übriges. Alles erfüllt seinen Zweck, steht immer für sich und für das Ganze. Widersprüchlichkeit hebt sich auf, Einheit dominiert.

Maria – Nur die Nacht war Zeuge ist ein geschliffener Diamant, in dem sich das Licht unserer Gesellschaft bricht, zunächst wie in einem Prisma in dem die Sonnenstrahlen nach allen Seiten drängen, nur um nachträglich doch wieder durch ein Vergrößerungsglas gebündelt zu werden, unter dem der Einzelne, einer Ameise gleich, unerbittlich verglüht. Die Zeit dehnt sich, bleibt stehen. Das letzte Bild: Ein Mann, vor Schmerz gekrümmt am Boden liegend, in seinem Leiden erstarrt. Den Fluss kann man nur stoppen wenn man ihn einfriert.

Maria – Nur die Nacht war Zeuge – BRD, Italien 1979 – 88 Minuten – Regie: Ernst Hofbauer – Drehbuch: August Rieger – Produktion: Theo Maria Werner – Kamera: Charly Steinberger – Schnitt: Inge Moritz, Christel Orthmann, Ingeborg Taschner – Musik: Riz Ortolani – Darsteller: Janet Agren, Howard Ross, Werner Pochath, Astrid Frank, Eric Pohlmann, Marianne Wischmann, Werner Gollner, Ginny Noack, Gudrun Landmann, Martin Steiner, Dimitris Kallivokas, Giannis Zavradinos, Makis Revmatas, Dimitris Myrat

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Juni 15th, 2012 in den Kategorien Blog, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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