Pacific 231 (1949)



… oder Neues vom Hofbauer-Kommando.

 

Neulich auf der Herrentoilette.

Sano: Gestern habe ich einen erstaunlichen Film gesehen. Pacific 231 von Jean Mitry.

Andreas: Ah ja, ich erinnere mich. Von dem hat Ernst Hofbauer zu Beginn seiner Karriere oft gesprochen.

Sano: Wirklich? Ernst Hofbauer, der Schmuddelfilmer der Schulmädchenreihe hat sich in seiner Jugend für die filmische Avantgarde zu begeistern gewusst? Ich hätte nicht gedacht, dass so jemanden die Werke der Franzosen interessiert haben könnten.

Andreas: Was heißt interessiert? Das waren die Grundlagen von denen aus Hofbauer seine eigene Sicht auf die Welt, seinen eigenen Stil entwickelt hat. Die Schulmädchenreportfilme waren damals inhaltlich wie formal bahnbrechend, und haben die Möglichkeiten der Filmsprache in eine neue Hemisphäre dringen lassen. Ein Präzedenzfall der Filmgeschichte, dass die kommerziell erfolgreichste Filmreihe auch vom – neben Adrian Hoven – wichtigsten und unterschätztesten deutschen Nachkriegsregisseur hervorgebracht wurde. Pacific 231 ist dafür als Schlüsselfilm zu betrachten, der Samen aus dem dann später die Frucht hervorging.

Sano: Sie scherzen. Was hat denn der deutsche Kommerzfilm mit den französischen Theoriediskursen der 40er Jahre zu tun? Das sind doch zwei völlig unterschiedliche Welten.

Andreas: Das meinen Sie. Ein klassisches Fehlurteil. Nehmen wir uns beide. Vorhin saßen Sie in der Kabine neben mir. Und da haben Sie einen ganz schönen Haufen hingelegt, wenn ich das so sagen darf.

Sano: Woher wissen Sie denn das?

Andreas: Ihr Gestöhne war ja nicht zu überhören. Und dann die vielen Spritzgeräusche. Der Dampf der frischen Scheiße drang durch alle Ritzen und war sogar bis zur Decke zu sehen – so sehr hatten Sie mit sich zu kämpfen. Und als Ihr Schweißgeruch sich mit dem Duft der Scheiße vermischte…

Sano: Na hören Sie mal! Was hat das alles überhaupt mit Kino zu tun?

Andreas: Na, Sie haben etwas hervorgebracht. Und während Sie wahrscheinlich so dasaßen, sich nach getaner Arbeit den Hintern abwischten, und vielleicht auch Ihr Werk genauer ins Auge fassten, es mit anderen Ihnen bekannten Errungenschaften verglichen, benutzte ich meine Phantasie und ließ mich inspirieren. Die Scheiße, die ich mir vor meinem inneren Auge ausmalte war mit Sicherheit um einiges prachtvoller, als alles was Sie bis dahin in der Schüssel erblicken konnten. Wir hätten uns aus der Toilette begeben können ohne uns überhaupt zu begegnen. Und doch hätten Sie einen entscheidenden Einfluss auf mich ausgeübt.

Sano: Aber ich bitte Sie, das sind doch Verirrungen des Geistes. Wirre Assoziationen, aus einem unbedeutenden Moment geboren. Ich verstehe ja Ihren Gedankengang von Scheiße zu Hofbauer, auch angesichts der Tatsache, dass sich in den 70ern auf der Herrentoilette kulturgeschichtlich bedeutendes abgespielt hat, während im Sexfilm nur Prüderie und reaktionäres Heterogehabe zu sehen war. Aber um zu Mitry zurückzukehren: Der Dampf des Zuges ist eben nicht der Dampf der Scheiße. Er ist geboren aus dem Feuer der Revolution, dem Triumph des Geistes über die Materie, durch den Siegeszug des Kinos, der vollkommensten aller Künste, die uns aber erst der technische Fortschritt ermöglicht hat.

Andreas: Werter Kollege, lassen Sie es mich erklären. Pacific 231 ist der ultimative Geschwindigkeitsfilm. Von den Einstellungen her betrachtet, selbst vom Schnitt, haben den alle kopiert. Vor allem in Hollywood, Frankenheimer und so. Aber zur Vollendung, zur Applikation im Sinne des Erfinders wenn man so will, kam es erst bei Hofbauer, im Sexfilm. Die Körpermechanik, das Ächzen der Leiber, das Schnaufen und Stöhnen, vom langsamen Beginn bis zum drastischen Höhepunkt, konnte Hofbauer im Sinnesrausch der Lust seinem eigentlichen Bestimmungsziel zuführen. Seien wir mal ehrlich, Mitry hat keinen Sexfilm gedreht, weil das damals nicht erlaubt war. Auch nicht in der sogenannten Avantgarde. Hofbauer ging dann den erforderlichen Schritt weiter.

