Die bezaubernde Elegie des Niederganges – Byleth (Il demone dell’incesto) (1972)
- Don’t be angry – don’t be sad
Don’t sit crying over good times you’ve had
There’s a girl right next to you
And she’s just waiting for something to do
(Stephen Stills – Love the One You’re With)
Visuelle Verpuzzlelungen von isolierten Blicken, Gesten und Körpern. Was an „Byleth“, Leopoldo Savonas Inzestdrama im rustikalen Gewande eines Gothic Horrors, provokativ ausstrahlt, ist weniger sein recht offenherziger Inhalt denn die Bilder, die es Mal um Mal für ebendessen schwarzen Kern findet. Trennungen und erneute Zusammenlegungen von Menschen im Raum der Bildkadrierung reichen dabei für nahezu jede Lebenslage völlig aus. Als Herzog Lionello Shandwell (Mark Damon) seine Schwester Barbara (Claudia Gravy) nach einigen Jahren erstmals wiedersieht, bricht der Schnitt ihren freudiges Aufeinanderzugehen vorm Momente des Zusammenstoßens auseinander, der beide nun separiert an den entgegengesetzten Rand der Bildbegrenzung eilen lässt, aus dem der andere gleich erscheinen müsste, nur um sie in einer weiteren Aufnahme erstmals zusammenzusetzen. Ein Wiedersehen nicht allein narrativ sondern auch formal entwickelt, eine Vereinigung – ein jeder weiß fortan, wie der Hase läuft, weiß es seit eh und je. Anziehungen unsäglicher Natur sind im Filmischen selbst verankert, prädeterminiert, quasi Naturgesetz in Savonas Film. Alles torpedieren sie. Eine weitere frühe Bildfolge von dauerhafter Wirkkraft: Barbara und ihr Gatte, der distinguierte Giordano (Aldo Bufi Lando), nach dieser vielgesichtigen Heimkehr hinter einem Brunnen, allmählicher Zoom auf die Fontäne, die sich graduell mehr und mehr zwischen statt vor den beiden Köpfen befindet – ihr sanftes Plätschern in sonnenertränkter Opulenz als Bote des sich anbahnenden Unheils. Zumeist verschwört sich die Architektur schon lange gegen die Bindungen der Menschen, bevor sie es selbst tun könnnen. Es entspinnt sich ein elaboriertes Geplänkel an- wie abwesender Blickrichtungen: Allein über seinen Kopf, nichts als schwarzes Haar, angeschnitten die nun Küssenden, während im verstohlenen Gegenschnitt das Gesehene zu Barbaras irritierten Blick hinter den Sträuchern hervorlugt: Lionello, der als Gegenmund des porträtieren klausuliert zum intrusiven Empfänger dieser Zärtlichkeiten gerät.
Aus dem begrenzten, sich immerzu auf eine verengte Auswahl an Interaktionsmöglichkeiten verengenden Ermessenspielraum, der sich aus Montage, Architektur wie Figurenaufstellung zwischen diesen ergibt, entwickelt Savona ein komplexes Drama, das kaum einmal expositorischen Zwängen gehorchen muss, sich fast ausschließlich darüber erzählt wann, wo und wie man die Charaktere zueinander arrangiert. Die gesamte Mise en Scène wirkt diabolisch auf ein einziges Stichwort, den inzestiösen Dreieckskonflikt, hin reflektiert und findet es alsbald an prominenten Stellen. Oberflächen von Gesichtern und wohlsituiertem Ornament, Farbflächen von nackter Haut und Labyrinthen aus Stein oder Grün. Flächenkunst, das ist „Byleth“, seine Raumausstattung nimmt kein Vollbad in Feinheiten, sondern spachtelt großzügig auf. Vereint in einer Aufnahme ihres schon bald aufbrodelnden Disputes erspäht man hinter Giordano auf der linken eine ganze Tierhaut an der Wand, die Jagd; Lionello hingegen muss in seinem Abschnitt zur Rechten mit einem gestrickten Wandbild Vorlieb nehmen, das Neurotische – Lebenswelten im kleinstmöglichen Kosmos verdichtet, der Diskurs zu Virilität in Savonas Film bleibt vergiftet. Alles unvereinbar im Fundament. Wenig männliches Gebalze später wird in Fechtaufnahmen Giordanos Degen penetrant vor Damons Gesicht das Zentrum der Komposition einnehmen, baumelnd wie eine besonders bedrohlich große Pimmelbarriere. Das Unglück ist so vorprogrammiert wie die Zuflucht eines solchen Mannes – den weißen Gaul im Stall, hinter dem sich Lionello vor dem, was er als nachhallendes Gelächter wahrnimmt, verbirgt, inszeniert die Kamera als einfarbig den Raum aufhellende Schimmelbarriere gegen die Ungerechtigkeit der aristokratischen Lebensumstände.
