Zehn Jahre Schlingensief und der Filmschnitt als Diskursstifter mit „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ (2020)





Auf der Leinwand spielt sich ein Kuddelmuddel überkonstrastreicher Mehrfachbelichtungen ab – streng begutachtet wird es im enthüllenden Gegenschnitt von Christoph Schlingensief, der sogleich bestimmt, einige Teile und Effekte in der Postproduktion herauszunehmen, die eigene Schöpfung im Nachgang dekonstruiert sowie anders arrangieren will. So öffnet Bettina Böhlers Portrait des vor nunmehr zehn Jahren unzeitig allen irdischen Kontroversen entrissenen Enfant Terrible; ein Vorstoß, der programmatisch ist für die sich entspinnende Herangehensweise an einen allzu bekannt Gewähnten. “Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” beginnt und endet mit, bettet dazwischen sanft: Dekonstruktionen, materialästhetisch, inszenatorisch oder profan rekapitulierend, alles ist mehrebig und von verschiedenster Quelle. Interviews folgen intimen Interviews der Kindheit, diesen Filmausschnitte, jenen Talkrunden und multimediale Happenings, dann wird variiert und neu gemischt. Dokumentarfilm als Kartenspiel – nie weiß man, was als nächstes ausgeteilt wird. Der Schnitt aus Böhlers eigenen, vielgewandten Händen ist meisterhaft, ein Arrangement an Auszügen, die Leben und Werk Schlingensiefs in beständig wechselnde Relationen setzen. Relationen, die genauso gut gänzlich anders ausfallen könnten, das scheint ihr der Schlüssel zum Werk.

Ihres ursprünglichen Rahmens beraubt wirken einzelne Szenenblöcken aus Schlingensiefs filmischem Werk nicht mehr wie Teile eines durchgängigen Gedankens, einer künstlerisch verbrieften Wahrheit – sie sind zerhackt und interpretieren ihre angepasste Umgebung neu, erinnern in ihrer unvermittelt aufploppenden Strukturierung an Otto Waalkes alten Fernsehgassenhauer “Otto – Die Serie” (1995). Menschen, die Vorexistentes auf der Leinwand allein durch ihre unnatürliche, extern herübergewehte Anwesenheit verzerren, ihm somit erweiterte Facetten abgewinnen – einem Film oder der ernüchternden Realität, letztendlich sind sie das Gleiche, da kann der Film sich auf den Kopf stellen. Einmal bekennt Schlingensief milde resigniert, im Streben nach Echtem beinahe zwangsläufig unecht wirken zu müssen. Diesem Sentiment gibt Böhler eifrig editorischen Zucker und legt so die Methodik hinter dem angeblichen Irrsinn frei. Leichtfertig gewonnene Eindrücke von nie versiegt habender Rebellion gegen das bürgerliche Elternhaus visualisiert die Montage zumindest analog zur öffentlichen Meinung, bevor Schlingensief sie mit der nüchtern-entspannten Auskunftsfreudigkeit der persönlichen Interviews stante pede wieder zerstreuen darf. Dem nie mehr als gehässig gewesenen Gewäsch muss Böhler in einem eleganten Kunstgriff somit gar keinen textlichen Widerhall geben, ohne es jedoch revisionistisch aus der Welt zu schneiden.

Eine sensorische Impression manipuliert die nächste und untermauert auf intellektualisierter Ebene die Wichtigkeit, die Schlingensief in gleichsam wieder sorgsam ausgesuchten Ausschnitten der filmischen Wirklichkeitsmanipulation durch Doppelkopierungen, Mehrfachbelichtungen, steile Kontraste, der Koexistenz von Ausdrücken zuschreibt. Der Film übersetzt für ein besseres Verständnis, eine Illustration in gleichgestellten Überlagerungen, verkommt jedoch nie zu einem reinen Abfeiern des offenkundig bewunderten Künstlers. Neben einem angebotenen, nie aufgedrängten Leseansatz wohnt dieser Herangehensweise nämlich auch etwas ungleich Rareres inne: Ein Eingeständnis der Endlichkeit des eigenen Horizontes. Die singuläre Perspektive, das eigene Erleben, das seine Filme immer wieder umarmten überträgt sich auf dieses Essay in Collagen – Film als simulierte Momentaufnahme, nicht der Weisheit letzter Schluss. So bleibt auch das Objekt stets ein wenig ungreifbar, ist Schlingensief nach dieser Würdigung weiterhin ein Puzzleteil mit multiplen Andockmöglichkeiten. Böhlers Film lässt die Würde des vielfach Gescholtenen und küchenpsychologisch Auserklärten intakt sowie schon allein durch seine äußere Beschaffenheit keinen Zweifel daran: Dies ist eine mögliche Zusammenstellung des Gesagten und Gewesenen unter vielen.

“Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” entzieht sich klarer Ausdeutungen und überantwortet das Publikum in ebenjene mündige Haltung, die dem Regisseur stets von Bedeutung war und Zentrum vieler konservierter Einlassungen ist – das Ausformulieren eines eigenen Blickes auf die Kunst. Eine Schnittstelle, an der er vieles mit der gängigen Kritik kurzschließt. Der Aktionist ist ein Gesamtkunstwerk per se und Schlingensief spielte wie kein zweiter deutscher Filmschaffender neben Til Schweiger fortwährend mit Ruf wie Rezeption, sie beide waren ihm unablösliche Teile. Böhler lässt ihn weiterspielen, ganz als würde er noch leben, wird durch ihre vertrackte Gegenüberstellungsmontage dem intermedialen Phänomen Christoph Schlingensief gerecht, erleuchtet den Freiraum zwischen den Aspekten des Intimen und des Öffentlichen. Letztere basierten, wie die Amalgamation aufzeigt, über Jahrzehnte auf der Verwechslung von Alltag und Politik – jenem Fallstrick also, der bestimmte Probleme unserer Zeit, unserer Vergangenheit, unseres Kontinuums schuf und weiterhin schafft, die Schlingensief meint, wen er der sogenannten gesellschaftlichen Mitte im damaligen Heute überspitzt eine höhere Radikalität als den dezidiert, wichtiger jedoch fremd- oder selbstgeouteten, Rechten attestiert. Getreu den Schlingensiefchen Filmtechniken überlagert Politisches diskursiv vehement den unverrückbaren Alltag.

Von Bedeutung im Sinne einer jovial ernst nehmenden Anerkennung ist in Deutschland seit jeher, was politisiert ist, sich zuallererst selbst dergestalt begreift – Neo-Faschisten also, über deren Übel sich alle, selbst Artverwandte, in trauter Heimeligkeit einig sind, Filmschaffende mit dem Herzen am rechten Flecken, Filme freilich, denen, sofern nicht von Haus aus mit einer seriösen, aufwandslos katalogisierbaren Haltung versehen, dringend eine solche aufgebürdet werden muss. Schlingensief aber nahm allein die ausgegrabene Weltsicht hinter ihren bizarren Ausformungen, den seinen Figuren, ernst, nicht ihre Eigendarstellung, deren schweinische Überhöhung im filmischen Raum enthüllender ausfallen kann als die schnödeste Analyse. Da fingen die Probleme bereits an in einem Land, das Zustandskritik am liebsten lediglich als wohlig zu lesende Grußkarte für voll nehmen mag. Mit Gift in kleinen Dosen heilen, nennt der Apothekersohn die Arbeit des Vaters einmal – das ist es in metaphorischer Reinform: Ob er des Altvorderen Berufswunsches jemals entsprechen wollte oder nicht, Schlingensief kam da nicht raus – er war erst ungedankter Pharmazeut am hassvergilbten Herzen der Nation, dann Filmemacher. Dementsprechend unverständig die Anschuldigungen, denen er sich zeitlebens, selbst darüber hinaus, aussetzen musste. Er forschte im Hier und Jetzt an der Ursache, dem nicht nüchtern in zu bebildernden wahnhaften Einfrass dahinter, sie hingegen wollen verdaubar politisierte Radiologien vergangener Symptome.

