Der Traurigste unter Tausend – Lieber Kurt (2022)





Über Menschen, die nicht reden, und Zustände, die ihnen die Sprache nehmen, erzählt Til Schweiger so, wie man es allein nachempfindet. Visuell, unmittelbar und darin sublim. Bei just jenem berühmten Tritt zu zweit über die Türschwelle des baufälligen Landhauses, welches die Zukunft von Lena (Franziska Machens), Kurt (Til Schweiger) sowie dessen gleichnamigen, tageweise bleibenden Erstklässler aus voriger Ehe beherbergen soll, erhaschen wir jeweils einen getrennten Blick durch die Pforte auf beide. Sie links vor der Türe, er rechts; weiter links, weiter rechts daneben je eine Dopplung – die persönliche Spiegelung im Glase des Rahmens. Man könnte sagen, sie haben einen neben sich gehen – den größten Vertrauten, den intimsten Feind. Sich selbst. Näher auf die Pelle rücken wird zweiterer Kurt, denn kaum einmal zwischen Erzeuger wie Erzeugerin hin- und hergetauscht, verstirbt sein kleiner Namensvetter in einem fast dem freien Willen spottend unwahrscheinlichen Unfall auf dem schulischen Klettergerüst. Lena hingegen fällt ersterer Wiedergänger zu, sie bleibt in trauter Zweisamkeit allein zurück. Die Prämisse von Sarah Kuttners Bestseller „Kurt“ sowie Vanessa Walders und Til Schweigers Destillat daraus ist simpel – nicht jeder kennt sie aus erster Hand, doch alle fürchten sie: Was, wenn man das Kind überlebt?

Aber da interveniert Schweigers Inszenierung bereits, denn dass es anders kommen könnte, erwägt sie nie. Selbst im Süßlichen untergräbt seinen Film eine pragmatische Unheilsseligkeit. Etwas anderes dringt nie durch – etwas anderes dringt nicht durch, das ist das Muster seiner Erzählung. Einmal lässt Heiner Lauterbach beim allerersten Begrüßungstreffen dem neuen Nachbarn gegenüber auf profanste Weise alles raus über den Tod der Partnerin, doch dieser wird gerade vom Haushund abgesabbelt und hört nicht zu. Eine Schmodderfütze so groß wie Liechtenstein bleibt zwischen Hemd und Hals zurück. Lustig, der Saal explodiert in herzhaftem Gelächter, der Kritiker winkt ab. Was er nicht versteht: Der Cringe hat hinweisende Funktion. Immerzu, unentwegt. Schweigers Figuren sollen nicht an einer behaupteten Normalität modelliert sein, denn vor ihnen ist die Welt um sie herum bereits aus den Angeln gesprungen. Idealismus, für den es keine Heilung gibt. Nur wer an der Welt erkrankt ist, dreht solche Filme. Das teilt Til Schweiger mit Angela Schanelec. „Ich war zuhause, aber…“ und „Lieber Kurt“ – der schönste, einfühlsamste deutsche Film des Jahres 2019 und der wohl schönste, einfühlsamste deutsche Film dieses Jahres, im Grunde sind sie Geschwister geformt aus Kümmern und Trauerarbeit; getrennt, gemieden, gestrandet auf gegensätzlichen Polen der deutschen Filmlandschaft.

Wo der Cringe als gesprochenes Wort und Saccharinschauspiel nicht hinlangt, da sucht er sich Komplizen in der Ausgestaltung. Schweigers radikale – unter anderen Vorzeichen würde man sie längst „avantgardistisch“ nennen – Schnitttechnik lässt eine simple Aufbruchsszene mit ihm und Filmvater Peter Simonischek am Küchentisch völlig über die Fugen der normalen menschlichen Wahrnehmung hinaus geraten. Und macht dabei auf abenteuerlichste Weise umso augenscheinlicher, dass sie nie im gleichen Frame, vielleicht auch Moment, existieren. Ein stolpernder Zeitraffer, die Betrunkenheit zweier Männer, die nur über Betrunkenendinge zum Austausch finden, überträgt sich aus der Bewegung gleich in die Blutbahn – man kann es nicht beschreiben, man kann es nur hilflos bemerken. Brav aufgeteilt auf links und rechts, auf Schnitt wie Gegenschnitt säuft man sich gemeinsam einsam, lacht über Unverfängliches und kartet ein Blatt. Links und rechts in ansonsten aufgeräumten, wenn nicht gar leeren, Bildern bleiben ein vages Muster – nie penetrant genug, um Aussage zu werden, augenscheinlich genug, um subkutan zu irritieren. Schweiger und sein Kameramann René Richter – dem er in einer auffallend kollegialen Geste gleich einen von zwei Co-Regie-Credits gewährt – nutzen die Leerräume in ihren Scopekompositionen und machen sie zu jenen des Herzens.