„Byleth“ vermählt das Märchenhafte, das viele seiner disneyesken Symbole, die Schöne-und-das-Biest-Schlossromantik, die adretten Kleider, pausenlos evozieren, und dessen proletarischen Schattenseiten auf diabolisch denkbarste Weise, ist das, was der alte Walt uns nie zeigen wollte – Cinderella the Untold Story. Dunkler Schmier gleitet mühelos an allen Barrieren vorbei, und an ihnen mangelt es wahrlich nicht – durch sie wird beobachtet, sie bieten Schutz vor Beobachtung, meist beides im gleichen Maße. Entgegengereckt ragen die Hände einer Liebschaft Lionellos aus dem Off in das Bild hinein, störend vor ihm, der abgewandt die Wand anbrütet – Barrieren existieren auch unsichtbar zwischen den Menschen, nur einer begehrt hier wirklich, der andere hängt gedanklich bei seiner Schwester. Die meisten Beziehungen lässt Savona auf den entgegenliegenden Polen eines in die Kadrierung eingelassenen Kreuzrasters ablaufen – vorne und hinten, links und rechts wie umgekehrt, bloß die Geschwister sind meist körperlich vereint. Gespräche halten es ähnlich, besonders eklatant drängt sich dies nach dem gestrengen Schuss-Gegenschuss Lionellos Verhörs durch einen der sich entspinnenden Mordserie nachforschenden Ermittler auf. Ein reines Reaktionsgespräch mit exaltiert herausgestellten Impulsen gegen Natürlichkeit in jeder Geste, die den anschließenden Dialog mit Barbara warm einpackt. Auf ihre Architektur mag dies nicht im strikt wörtlichen Sinne zutreffen, doch die Welt an sich ist hier eine undurchlässige, was Savona nie in einen wirklich gesellschaftlichen, historischen oder auch nur konkret narrativen Rahmen flicht, sondern in Gänze der Dämonologie des Titels, dem Schicksal und überirdischen Mechaniken überantwortet. Gegen sie bleiben andere Kräfte und Einflussfaktoren papierne Behauptung. Diese geschickte Dichotomie zwischen Sag- und Sichtbarem macht „Byleth“ zu einem interessanten und in seiner bitterromantischen Oneironautik einmal tatsächlich sublim erdrückenden Portrait von Besessenheit.
Hinter dem Stamm des Baumes verschwinden und in reimaginierter Unschuld wieder aus seinem Schatten hervortreten – so ergeht es Lionello und Barbara in dem, was wohl als Schlüsselszene zu den verrätselten Impressionen fungiert. Doch materialisieren sich die dergestalt angedeutete Rückblenden einer glücklicheren Liebe, die weichzeichnerverifizierten Gefilde von Sergio Leones „Giù la testa“ (1971) nie. Als unspezifisch sehnender Film bebildert „Byleth“ den transgressiven Akt entgegen aller suggestiven Explizitheit anderwärts nicht in den kleinsten Auszügen. Rein akkustisch bleibt der Widerhall der vergangenen Tage über die Gegenwart gelegt. Eine gemeinsame Vergangenheit existiert allein als geflügeltes Wort zwischen zwei Personen, deutlich abgegrenzt von der bildlichen Ebene, die ansonsten universell verhandelt. Aus den Tonlagen der Erinnerung, des Vergänglichen eskaliert der Film gegen Ende seiner Laufzeit zunehmend, eine Spezialität Savonas, die er mit dem im gleichen Jahr erschienenen Verfallsgiallo „La morte scende leggera“ teilt. Folgerichtig endet Lionellos Zurechnungsfähigkeit auf einer Party, die einzig aus Banalitäten – Kerzenständern inmitten Personen und unhörbarem Geschwätz – Unwohlsein erzeugt. In der Essenz ist Leopoldo Savonas Genrekino von bemerkenswerter Simplizität – eine Amalgamation von präzisen Bildern und Klängen, die sie auffräsen, Gediegenheit im Abgründigen, keine Taschenspielertricks.
Und erobert doch Bewegung die Kamera, so bahnt sich die brechende Psyche an. Tastenden Auges durchleidet Lionello einen Nervenzusammenbruch, die Geliebte, der Konkurrent aus steilsten Winkel von unten erforscht, Details ihrer Kleidung, die sorgenvollen Gesichter erdrückend hinabstierend, aus deren Passivität des eigenen Körpers gebiert sich rege Mobilität der Ängste. Sie markiert jenen Moment, in dem aus Flächen Portale werden, der Mensch unaufhaltsam von Zwängen motorisiert in die Umgebung zurückkehrt. Vage Gardinen, mehr ist da nicht mehr, das die Illusion einer klar zweckgebundenen Öffnung von einem Dimensionsportal ins Ungewisse unterscheidet, als wir am nächsten Morgen über Lionello hinweg durch das Dachfenster in den Hof hinabschauen dürfen. Ganz fern, durch die großen Körper im Vordergrund verzerrt – die, die nun auch Fremde geworden sind. Wie die Bilder, in die der finale Wahnsinn Mark Damons Abbild als Autoaggressor einkopiert, ist „Byleth“ ein selbstablaufendes Untergangsgemälde – seine langanhaltende Elegie lädt zum Träumen ein, doch wo man auch aus- und wieder einsteigt, es geht stets nur bergab. In einen Hort zertrümmerter Leinwände, die mehr Wahrhaftigkeit preisgeben, als man vom Zauber eingelullt wahrhaben will.
Byleth (Il demone dell’incesto) – Italien 1972 – 83 Minuten – Regie: Leopoldo Savona – Produktion: ? – Drehbuch: Norbert Blake & Leopoldo Savona – Kamera: Giovanni Crisci – Schnitt: Otello Colangeli – Musik: Vasili Kojucharov (als „Vassil Kojucharov“) – Darstellende: Mark Damon, Claudia Gravy, Aldo Bufi Lando, Silvana Panfili (als „Silvana Pompili“), Franco Jamonte u.v.a.
[…] – André Malberg hat mich auf Eskalierende Träume gefoppt. Ich habe tatsächlich gedacht, er hätte sich James Camerons „Terminator II“ vorgenommen. Ist aber der von Bruno Mattei, für den ich mich ja durchaus erwärmen kann, nachdem ich einige Filme von ihm auf der großen Leinwand sah – wo sie weitaus besser wirken als auf dem heimischen Bildschirm. Dazu gibt es noch etwas Gothic Horror mit einer Besprechung des Italo-Gruslers „Byleth“. […]