DELLAMORTE DELLAMORE war für mich der erste Film, den ich von Michele Soavi gesehen habe, sieht man von seiner Dokumentation über die Filme seines prominenten Förderers Dario Argento ab. Und was für ein Fest war dieses herrlich verschwurbelte Meisterwerk doch!
Schon nach den ersten Minuten des Film ist klar, es handelt sich gar nicht in erster Linie um einen Zombiefilm, wie viele Online-Reviews glauben machen, auch nicht um einen Horrorfilm im eigentlichen Sinne. Der Friedhof aus dem Gruselbilderbuch, der Assistent des Friedhofswärters, der stark an Tor Johnson in Ed Woods unvergesslichem Trashmeilenstein PLAN 9 FROM OUTER SPACE erinnert und nicht zuletzt Dellamortes (Rupert Everett) ausgestellte Coolness stellen von Anfang an klar: Der Film ist ein postmodernes Spiel mit Klischees und Zitaten, an denen der Film wahrlich keinen Mangel hat. Leider kenne ich das italienische Genrekino zu wenig um etwaige Anspielungen zu erkennen, aber zumindest Hitchcocks VERTIGO dürfte wohl zu den Lieblingsfilmen von Soavi gehören und ein paar Klassiker der phantastischen Malerei wie Magrittes KUSS und Böcklins TOTENINSEL verwurstet er auch in das dennoch vollkommen originelle und immer aufs Neue überraschende Potpourri aus Einfällen, das mal an Tim Burton, mal an schwarzhumoriges dänisches Popkino und wahrscheinlich an zahlreiche mir unbekannte italienische Genrefilme anklingt.
Auf dem Friedhof der italienischen Kleinstadt Buffalora kommt der ein oder andere Tote schonmal nach sieben Tagen als Wiedergänger zurück. Doch das ist alles nicht so schlimm, den Friedhofswärter Francesco Dellamorte (Mädchenname der Mutter: Dellamore!) und sein scheinbar debiler und ziemlich aufgeschwemmter Helfer Gnaghi (François Hadji-Lazaro) haben schon lange eine Routine darin entwickelt, den lästigen Untoten mit Pistole oder auch rudimentärem Spatenende den Schädel zu zertrümmern, um ihnen so endgültig die wohlverdiente Sargruhe zu verschaffen. Kompliziert wird es für die beiden mit dem Tod so gut vertrauten Männer, als die Liebe in ihre in sich geschlossene Welt genießerischer Morbidität tritt. Eine rätselhafte Fremde mit nekrophilen Neigungen (Anna Falchi), scheinbar eine um ihren viel älteren und erst kürzlich verstorbenen Mann trauernde Witwe, verdreht dem Gerüchten im Dorf zu Folge impotenten Friedhofswärter den Kopf, während Gnaghi vom vorlauten Töchterlein des Bürgermeisters (Fabiana Formica) derart angetan ist, dass er sie vor lauter Nervosität erstmal so richtig vollkotzt. Doch das ist alles erst der Anfang einer Folge von immer groteskeren Ereignissen, die sich in ihrer Unfassbarkeit ständig zu überteffen scheinen und den Zuschauer von einem hysterischen Lachanfall in den nächsten stürzen, und das nicht ohne, dass man dabei auch noch echte Anteilnahme am Schicksal der Antihelden nimmt und sich fast unmerklich poetische und philosophische Elemente in den frei dahinfließenden Film flechten.
Die Handlung tritt denn auch vor den vielen herrlichen Einfällen und den liebevoll gezeichneten Haupt und Nebenfiguren zurück. Ob Glühwürmchen, die eher wie riesige blau brennende Papierkügelchen an schön sichtbaren schwarzen Fäden (2. Anspielung auf PLAN 9?) wirken, über den dick eingenebelten und von knorrigem Astwerk überwucherten Friedhof schweben, ob der Bürgermeister, die bei einem Motorradunfall entstellte Leiche seine Tochter für seine Wahlkampagne fotografieren lässt oder ob sich wieder die reguläre Friedhofsbesuchern Signora Chiaromondo (Claudia Lawrence) zum Stelldichein mit den Toten einfindet – ein gewisser General bringt ihr nämlich immer eine Flasche Sambuca mit – das Herz aller absurdiitäts- und surrealismuslüsternen Zuschauer wird verwöhnt. Ein quasselnder abgetrennter Kopf in der Ruine eines Fernsehers und eine Horde von Pfadfinderzombies verleihen dem Ganzen nochmal so richtig Pep, während Dellamorte ab und an bedeutungsschwangere Dialoge mit dem Tod persönlich führt und in diversen Formen von seiner großen toten wahren Liebe heimgesucht wird. VERTIGO lässt grüßen.