Sano: Aber meinen Sie nicht auch, dass Mitry sich von den Sowjets hat inspirieren lassen, von den Montagetheorien der 20er und 30er? Wenn man Pacific 231 zum ersten Mal ansieht, könnte man auch denken, dass Vertov oder Pudowkin, oder einer ihrer Schüler, den Film gedreht hätten. Für 1949 scheint er doch etwas veraltet. Eine Hommage, eine Fingerübung, die ich persönlich eher in die Debatten der damaligen Zeit, zum Glauben an „Bild“ oder „Realität“, zuordnen würde. Mitry also als Gegner der Mise-en-scène von Bazin. Er war ja 14 Jahre älter, wird in den 20ern mit Sicherheit vom sowjetischen Kino begeistert gewesen sein, und später auch von den Möglichkeiten des Tonfilms, wie sie Vertovs Entuziazm (1930) oder Pudowkins Dezertir (1933) entspringen. Bazin war da ja fast noch ein Kind, der dann später mit den klassischen Montagemodellen nichts mehr anzufangen wusste. Wenn ich mir überlege, was Bazin bei ähnlicher Thematik wahrscheinlich gedreht hätte …

Andreas: Papperlapapp! Diese ganze französische Kleingeisterei führt doch am Thema vorbei. Die eigentlichen Grundlagen sind doch schon viel früher, bei den Futuristen zu finden. Die haben die Neuerungen der im Grunde noch kleinbürgerlichen Impressionisten zu nutzen gewusst, und den Kern der innovativen Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts hervorgeholt. Der Mensch als Maschine, die Welt als Fabrik. Das amorphe, wandelbare der Natur findet seine Fortsetzung in der menschlichen Kulturleistung. Und wo hat diese ihren Ursprung? Hofbauer wusste es. Im Geschlechtsakt kommt alles zusammen. Die Reibung der Körper erzeugt einen Druck der sich in kreativer Energie entlädt, wobei die Erfahrung von geistiger, körperlicher und seelischer Einheit auch das Bewusstsein der Zusammenhänge dieser Welt erzeugt. Das ist keine Theorie, das ist Praxis. Und Mitry muss das, wenn schon nicht verstanden, so zumindest gespürt haben. Abgestandene Thesen von Theoretikerdisputen und den Intentionen des Autors haben da doch keinen Platz. Hier geht es um Wesentlicheres. Und das erkennt man bei Hofbauer. Das Leid an der Unzulänglichkeit der bürgerlichen Sexualität im Angesicht der technischen Errungenschaften. Man müsste ficken wie ein Auto, eine Schreibmaschine oder eben ein Zug. Diese existentielle Krise, in die der Mensch infolge der Industrialisierung geraten ist, bildet Hofbauer ab. Mitry schuf mit seiner Bebilderung von Honeggers Musik nur die formalen Grundlagen dafür. Wenn Elisabeth Volkmann nach dem Koitus erschöpfte Zischlaute von sich gibt, ist die Analogie zur letzten Einstellung in Pacific 231 deutlich. Während Mitry dabei aber die Erhabenheit des Zuges filmt, wird bei Hofbauer die Verzweiflung des Menschen in den Vordergrund gerückt. Der Mensch will Zug werden, kann aber nicht.


Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Dezember 23rd, 2010 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Filmtheorie, Sano, Verschiedenes veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

5 Antworten zu “Pacific 231 (1949)”

  1. Christoph on Dezember 23rd, 2010 at 06:54

    Aber…

    Aber…

    Aber..

    Ich versteh’s nicht! 😥

  2. Andreas on Dezember 23rd, 2010 at 07:33

    Ein typischer Fall von Hofbauer-Appreciation-Epigonentum. Überall sprießen sie jetzt aus dem Boden, diese Nachahmer, und nun sogar schon an der Geburtsstätte des Originals – und schlimmer noch: unter dem Deckmantel des Originals! Unter uns Kommandanten gesagt: da haben wir uns was eingehandelt! Das ist wohl der Preis, den man zahlen muss, wenn man einzigartige kulturelle Revisionsarbeit leistet.

