Seelenwucherungen am Gewebe – Skepp till Indialand (1947)

    I wish I was stronger; I wish I was thinner
    I wish I didn’t have this nose
    These ears that stick out remind me of my father
    And I don’t want to be reminded at all
    The final disappointment

    (Lou Reed – Harry’s Circumcision)

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Schienen nach Irgendwo – Kris (1946)

    Melancholie ist das falsche Wort
    Für all das, was man nicht sagen will und kann
    Man will nicht zurück
    Und doch sehnt man sich dorthin
    Wohin man nicht mehr gehen kann

    (Mutter – Böckhstr. 26)

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Doppel-Zitat der Woche

„Die Sensationslust ist wie Fressgier. Wer einen appetitlichen Batzen verschlungen hat, den verlangt es nach neuer Kaubefriedigung. Mit der Schaubefriedigung ist es ähnlich. Die Lust am Nervenkitzel ist wie eine Droge, die immer wieder neu injiziert werden muß. Wer Sensationen gesehen hat, will Sensationelleres geboten bekommen.
Jetzt kommt von MONDO CANNIBALE eine Fortsetzung, gegen die der 1. Teil im nachhinein wie ein Grimm’s Märchen wirkt. Was hier zwei Männer im malaysischen Dschungeldickicht sehen und am eigenen Leibe erleben, läßt auch beim hart gesottenen Kinogänger ein eher flaues Gefühl im Magen hochsteigen. Nach 1 ½ Stunden zerreißender Spannung und schauriger Sensationen kann der Zuschauer das in bitterem Lachen aufkommende Gefühl genießen, wieder einmal 100%ig die eigene Nervenkraft getrimmt zu haben. Als Zeuge im Kinoparkett läßt es sich leichter leben, denn als Wissenschaftler, der unter Kannibalen fällt. Die Presse hält diesen Film für das mutigste und gefahrvollste Kinoabenteuer der letzten Jahre.“
– Werberatschlag des deutschen Filmverleihs zum Kinostart von Ruggero Deodatos MONDO CANNIBALE 2. TEIL – DER VOGELMENSCH.

Kunst und Schund. Ich weiß noch, wie ich einmal mit einem befreundeten Paar ins Kino gehen wollte. Bergmans Von Angesicht zu Angesicht hatten sich die zwei ausgesucht, die beide sehr diskussionsfreudig und problembewußt waren. Auf dem Weg zum Kino kamen wir an einem anderen Lichtspielhaus vorbei, einem richtigen Schmuddelkino, in dem gerade ein Horror-Sexfilm von Jess Franco lief. Die Aushangphotos reizten mich. Ich hatte Lust auf Kino und wollte nicht nur einen Film sehen. Also ging ich in den Franco-Film, das Pärchen in den Bergman. Ich brauchte noch meine Zeit, bis ich Bergman schätzen lernte, bis ich das Phantastische, die Poesie und den Horror entdeckte in Das siebte Siegel, Das Schweigen, Die Stunde des Wolfs. Die Kunst Francos hatte ich längst erkannt. Kunst und Kitsch sind relative Begriffe im Kino, vor allem dem phantastischen.“
– Aus: „Einleitung: Im Reich der Schatten“ in: Hans Schifferle: Die 100 besten Horror-Filme. Heyne Filmbibliothek, 1994, München. S. 11.

Die Zeit mit Monika (1953)

Wenn ich von Bergman geredet habe, habe ich bisher eigentlich meistens von Nykvist geredet. Zumindest im Positiven. Die meiner Meinung nach negativen Aspekte in Bergmans Filmen (und für mich gab es derer meist viele, da ich nie ein Anhänger von ihm war), ließ ich gerne auf ihn zurückfallen. Deshalb geriet ich während der Sichtung von Sommaren med Monika (DT: Die Zeit mit Monika / Schweden / 1953) auch schnell wieder ins Schwärmen über „Nykvists naturalistische Kameraarbeit“. Umso verwunderter war ich, als ich nach dem Film herausfand, dass Nykvist bei diesem Film seine Finger nicht im Spiel gehabt hatte. Nun ja, völlig sicher war ich mir während des Films auch nicht gewesen (Nykvists Name war mir bei den Titeln des Vorspanns nicht ins Auge gesprungen), aber auf irgendjemanden musste ich meine Begeisterung doch projizieren – und Bergman selbst konnte diese Rolle für mich natürlich nicht ausfüllen.

