Wehmut im Gegenschnitt – Die Rettung der uns bekannten Welt (2021)





Einige bleiben stehen, die andern gehen, bewegen sich über einsam zurückgelassene Blicke hinweg von ihnen fort – diesen traurigen wie profanen Vorgang des Zwischenmenschlichen würde Til Schweigers großgestig, im Kleinen jedoch letztlich subtil betitelter “Die Rettung der uns bekannten Welt” regelrecht zelebrieren, wenn er ihn nicht als so grausam, wahrlich welterschütternd empfände. Die Kunst des Hinterherstarrens auf verlorenem Posten, die Wehmut im Gegenschnitt; manchmal im Fortgang, manchmal gefroren, stets besonders im eigenen Kopfe: die geliebten, aber ob der überhandnehmenden Seltsamkeiten entfremdeten Halbgeschwister, die tote Frau als Rat stiftende Apparition, das durch allerhand externe Partymanöver belebte Grab der Mutter. Die das Leben des manisch-depressiven Paul (Emilio Sakraya), seines überforderten Vaters (Til Schweiger) sowie der zwei jüngeren Geschwister einschneidenden Beziehungseckpfeiler sind visuell rascher etabliert, als die Worte aus irgendwem hervorbrechen.

Oft von vorn sehen wir die, die den Anschluss zu verlieren drohen; dann bewegen sie sich auf uns zu – der Aufbruch in das Ungewisse unserer Gewissheiten über Schweigers Filme. Immer Bewegung, kopflos, nach vorn – früh fällt auf, wie wenig Paul trotz seines elaborierten inneren Monologes über dem nächtlichen Parkourritt, welcher den Film ohne jedes Startsignal eröffnet, als fertig ausgedeuteter Charakter greifbar wird. Schon hier liegen die Diskrepanzen offen – “Die Rettung der uns bekannten Welt” ist ein Film, in dem wieder und wieder die Sprache versagt, obwohl alle behaupten, dieselbe zu sprechen. In dem stattdessen Taten sprechen müssen, auch wie vorwiegend sinnlose – Hauptsache, man kann sich einmal im Leben vernünftig ausdrücken. Immanent sind sie ihm, mehr noch sind sie organisch mit dem Werk des großen Lauten im deutschen Kino verwachsen: rastlose Figuren in einer um sie herum stillstehenden Welt – das ist sein großes Thema und dies sein bislang größter Wurf. In mehreren Etappen. Hin zum Film, der nicht allein sein mag; einem der wenigen, die keine Verzweiflung abbilden, sondern eine solche sind.

Den Anfang macht die altvertraute Brachialkomik – wie spielend leicht Menschen, die in Schweigers Welt unter Spannung stehen, wegen Alltagshandgriffen wie dem misslungenen Schließen eines Fensters grotesk aus der Fassung geraten. Wenngleich freilich mit starker Konkurrenz im eigenen Hause versehen, hat sie sich noch nie derart unharmonisch eingefügt in den mittlerweile seriellen Aussteigerchic Marke Prenzlberg, die rein optisch elegische, lagerfeuergleich wärmende Ruhe der als Werbeclipästhetik verlachten Bildkompositionen. Muss sie auch nicht, die Welt besteht bei Til aus Brüchen und der eklatanteste klafft zwischen diesem Zeichenstil und dem berüchtigten epileptischen Filmschnitt, der ihn auseinanderwirbelt gleich all den gutbürgerlichen Existenzen, die aus dem Tritt geraten. “Die Zahnlücke steht für das Poröse.”, hielten schon die Filmkritiker Jochen Werner und Matthias Dell verschmitzt in ihrer ausführlichen, längst ins Feuilleton vorgedrungenen Auseinandersetzung mit dem zumindest grundsätzlich vielseitig deutbaren Œuvre fest. Dieses Poröse, auf einer anderen Ebene ist es ein Ankämpfen der Gestaltungungselemente gegeneinander, aus welchem eine nicht zu stillende Sehnsucht nach Ruhe spricht, letztlich auch unerschrocken, erfrischend peinlich, nach der besten aller möglichen Welten. Als Paul erstmals mit seiner Mitpatientin Toni (Tijan Marei) bondet, wird der Schnittrhythmus graduell langsamer, erhebt sich wieder, zappelt einer Gemütslage gleich herum, bis die Kamera sie in einer Totalen gemeinsam zurücklässt und Schweiger auf die heilsame Stille der Natur umschneidet. Nie war deutlicher, was er ist: Ein Harald Reinl für die Generation midlife crisis, die den Glauben verloren hat – an sicher gewähnte Grundfesten, an sich, an eine andere Art zu leben. Jemand, der Stoffe allein aus der Disparität der entworfenen Bilder zu entwickeln vermag.