DELLAMORTE DELLAMORE gehört zu jenen Filmen, die auf wunderbare Weise ziel- und richtungslos dahinmäandern und sich schließlich zur breiten Mündung ins Meer der Assoziationen öffnen, in dem zumindest einige von uns Cinephilen doch nur zu gerne planschen. Ohne zu viel zu verraten kann gesagt werden, dass das Twist-Ende dem ganzen nochmal einen wundervollen Hauch romantischer Ironie verleicht und ein bißchen an das Meisterwerk der Gebrüder Quay INSTITUTE BENJAMENTA erinnert.
Dieser Artikel ist eine Ergänzung und Erweiterung eines früheren Beitrags von mir, gepostet im November 2008: Ein Versuch
Damals wollte ich meine aktualisierte Top 100 posten, d. h. die 100 Filme die mir gerade am meisten bedeuteten. Da die Formatierung und ein paar andere ästhetische Gesichtspunkte zu diesem Zeitpukt jedoch etwas zu kompliziert zu bewerkstelligen schienen, verschob ich die vollständige Auflistung aller Filme immer weiter in die Zukunft, wobei sich verständlicherweise die Zusammenstellung und Platzierung der Filme wieder zu ändern begann.
Da meine Einstellung und mein Blick auf einzelne Filme stimmungs- und sichtungsabhängig ist, und jeder Tag die Welt verändern kann, handelt es sich bei solchen Listen meist um Momentaufnahmen. Daher habe ich mich nun entschlossen, die vollständige Auflistung, wie ich sie im November letzten Jahres notiert hatte, zu veröffentlichen. Der jetzige Zeitpunkt benötigt zwar eine neue Zusammenstellung, doch wäre diese nicht mehr oder weniger relevant als die Letzte. Somit unternehmen wir also noch einmal eine kurze Zeitreise…