    Von Seiten des Hofbauer-Kommandos kann man dem nur mit Skepsis begegnen, weil durchaus die Gefahr besteht, dass die Integrität und Seriosität unserer Mission durch solchen sachfremden Schabernack (zudem in gefährlicher Nähe zur Parodie!) unterlaufen wird. Im Zweifelsfall sage ich daher im Namen des Hofbauer-Kommandos zu diesem Text: wir raten ab!

    PS: Bei Sano heißt es neuerdings: „Ich mache Ihnen ein (Gesprächs-)Angebot, das Sie nicht ablehnen können.“ 😉 Und wenn man es doch wagt – nun, hier sieht man ja recht anschaulich, was dann passieren kann… Ist unter diesem Gesichtspunkt aber schon ein dufter Spaß, was einem da in den Mund gelegt wird – tja, wenn die oben genannten Bedenken nicht wären… 🙂

    PPS: Die Forderung des Hofbauer-Kommandos an den Textverfasser lautet: Hofbauer nachsitzen! 3 Monatssätze (Filme) in den nächsten zwei Monaten, der Herr!

  3. Christoph on Dezember 23rd, 2010 at 08:10

    Ich kann Ihnen da nur voll und ganz zustimmen, werter Kollege. Die Ähnlichkeit des stilistischen Ansatzes ist wirklich erstaunlich, ich bin versucht zu sagen: Frappierend! Auch mich dünkt, dass der Text des Kollegen Cestnik eine äußerst leichfertige Gratwanderung zwischen Kritik an bildungsbürgerlichen Rezeptionsmechanismen und der Praktik eben jener versucht. Skepsis ist geboten, denn wenn solch postmoderne Strömungen nun bereits von innen heraus die Mission unseres Kommandos zu unterminieren und zu infiltrieren drohen, ist höchste Eile geboten im Kampf um Ernsts schönen Bauernhof!

    Allerdings muss mir doch die Frage gestattet sein, lieber Herr Kollege, inwiefern Sie punktgenau zitiert wurden in obigem Traktat?

  4. Andreas on Dezember 23rd, 2010 at 09:05

    Als Antwort auf letztere Frage, die ich schon geklärt glaubte, mag wohl ein Verweis auf den Unterschied zwischen „zitieren“ und „in den Mund legen“ genügen… 😉
    Oder anders ausgedrückt: der Verfasser des Textes (aus gutem Grund nur „Sano“ und nicht „Sano und Andreas“) hat sich auf der Herrentoilette mit einem Passanten unterhalten, der mit meiner Person nur den Namen teilt. Durch die Veröffentlichung des Gesprächs bei Eskalierende Träume wurde jedoch spekulativ auf eine missverständliche Kontextualisierung zugearbeitet, um wegen des zufälligerweise gleichen Vornamens den falschen Eindruck zu erwecken, ich wäre der Gesprächspartner, obwohl es sich eben nur um ein (möglicherweise gestelltes!) „Straßeninterview“ handelt. Guter alter Reportfilm-Stil. Insofern verdient dieses stilgerechte Vorgehen durchaus Anerkennung.

    Der Hofbauernhof bedarf in der Tat erneuter Pflege. Das Hofbauer-Kommando wird sich darüber bald einmal wieder beratend zurück ziehen müssen, um neue Vorgehensweisen zu ersinnen.

  5. Sano on Dezember 23rd, 2010 at 21:39

    Ich musste euch Jungspunden ja mal zu Hilfe eilen, um der jugendlichen Kraft auch etwas Seriosität angedeihen zu lassen. Daher bin ich in mich gegangen und habe mich dazu verleiten lassen euch den erforderlichen theoretischen Unterbau für euer wildes Geschreibsel zu liefern. Und eigentlich hat mich der Andi dazu gedrängt, regelrecht angefleht hat er mich, meine Weisheit nicht über Hofbauer hinweggleiten zu lassen. Wie man im Text nachlesen kann, habe ich sie euch auch großzügig zukommen lassen, und in meiner Generosität die wichtigsten Schlussfolgerungen Andreas selbst zugeteilt.

    Dass ich von Hofbauer so gut wie nichts gesehen habe ist aber zur Gänze nebensächlich. Denn frei nach meinem Landsmann Slavoj Žižek sind es selbstverständlich nicht die Filme die zählen, sondern die Theorien die man von ihnen ausgehend entwickelt!!!

    Ich sehe, ihr habt immer noch viel zu lernen. Aber der Anfang ist ja jetzt gemacht.

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