Viel wurde in den letzten Jahrzehnten über die legendäre Zusammenarbeit von Bergman und Nykvist geschrieben. Doch dass Bergman auch einen anderen wichtigen Kameramann besaß, mit dem er mindestens 12 Spielfilme gedreht hat, ist weniger bekannt. Gunnar Fischer war auch für die wundervolle Kameraarbeit in „Die Zeit mit Monika“ verantwortlich, und die Bildsprache erinnert bereits vollkommen an die späteren Kollaborationen mit Nykvist. Viel von Sjöström ist hier zu sehen, vor allem bei der Arbeit mit Überblendungen und Natursymboliken (aber auch in der Montage), und Elemente des amerikanischen Film Noir werden ebenso aufgegriffen wie Charakteristika des Weimarer Kinos (in den Straßenszenen werden Erinnerungen an Pabst wach, und die Innenhöfe von Wohnblöcken könnten direkt aus Fritz Langs „M“ entnommen sein). Der Einfluß des italienischen Neorealismus der dem Film wohl aufgrund seiner zahlreichen Außenaufnahmen nachgesagt worden ist (und der im Prinzip in der gesamten europäischen Filmgeschichte nach Beendigung des 2. Weltkrieges als Ausgangspunkt unzähliger Beobachtungen dienen mußte), erschließt sich mir jedoch nicht vollständig. Vielmehr würde ich eine Analogie zum japanischen Kino der Nachkriegszeit ziehen, vor allem des psychologischen Realismus, welches mit Akira Kurosawas Rashômon (Japan / 1950) nach dem Erfolg bei den Filmfestspielen von Venedig 1951 in Europa große Anerkennung erlangte. Die kontrastreiche schwarz-weiß Photographie der Naturaufnahmen besitzt einige Eigenheiten dieser in Europa populären japanischen Filmästhetik der 50er Jahre, so z.B. in der spezifischen Integrierung von Landschaft in die Mise-en-scène, und den ausdrucksstarken Umgang mit Licht (das Rauschen der Blätter in Rashômon und die Spiegelung der Sonne auf ihrer Oberfläche schießen mir ins Bewusstsein).

Diese Sinnlichkeit ist es auch, die für mich als Erweiterung der Eingangssequenzen in der Stadt – dem Prolog wenn man so sagen will – und einer Ästhetik, die Truffaut in seinen frühen Kurzfilmen und vor allem in Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn / Frankreich / 1959) wieder aufgreifen sollte (und die (dadurch?) interessanterweise für viele „Neue Wellen“ des europäischen Kinos der 60er Jahre wegweisend werden sollte), das Zentrum der Erzählung (vor einem weiteren Wendepunkt und dem dadurch eingeleiteten Epilog) dominiert. Die Visualisierung der Flucht der Protagonisten in „ihren“ Sommer ist dann auch dasjenige, was den Film für mich besonders macht. Die Natur führt in diesem Abschnitt ein Eigenleben. Beobachtet wird sie hierbei durch die personalisierte Kamera, die in diesen Sequenzen das interessanteste, da agilste Subjekt darstellt. Sie sieht alles, spürt alles, Figuren, Landschaft, Schauplätze, Gefühle – das Seelenleben der Objekte, ob Mensch oder Natur. Und doch entzieht sie sich selbst (als Apparatur) jeder Darstellbarkeit. In der Abwesenheit des Konstruktes Kamera für den Zuschauer, wird sie zum materialisierten Außen, dem unsichtbaren aber konkreten Raum. Als solches verdrängt das Kamera-Auge durch seine Präsenz alles was sich „vor“ ihr befindet, indem es sich das Davor, die Welt davor, einverleibt. Paradoxerweise erscheint aber in dieser aufgenommenen Welt das Innere der Orte und Objekte umso nachdrücklicher. Sie werden, wie die Personen selbst, zur Seelenlandschaft, eingefangen in der Kamera. Die Oberflächen sind besetzt, besessen vom Leben, von der Intensität des Lichtes und der Struktur der Schatten die sich auf sie eingeschrieben haben.

Somit führt der aufgenommene Film den Zuschauer nicht in die Welt „da draußen“, ist nicht Abbildrealismus, sondern öffnet sich vielmehr nach Innen, ins Reich der Phantasie, der Sehnsüchte und Wünsche, der Ängste. Erst durch die Projektion im Kinosaal wird wieder eine Fläche nach Außen geöffnet, wobei der Zuschauer hierbei wiederum den ursprünglichen Akt der Kamera nachvollziehen kann: Er konsumiert die Ereignisse, überführt sie in seine Sprache. Filme machen und Filme sehen als Aneignung der Welt.