Anderorts kündigen Weichzeichner, Flare und Überbelichtung in einer Glücklichkeitsmontage auf unheilschwangerem Knätschigpop es bereits an – der Hochzustand nach dem Umzug kann nicht anhalten, ist Fabrikation auf wie unter der Leinwand, Ahnung vom ausbleibenden Leben im falschen, dessen Ende längst um den nächsten Schnitt lauert. Ein Ende mit Schrecken, „Lieber Kurt“ ist fundamental und unerschrocken traurig in der Haltung, die Verzweiflung an der Gegenwart nicht neu; auf die Aufbruchsstimmung mit letzter Kraft aus „Die Rettung der uns bekannten Welt“ konnte nur dieser Kater folgen. Doch steckt in ihm Erkenntnis: Rund ein Sommer voller Traurigkeit steht dem strauchelnden Paar in die neue Bleibe. Manchmal tut sich was am Haus, Häuslebauermontagen direkt aus dem Verzweiflungsmotivation generierenden Momentum nicht zu ertragender Einsamkeit bilden es noch ab, ein ander Mal blättert die Farbe an der Veranda schon wieder sachte herunter, irgendwann erblüht der Jasmin, den Klein Kurti noch pflanzen wollte. Unspezifische Bars, zum Scheitern verurteilte Pitches in Glaswüsten wie suffinduzierter Umnachtung. Immer Alkohol. Til Schweiger besitzt ein seismographisches Gespür für jene Abwesenheit von Raum und Zeit, die Verlust hervorruft. Sie ist es auch, der eine ungeahnt universelle Kraft innewohnt; die seinen Filmen immanente Welt der Gut- und Besserverdiener bricht von den Rändern her auf in ein Dutzend Metafacetten. Erstmals darf der haptisch-händischen Konstruktion und dem seelischen Einriss jener patentierten Schweiger-Lebenseinrichtungen beigewohnt werden, zeitweise zugleich. Wie in jedem Leben.

Immer Alkohol. Dann Gewalt. Mit der ziellos umherwütenden Kraft tausend trauriger Männer schlägt Schweiger einigen verbal zündelnden Kneipenterroristen die Gesichter ein. Gewalt ist eruptiv bei Schweiger, sie bringt niemandem Glück, reißt die schützende Verlogenheit wie im vorangegangenen Film nur weiter ein. Die Diskrepanz der jüngsten Jahre zu den goldenen Komödiantenjahren tritt aus den Nähten, die sie zurücklässt, besonders deutlich zu Tage. Seelenzustände wie diese kennen keinen sozialen Stand. Das Schlechte trifft uns alle, das Gute ist für manche da. Am meisten überrascht: „Lieber Kurt“ schließt nicht kategorisch aus, dass Kurt der Größere sich in einem spezifisch maskulinen Selbstmitleid verliert und wertet dies nicht, betont dafür nicht durch Worte, sondern Sichtbarmachung, filmische Visualisierung, Lenas Leid. Es findet sich eine unerwartet hohe Dosis weiblicher, damit qua Definition ungedankter, Careworklebensrealität in ihm. Und Einsamkeit, endlose Einsamkeit.

„Sag irgendwas, Papi, bitte!“, Til Schweiger, den deutschen James Coburn, mit Tränen in den Augen sowie knatschig-erstickter Kinderstimme diese Worte in Richtung eines anderen Mannes ausschleichen zu hören, das wird man so schnell nicht vergessen. Symptomatisch für ein Befinden ist es, wie der Bindfaden am Zauntor, mit dem Heiner Lauterbach den Einlass in Garten, vor allem jedoch von der Trauer raues Männerherz reguliert und im entscheidenden Moment bloß den männlichen Teil der Nachbarschaft passieren lässt. Mitunter kratzte es schon einmal an der ruppigen Oberfläche derber Zoten, zwei Filme lang ist es nun raus: Til Schweiger ist ein Humanist wie Adam Sandler, mit Jungs- und Mädelskram, eher konservativ, aber umfassend. Kindsköpfe, das sind seine Männer auch; und er macht weit weniger Hehl aus dieser Einschätzung als gemeinhin kolportiert. Eine der wichtigsten Änderungen im Vergleich zu Sarah Kuttners Vorlage betrifft nicht die reine Handlungsebene, sondern das „lieber“, welches die Verfilmung seinem Titel voranstellt und Fragen zulässt. Auf wen bezieht es sich, Kurt oder Kurt? Ist die Anrede Beginn von Erinnerungen, eines Appells oder einer Beschwichtigung? Von allem ein wenig wohl, doch wäre es an der Zeit, die zierenden Deutungen zumindest in Erwägung zu ziehen.

Am Ende ist alles verfahren, eingelaufen im Hafen Happy End, der in Richtung Himmel beschwört, aber nicht einlöst. Folgerichtig kehren die letzten Minuten nach den vorzeitig angelaufenen Widmungen zurück zu einem früheren Augenblick im Zeitenlauf, als die Menschen noch redeten. Das kann eine Kapitulation sein, das kann ein Aufbruch aus der Erinnerung sein. Im deutschen Kino des Jahres 2022 mit seiner Wägbarkeit und den intellektuellen Sicherheiten in unsteten Zeiten ist es mutig. Wissenschaftliche Untersuchungen legen dieser Tage nahe, dass die Pandemie uns verändert hat wie sonst eine ganze Dekade Leben. An Til Schweigers innerhalb dieses Rahmens entstandenen Filmen lässt sich dies exemplarisch nachempfinden. In an‘ out. Vielleicht sind sie die ersten deutschen Inszenierungen, die diesen Umstand wirklich tiefschürfend reflektieren, obwohl sie gänzlich andere vortäuschen.


Lieber Kurt – Deutschland 2022 – 136 Minuten – Regie: Til Schweiger, René Richter, Raimond Schultheis – Produktion: Til Schweiger, Christian Specht, Klaus Dohle, Markus Reinecke – Drehbuch: Vanessa Walder, Til Schweiger, nach dem Roman „Kurt“ von Sarah Kuttner – Kamera: René Richter – Schnitt: Til Schweiger, Steven Wilhelm, Constantin von Seld – Musik: Martin Todsharow – Darstellende: Til Schweiger, Franziska Machens, Levi Wolter, Jasmin Gerat, Peter Simonischek u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum der Filmwelt Verleihagentur]

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Oktober 6th, 2022 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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