21. Hakob Hovnatanyan
Sergej Paradjanov Sowjetunion 1965
22. Possession
Andrzej Zulawski Frankreich 1981
23. La Jetée
Chris Marker Frankreich 1962
24. Trys dienos Drei Tage
Sharunas Bartas Sowjetunion 1991
25. Dead Man
Jim Jarmusch USA 1995
26. Moe no Suzaku Die Ahnung Suzakus
Naomi Kawase Japan 1996
27. Elvira Madigan
Bo Widerberg Schweden 1967
28. Au-delà de la haine Beyond Hatred
Olivier Meyrou Frankreich 2005
29. Hao nan hao nu Good Men, Good Women
Hou Hsiao-hsien Taiwan 1995
30. Pola X
Léos Carax Frankreich 1999
31. Wandâfuru raifu After Life
Hirokazu Koreeda Japan 1998
32. Zabriskie Point
Michelangelo Antonioni USA 1970
33. Few of Us Wir sind wenige
Sharunas Bartas Litauen 1996
34. Nema-ye Nazdik Close Up
Abbas Kiarostami Iran 1990
35. Groundhog Day …und täglich grüßt das Murmeltier
Harold Ramis USA 1993
36. Bonnie and Clyde Bonnie und Clyde
Arthur Penn USA 1967
37. Umberto D.
Vittorio De Sica Italien 1952
38. Les quatre cent coupes Sie küßten und sie schlugen ihn
François Truffaut Frankreich 1959
39. Ben-Hur
William Wyler USA 1959
40. Midaregumo Zerrissene Wolken
Mikio Naruse Japan 1967
41. The Wizard of Oz Der Zauberer von Oz
Victor Fleming USA 1939
42. Örökbefogadás Adoption
Márta Mészáros Ungarn 1975
43. Loulou Der Loulou
Maurice Pialat Frankreich 1980
44. Eureka
Shinji Aoyama Japan 2000
45. Batalla en el cielo Battle in Heaven
Carlos Reygadas Mexiko 2005
46. Andrei Rublyov Andrei Rubljow
Andrej Tarkowskij Sowjetunion 1966
47. Heaven’s Gate Das Tor zum Himmel
Michael Cimino USA 1980
48. Novecento 1900
Bernardo Bertolucci Italien 1976
49. Der Aufenthalt
Frank Beyer DDR 1983
50. Klassenverhältnisse
Danièle Huillet, Jean-Marie Straub BRD 1984
51. La pirate Die Piratin
Jacques Doillon Frankreich 1984
52. Paris, Texas
Wim Wenders BRD 1984
53. Hotaru no haka Die letzten Glühwürmchen
Isao Takahata Japan 1988
54. Marseille
Angela Schanelec Deutschland 2004
55. Topâzu Tokio Dekadenz
Ryu Murakami Japan 1992
56. Meikyu-tan
Shuji Terayama Japan 1975
57. Suna no onna Die Frau in den Dünen
Hiroshi Teshigahara Japan 1964
58. Sans soleil
Chris Marker Frankreich 1982
59. Ying chun ge zhi Fengbo Der Letzte Kampf des Lee Khan
King Hu Taiwan, Hong Kong 1973
60. Dzieje grzechu Geschichte einer Sünde
Walerian Borowczyk Polen 1975
61. The Thief of Bagdad Der Dieb von Bagdad
Ludwig Berger, Michael Powell, Tim Whelan UK, USA 1940
62. Zina
Ken McMullen UK 1985
63. Conan the Barbarian Conan, der Barbar
John Milius USA 1982
64. Mia aioniotita kai mia mera Die Ewigkeit und ein Tag
Theo Angelopoulos Griechenland 1998
65. Tarzan, the Ape Man Tarzan, Herr der Affen
John Derek USA 1981
66. Tenshi no tamago Angel’s Egg
Mamoru Oshii Japan 1985
67. Offret Das Opfer
Andrej Tarkowskij Schweden 1986
68. Moonlighting Schwarzarbeit
Jerzy Skolimowski UK 1982
69. Majo no takkyûbin Kikis kleiner Lieferservice
Hayao Miyazaki Japan 1989
70. The Night of the Hunter Die Nacht des Jägers
Charles Laughton USA 1955
71. Forrest Gump
Robert Zemeckis USA 1994
72. The New World
Terrence Malick USA 2005
73. Koridorius Korridor
Sharunas Bartas Litauen 1994
74. Joshuu sasori: Kemono-beya Sasori: Den of the Beast
Shunya Ito Japan 1973
75. Bad ma ra khahad bord Der Wind wird uns tragen
Abbas Kiarostami Iran 1999
76. Notorious Berüchtigt
Alfred Hitchcock USA 1946
77. Ran
Akira Kurosawa Japan 1985
78. Saikaku ichidai onna Das Leben der Frau Oharu
Kenji Mizoguchi Japan 1952
79. Monsieur Hire Die Verlobung des Monsieur Hire
Patrice Leconte Frankreich 1989
80. Idioterne Idioten
Lars von Trier Dänemark 1998
81. The Reflecting Skin Schrei in der Stille
Philip Ridley UK, Canada 1990
82. Trilogia I: To Livadi pou dakryzei Trilogie: Die Erde weint
Theo Angelopoulos Griechenland 2004
83. Kôfuku no kane Blessing Bell
Sabu Japan 2002