Das Bild und der Schnitt sind Entitäten, die sich zueinander verhalten wie der alte Industrierost zu den jung Verzweifelten, die auf ihm herumturnen, wie der große Umbruch dazu, ein starr von oben herab eingefangenes Maisfeld mit dem Auto zu durchpflügen. Das, was gerne (noch) wäre, und das, was ist. Klischees und vermeintliche Peinlichkeiten, über die sich jedes Mal aufs Neue mit Vorsatz zuvorderst mokiert wird, sind vielmehr inszenatorische Chiffren für einen Gesamtzustand, Figuren aus Schweigers Feder immerzu bewusst unvollkommener Teilaspekt einer gänzlich anderen, der unsrigen Welt sowie der wehmütig wütenden, aber noch nicht resignierten Sicht auf diese. Einen Anspruch auf Ausgewogenheit hat er nie kommuniziert, der Blick ist verstellt, selten war das sichtbarer. Viele der kleinen Zotenunfälle, die den Menschen dieser wankelmütigen Tragikomödie angesichts der sich zuverlässig überschlagenden Totalkatastrophen unentwegt, geradewegs kompulsiv in den inopportunsten und ungeschicktesten Momenten über die Lippen gleiten, sind nur mehr Eigen- wie Fremdbeschwichtigung, um sich dem Ernst des Lebens nicht stellen zu müssen. Nützt nichts, alle Wege führen in die Psychiatrie – doch nur für Paul. Dementsprechend müssen diese gewagten humoristischen Manöver freudige Trashspürhunde vor den Kopf stoßen. Wenn die Montage Epilepsie ist, dann ist die Dialogebene Tourette.

Bis sie abermals am Lachen zerbricht. “Die Rettung der uns bekannten Welt” ist nicht immer witzig, manchmal behauptet er das nur für eine bisweilen voreilige Reaktion, aber immer gnadenlos. Jener akute Sinn für die Selbsterfassung, den Schweiger spätestens mit seiner noch ganz sachte und zwischendrin eigenverächtlichen Darbietung in “Honig im Kopf” (2014) kultiviert hat, setzt zum K.o. an, wenn er die unzweifelhaft erschütterndste Szene seiner bisherigen Regiekarriere mit der verlogenst denkbaren Variante seiner patentierten Bildidylle aus dem Katalog der kuschelweichen Lebensträume – einem scheinheiligen Sommerfest für Patienten und Eltern – schnitttechnisch vermengt. Es ist präzise dieser Moment, in dem alle Schuppen von den Augen fallen, die unvereinbaren Gegensätze mit emotionaler Sprengkraft zueinander finden und die zum Spott einladenden Grundlosaggressionen der ersten Hälfte plötzlich zurückkehren, um einem kurzentschlossen fürs Abkanzeln ins Gesicht zu spucken. Eine harsche Entladung von Gewalt, ein endgültiges Versagen der Kommunikation, völlig ohne Gleichen, so bleibend im hochkommerziellen, kaum je zu nahe tretenden Umfeld dieses auf vielfältige Weise tief verzweifelten Filmes. Das Meer an widersprüchlicher Inszenierung um sie herum verstärkt den Aufprall nur. Man sage über diesen Umgang mit ihnen, was man will, doch ist Til Schweiger einer der wenigen gegenwärtigen ganz groß Filmschaffenden im deutschen Kino, der die inszenatorischen Mittel nicht bloß als ebensolche zum formschönen Zweck begreift, sondern sie ganzheitlich, notfalls als Attacke, in den Dienst des make believe stellt.

Wie kann es hiernach noch weitergehen? Klar, mit der gemeinsamen Flucht in ein Roadmovie und auch ansonsten wie gehabt. Die Mittel sind und bleiben konstant; denn obwohl die Problemstellungen sich zum guten Schluss fortwährend im saccharinen Happy End aufgelöst finden, gehören sie doch unabdingbar zum Weltenlauf dazu. Ein Leben ohne Historie, das gibt es nicht – nicht für sie, nicht fürs uns, nicht für andere. So macht es das einmal, für ein vielleicht flüchtiges, vielleicht auch anhaltendes Verschnaufen aus dem räumlichen Kontext des Vorangegangenen herausgeschälte, aber mit Wiedergängerinnen aus der noch nicht Vergangenheit garnierte Ende ziemlich klar. Noch ein paar Filme und Jahre, dann ist das mono no aware.

Die Zwecklosigkeit der rastlosen Revolution hingegen ist im programmatischen Titel bereits eingepreist. Er könnte in diesen Zeiten ohne Weiteres Manifestcharakter haben, doch auch das ist ein Bluff, Schweiger mal wieder bescheidener als ein jeder glaubt. Sie liegen simpler, die Dinge: Die Welt kann nicht Halt machen, da kann wollen, wer will. Im Grunde schreit alles in “Die Rettung der uns bekannten Welt” danach, Paul und Toni am bestehenden Ordnungssystem scheitern und sterben zu lassen – doch scheitern und sterben sie nicht. Denn einen hoffnungslos idealistischeren Großträumer als Til Schweiger könnte man nicht erfinden, würde man ihn brauchen. Die Rettung der uns bekannten Welt, das heißt: “They Live by Night” (Nicholas Ray, 1948) für Menschen, die längst schon danieder liegen sollten, dies aus unerfindlichen Gründen aber einfach ablehnen. Revolution als das schlichte Ausbleiben von Verzagtheit. Ohne Tote, mit Weiterleben und schmucken Rissen.


Die Rettung der uns bekannten Welt – Deutschland 2021 – 136 Minuten – Regie: Til Schweiger – Produktion: Til Schweiger, Christian Specht – Drehbuch: Lo Malinke, Til Schweiger – Kamera: René Richter – Schnitt: Til Schweiger, Alexander Melkö, Constantin von Seld – Musik: Martin Todsharow – Darstellende: Emilio Sakraya, Tijan Marei, Til Schweiger, Bettina Lamprecht, Emily Cox u.v.a.

[Alle Filmbilder Eigentum der Warner Bros. Filmproduktion GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, November 24th, 2021 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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