Hier setzt Bettina Böhler an. Die wohlgeschnittene Strenge der Auswahl akzentuiert, wie das Alltägliche Deutschlands zwischen den Bildern lauert. In Form von Einblicken in Schlingensiefs eigene Kindheit, gleichsam in Form der erwogenen Filmausschnitte, die zumeist banalste Interaktion unter Menschen abbilden, das Grundlegende im vordergründigen Spektakel inszenieren: Tischszenen aus “100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker” (1989), das Kino als Kollektivbegegnung der dritten Art in “Tunguska – Die Kisten sind da” (1984), das stumpfkehlig lachende Morden der Faschisten aus “Terror 2000 – Intensivstation Deutschland” (1992), schließlich in realitärer Vollendung die zweite Heimat im Theater, das sich improvisativ gegen die Gepflogenheiten und blanken Funktionalitäten der Kunstschickeria sträubte. Assoziativ fließend wie der Soundtrack Helge Schneiders stellt “Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” klar: In letzter Konsequenz war Schlingensiefs Kino, sein gesamtes Wirken nie Punk, ist es vielmehr Jazz gewesen – der Wesenskern proletarisch, als akademisch-bildungsbürgerlich ausgedeutet und erobert, bei Misstönen doch direkt abgestraft. Weniger politisierte Geste, Agitprop, denn nie verschallender, ja, alltäglicher Strom überdimensioniert aufbereiteter Grausamkeiten aus den Menschenküchen der BRD. Dass dies auch zehn Jahre nach seinem Tod in der massenwirksamen, auf frivole Oberflächlichkeiten zentrierten Rezeption keine Rolle spielt, spricht schon für sich Vielsagendes aus.

Dankenswerterweise dokumentiert Böhler in ihrer Akzentuierung nicht bloß von Spiel, sondern auch von Aussagen, wie sehr ihn eine Breitenwirksamkeit seines Schaffens über berufene Kreise hinaus am Herzen lag und präsentiert darin gleichzeitig eine Mahnung, wie weit man doch (herum-, denn von Dauer kann dieser Zustand für den Querulanten nie sein) kommen kann im Kulturödland Deutschland, sofern man sich nicht bescheidet mit einem in pflichtbewusster Dankbarkeit eingenommenen Platz als notdürftig gehegte, mit dem berühmten Zwergenschatten versehene Kümmerlichkaktee inmitten der Wüsteneinen 534 und 535. Das gilt heute mehr denn je, in einer Zeit, in der die sich fast zwanghaft bürgerlich – mittig – gerierende AfD Faschoklitschen vergangener Tage längst in ebendieser Breitenwirkung überholt hat. Mit Breitenstreben, nicht cinephiler oder anderweitiger Sektiererei gewinnt man Blumentöpfe – es ist die eine unumstößliche Wahrheit des Filmes, Schlingensiefs Lektion an die unzweifelhaft mit Ansteckblume am Revers im Kinosaal versammelte, nun ganz andächtige und eigendesignierte Erbengemeinschaft aus dem Kulturbetrieb. Der Kampf war nicht vergebens, zuletzt ist diese Dokumentation auch eine Ansage. Heerzahlen an Eindrücken mit einer im Ablauf völlig linearen Heldensage antiken Ausmaßes, dem Fließen klarer, bürgerlicher Karrierelinien kontrastierend ist Böhlers Stationenreise der posthume Triumph auch eines anderen – des erratischen Jungen, den trotz ermogelter Wenders-Empfehlung keine Filmschule haben wollte, den die Kritik vornehmlich als Provokateur abtat und der dennoch in Bayreuth inszenieren durfte, bevor er mit einem schockierten Arschtritt erneut vor die Türe befördert wurde.

So sehr “Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” anlassgebundene Traurigkeit aufkommen lassen sollte, so sehr stimmt er stattdessen froh, ist er einer der mutstiftendsten Filme in diesem so allgemein betrüblich ausgefallenen Jahr. Fest steht: Wenn es nach dem Virus mit dem deutschen Film weitergeht, wird beständig auch ein Stückchen von Christoph Schlingensief in ihm fortleben. Denn “infiziert”, wie er es in einer nun unvertraut positiven Auslegung des verabscheuten Wortes ausdrücken würde, hat er dessen DNA unauslöschlich. Ohne zu fragen.


Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien – Deutschland 2020 – 124 Minuten – Regie: Bettina Böhler – Produktion: Frieder Schlaich, Irene von Alberti – Drehbuch: Bettina Böhler – Kamera: diverse – Schnitt: Bettina Böhler – Musik: Helge Schneider

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Oktober 21st, 2020 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Filmtheorie, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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