84. Tokyo senso sengo hiw The Man Who Left His Will on Film
Nagisa Oshima Japan 1970
85. Wong gok ka moon As Tears Go By
Wong Kar Wai Hong Kong 1988
86. Sud pralad Tropical Malady
Apichatpong Weerasethakul Thailand 2004
87. To vlemma tou Odyssea Der Blick des Odysseus
Theo Angelopoulos Griechenland 1995
88. Xiao cheng zhi chun Frühling in einer kleinen Stadt
Mu Fei China 1948
89. Zwischen zwei Kriegen
Harun Farocki BRD 1977
90. Suspiria
Dario Argento Italien 1977
91. Gertrud
Carl Theodor Dreyer Dänemark 1964
92. Le chiavi di casa Die Hausschlüssel
Gianni Amelio Italien 2004
93. Demanty noci Diamanten der Nacht
Jan Nemec Tschechoslowakei 1964
94. Bu jian The Missing
Lee Kang-sheng Taiwan 2003
95. Dai-bosatsu toge The Sword of Doom
Kihachi Okamoto Japan 1965
96. The Wind Der Wind
Victor Sjöström USA 1928
97. Invisible Waves
Pen-Ek Ratanaruang Thailand 2005
98. Magnificent Obsession Die wunderbare Macht
Douglas Sirk USA 1954
99. Sanma no aji Ein Herbstnachmittag
Yasujiro Ozu Japan 1962
100. Die Erben
Walter Bannert Österreich 1982
März 14, 2009 | Veröffentlicht in
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8 CommentsKino in Afrika – an was denke ich da zuerst? Meist an ausländische Darstellungen afrikanischer Lebenswelten durch französische, englische oder internationale Koproduktionen, oft mit Starbesetzung, einem wichtigen Thema, und guten Absichten. An Klassiker des afrikanischen Films, inszeniert von Djibril Diop Mambéty oder Ousmane Sembene und junge afrikanische Filmemacher, die heutzutage immer noch oft aus dem Ausland heraus operieren, wie z.B. der Kameruner Jean-Marie Téno. Und natürlich an Nollywood. Der Boom des nigerianischen Films, auf DV gedreht und zunächst auf Video vermarktet, ein ganz eigenes afrikanisches Phänomen, das Nigeria als Nation inzwischen neben den USA und Indien an die Spitze der globalen quantitativen Filmproduktion katapultiert hat.
Somit erwarte ich mir auch nicht viel Neues, als ich mich am gestrigen Freitag um 15.30 Uhr in Ermangelung eines Radios vor meinen PC setze, um mir auf Bayern 2 die Sendung Kino in Afrika: Die Wüste lebt anzuhören. Doch ich werde überrascht. Der angenehme, konzentrierte und informative Kommentar zeigt ein aufrichtiges Interesse an den Sorgen und Nöten afrikanischer Filmemacher, und ermöglicht durch die Verflechtung von Interviews und Hintergrundinformationen einen kompakten Einblick in Afrikas rege Kinoszene. Denn dass es hier, jenseits von Nollywood, primär um Kino geht, wird an den Schwerpunkten deutlich. Zwar werden auch Hoffnungen und Probleme der neuen digitalen Medien angesprochen, doch bleibt der Fokus auf 35mm gerichtet. Anhand der Länder Burkina Faso, Senegal und Marokko werden die Kernthemen Filmfestival, Filmhochschule, Filmproduktion und Kinosterben in 25 Minuten gekonnt herausgearbeitet.
Bei mir persönlich kam während des Beitrags nicht nur keine Langeweile auf, sondern auch das Gefühl alles schon mal so oder ähnlich gehört und gelesen zu haben stellte sich nur selten ein. Gebannt lauschte ich dem Livestream, und hätte nach der knappen halben Stunde gerne noch mehr gehört. Wunderbar unaufgeregt gestaltet, fühlte ich mich durch den Hörgenuß animiert mir nach der Sendung auch noch selbst Gedanken über das Thema zu machen – auch jenseits von Afrikas Zukunft. Der Beitrag ist definitv keine publizistische Eintagsfliege, sondern im traditionellen Sinne ein bereicherndes Erlebnis zum wieder-hören.
Wer ihn verpasst hat, muss sich jetzt aber nicht ärgern und mit meinem kurzen Umriss begnügen. Bayern 2 bieten auf ihrer Homepage nicht nur die komplette Sendung als Podcast zum anhören und herunterladen an, sondern für alle hörunwilligen Leseratten auch noch ein Manuskript. Was will man mehr?
PS: Die beiden Links zum direkten anhören bzw. download funktionierten bei mir zwar nicht, aber mit dem Realplayer (mit dem man auch fast alle Youtubeclips und ähnliches auf seinen Rechner bannen kann), hatte ich das Teil trotzdem in einer(!) Sekunde auf meinem Laptop. Habe aber gerade entdeckt, das das alte „Ziel speichern unter…“ doch noch funktioniert. War wohl zu naheliegend, um es sofort zu versuchen…
Zeitgenössische Kritiken des Films, in denen von einer allzu starken Emotionalisierung des bedeutenden Themas, von peinlichem Overacting des in der Tat geradezu unmenschlich aufspielenden Gian Maria Volontè und unsachlichem Fatalismus die Rede ist, sind zu ärgerlich, um sie ohne weiteres wegzuwischen. In einer Schlüsselszene, deren Vorgänge Lulù (Volontè) dazu bewegen werden, sich den Studenten anzuschließen und die Rebellion der Arbeiter anzutreiben und -führen, ist er immer noch unsicher und verärgert über diese von ihm als lächerlich empfundene Eigenmächtigkeit der lautstarken „Muttersöhnchen“ – „Geh nach Hause zu deinem Papa!“ brummt er und fährt davon. Das gleiche möchte man denn auch jenen Kritikern wünschen, die sich seinerzeit in eben jenen prätentiös-zynischen Elfenbeinturm zurückzogen, den Elio Petri hier bewusst, demonstrativ verlassen hat. Er wollte nicht [nur] einen intellektuellen Aufklärungsfilm drehen, eine verstandesgemäße Aufarbeitung des Themenkomplexes, er wollte viel mehr, er wollte die Wut der Betroffenen filmisch umsetzen, wollte einen Film, in dem die Monotonie der Maschinenarbeit genauso erdrückend wirkt wie die explodierende Energie ihres Aufstandes und des dafür stellvertretenden Lulù ansteckend. Ein Film von einem der führenden linken Regisseure Italiens, nicht für ein ebensolches Publikum sondern auch für die Arbeiterklasse selbst. Die gebündelte Energie, die dieser Film ausstrahlt, der Instinkt und zugleich die trockene Berechnung, mit der er stets die richtigen Extreme wählt, die bestechende Milieu-Schilderung und die völlig vereinnahmende, unwiderstehliche Unmittelbar- und Aufrichtigkeit, mit der er all das fühlbar macht – mal mit wildem Realismus, mal mit unbehaglicher, surreal anmutender Stilisierung – sollte etwaige Kritik an dieser zweifelsohne auch partiell manipulativen und „entintellektualisierten“ Vorgehensweise eigentlich erübrigen. Denn so zieht der Film direkt an der Wurzel, der ewige Zwiespalt der Arbeiter und des sie bevormundenden Systems wird offensichtlicher als offensichtlich (Zitat RECLAMS FILMLEXIKON: „Manches ist hier doch allzu laut, zu deutlich…“) und die Gewinne wie die Verluste dieser Rebellion bei allem Geschrei, aller Raserei und allem Chaos, stets so formuliert, dass Undifferenziertheit als Vorwurf gegen Petris Idee eines sozialpolitischen Manifests eigentlich nur mit vorsätzlichem Mutwillen und einer ordentlichen Dosis Arroganz aufrecht erhalten werden kann. LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO ist der absolute Glücksfall eines solchen Films, eines Appells, der sich eben jener einfachen, nahe liegend(st)en Mittel bedient, deren vom bildungsbürgerlichen Konsens angetriebene Verpönung ihre Wirksamkeit und Integrität nur noch indirekt unterstreicht. Einen so couragierten, unverfrorenen und dabei im Kontext beinahe unparteiischen Appell-Film wie diesen bekommt man nur selten zu Gesicht. Kapitalismus-Kritik als melodramatischer Horrorfilm, sozusagen. Die Minorität profitiert von einer biederen und manierlich sachlichen Faktensammlung wie zuletzt unter anderem Volker Schlöndorffs fernsehspielartigem STRAJK, einem beispielhaften Reflexionspräservativ. Jeder kann von einem puren, reinen, echten und rohen Film wie LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO profitieren und schon alleine der geizige, aber markerschütternde Einsatz von Ennio Morricones frostig-brutal stampfendem, minimalistischen Score sagt hier mehr Essentielles aus als es den meisten entsprechenden filmischen Meta-Diskussionen überhaupt gelingt.
LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO – Italien 1971 / Regie: Elio Petri / Drehbuch: Elio Petri, Ugo Pirro / Kamera: Luigi Kuveiller / Musik: Ennio Morricone / Schnitt: Ruggero Mastroianni
Darsteller: Gian Maria Volontè, Mariangela Melato, Gino Pernice, Renata Zamengo, Ezio Marano, Luigi Diberti
Wer kennt sie nicht, die Tschechoslowakei. Ein weiterer Vielvölkerstaat unserer östlichen Nachbarn, mit zahlreichen kulturellen und politischen Ursprüngen. Doch halt – dast stimmt ja nicht mehr wirklich. Nach 1945 eher ein Staat der Tschechen und Slowaken, wurde die ČSR ab 1960 zur ČSSR, genauer gesagt zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Und heute kann sich wohl auch keiner mehr daran erinnern. Das Millenium ist vorbei, die europäischen Staaten haben sich immer weiter spezialisiert (das Schlagwort der 80er war Unabhängigkeit), doch vom Kapital im Mantel der EU scheinen sie heute bereits wieder eingeholt. Was in 20 Jahren nicht alles passieren kann…
Ich gebe es zu – ich bin nie in der Tschechoslowakei gewesen. Und als es mit ihr 1990 zu Ende ging, war ich gerade einmal 6 Jahre alt. Dennoch konnte ich mich in der Folgezeit nicht wirklich damit zufrieden geben nun zwei Staaten statt des Einen vor mir zu sehen. Ob das etwas mit meiner Ablehnung der Multiplikation unter dem Deckmantel des Schulmathematik-Traumas zu tun hat, oder doch eher mit meinem persönlicheren Erlebnis des Zerfalls von Jugoslawien zusammenhängt, möchte ich an dieser Stelle nicht erörtern. Klar ist für mich vor allem eins. Wie auch immer die nun getrennte Tschechische und Slowakische Filmproduktion diese letzten 20 Jahre rigoroser Umwälzungen filmisch registriert hat, zu mir ist davon wenig durchgedrungen. Ich möchte nicht sagen, dass ich die Erzeugnisse dieser beiden jungen Staaten in dieser Zeit ignoriert hätte, und dass mich bei meinen cinephilen Reisen durch die Filmgeschichte die Gegenwart nicht interessiert. Aber ich habe das Gefühl, dass die Tschechen und Slowaken entweder nur wenig zur Lage und Entwicklung der neuen Nationen zu sagen hatten, oder es die Verleiher und Festivals außerhalb der beiden Staaten einfach nicht interessiert hat. Fakt ist, dass die tschechischen und slowakischen Filme seit dem Zusammenbruch der ČSSR nur sporadisch ihren Weg auf westliche Leinwände gefunden haben, und in der politischen wie sozialen Kultur des heutigen Europas (von der ästhetischen gar nicht zu sprechen) scheinbar so gut wie keine Rolle mehr spielen. Das war nicht immer so. Wir erinnern uns – tschechoslowakische Filme vor und nach dem Prager Frühling, Neue Welle, politisches Bewusstsein. Vielleicht verweist diese vermeintliche (internationale) Abwesenheit von politischen und ästhetischen Merkmalen ja lediglich auf die gesamteuropäische Krise des individuellen Ausdrucks, der „Globalisierung“, wenn man es denn so nennen will. Oder es ist nur eine filmpolitische Neuorientierung, der wiederholte Versuch eines paneuropäischen Koproduktionsfilms, diesmal jedoch unter verschärften wirtschaftlichen Bedingungen.
Dass in Europa heutzutage meist weniger Filme produziert werden als noch vor 30 Jahren dürfte bekannt sein. Ob es deshalb auch weniger brisante, gewagte, ausdrucksstarke und verspielte Werke geworden sind, ist schwer zu sagen. Durch den kapitalistischen Geldwall dringt jedenfalls weit weniger spektakuläres auf (deutsche?) Leinwände als durch den eisernen Vorhang je zurückgehalten wurde. Und Kultur – wer interessiert sich im globalisierten Sumpf der Verweise noch für Kultur?
Doch will ich an dieser Stelle keinen politischen Essay verfassen, denn meine assoziativ-fragmentarische Zustandsbeschreibung ist mehr eine Hinführung an das eigentliche Thema. Denn was immer man auch von filmhistorischen Veränderungen halten mag. Tatsache bleibt, dass ich seit dem Zusammenbruch der Tschechoslowakei keinen wirklich interessanten Film aus dieser Region mehr zu Gesicht bekommen habe. Und dass mir die Filme der 60er und 70er Jahre aus heutiger Sicht noch um einiges radikaler und visionärer erscheinen als es früher bereits der Fall war. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sich inzwischen so vieles, damals jedoch so wenig geändert hat. Das Gefühl der Stagnation, des Stillstandes und des Gefangenseins, muss in den 70ern wohl ausgeprägter vorhanden gewesen sein als heute. Jedenfalls wurde es bewusster wahrgenommen. Und zu entdecken gilt es diese beiden Jahrzehnte tschechoslowakischer Filmkunst (und natürlich auch die vorangegangenen 50er, sowie die nachfolgenden 80er) heutzutage, aufgrund mangelnder Möglichkeiten, nicht mehr so sehr im Kino, sondern vor allem auf DVD. Damit möchte ich nicht andeuten dass diese Werke auf der großen Leinwand nichts mehr zu suchen hätten. Ganz im Gegenteil. Doch zu Zeiten der Informationsflut, des Geschichtsüberflusses wie Überdrusses, stirbt die Kinolandschaft aus, und die Vielfalt entflieht ins Digitale. Wenn uns die letzten Zehn Jahre schon keine großartigen tschecho-slowakischen Neuentdeckungen auf die Leinwände gebracht haben, so wurde doch für die Digital Versatile Disc einiges an Schätzen wieder ausgegraben. Und was sich in den Archiven nicht alles findet! Untertiteln und dem Internet sei Dank, kann sich der interessierte Filmliebhaber ungeahnte Schmuckstücke ins Heimische Wohnzimmer holen (und ich spreche hier nicht von Torrents und Subs die auch zahlreich durchs Netz schwirren). Der geneigte (anglophile) Filmfreund kann inzwischen aus über 200 untertitelten Original DVDs wählen, die den Einfallsreichtum und die Originalität der Filmproduktion der Tschechoslowakei in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Und darunter fallen zum Glück nicht nur die allseits beliebten Märchenfilmen sowie die viel gerühmten Autorenwerke, die in geringerer Anzahl (und meist mittelmäßiger Qualität) auch außerhalb der beiden Staaten ab und zu erschienen sind. Nein, mit Kreditkarte, Paypal oder meist schon einer funktionierenden Bankverbindung, kann man direkt auf das Gebiet der ehemaligen ČSSR und ihrer Produkte zugreifen, und wer auf Untertitel verzichten kann oder gleich die (beiden) Sprache(n) lernen möchte, sieht sich vom Angebot inzwischen schier erschlagen.
Für alle Uneingeweihten und Neuankömmlinge (und auf Wunsch unserer Leser 😉 ) möchte ich daher an dieser Stelle einige Links und Tipps aufzählen um der Vielfalt einen überschaubaren Zugang an die Seite zu stellen.
Zunächst einmal gibt es eine inzwischen zwar schon wieder etwas veraltete, doch immer noch sehr hilfreiche Auflistung von englisch untertitelten DVDs, auf dem sehr informativen aber leider nicht mehr aktualisierten Blog Closely Watched DVDs.
Außerdem habe ich zwei Tschechische/Slowakische Internetshops ausfindig gemacht, von denen einer teilweise mit einem englischen Navigationsmenü ausgestattet ist und definitv auch Produkte ins Ausland importiert: www.dvdr.cz sowie www.dvdedice.cz
Für diejenigen denen das navigieren auf diesen beiden Websites zu kompliziert sein sollte, gibt es aber auch die bewährten Leute von Xploited Cinema (hier von mir auf 2 Filme von Václav Vorlícek verlinkt). Die Auswahl ist jedoch weit geringer, und die Discs auch nicht ganz billig…
Wer der Sprache etwas mächtiger ist, oder auch nur gewillt sich im Tschechischen oder Slowakischen zu versuchen, dem sei auch die einheimische Vaiante der Imdb unter www.csfd.cz ans Herz gelegt. Zumindest die Kenntnis einer slawischen Sprache sollte man aber schon mitbringen um sich auf der Seite einen Überblick verschaffen zu können.
Und für alle die sich von meinem Post etwas anderes erwartet hatten, habe ich als Entschädigung ein paar Links auf Youtube ausgegraben. Der User paatyia hat auf seinem Kanal einige Klassiker in teils hochauflösender Qualität hochgeladen, die man sich komplett ansehen kann – manche sogar mit englischen Untertiteln!
Mit den Links zu zwei meiner Lieblingsfilme möchte ich daher dieses Poting abschließen. Genießt sie solange sie zugänglich sind, oder bestellt sie euch per DVD! Es lohnt sich. 😎
Pane, vy jste vdova! (Václav Vorlícek / 1970)
Sedmikrásky (Very Chytilová / 1966)