Schwenken ins Herz der Finsternis – The Fabelmans (2022)





Am Ende von „The Fabelmans“ lässt Steven Spielberg seinen Kameramann Janusz Kamiński bewusst einen Moment zu auffällig den Blick anheben und setzt den unmotiviert mittig herumdümpelnden Horizont damit ins rechte Licht. Zuvor hatten sich zwei andere Regisseure, nämlich David Lynch in der abgetragenen Haut John Fords, zu einer einzigen Weisheit über das Filmemachen hinreißen lassen: Befindet sich die Horizontlinie innerhalb des oberen oder unteren Drittels der Komposition, so ist ein Bild interessant. Unmissverständlich – das ist es also, jenes Happy End, welches wir uns zweieinhalb Stunden lang sehnlichst für Sammy Fabelman herbeigewünscht haben. Eine echte beiderseitige Traumerfüllung Hollywoodschen Zuschnitts. Rags to riches für den ewigen Underdog; sie kommen noch, doch der Pfad ist bereits geebnet. Wir wissen darum. Denn man kann diese Geschichte nicht vom Lebensweg ihres Schöpfers separieren. Kein veränderter Name, kein verschobenes biografisches Detail vermag diesen Bruch zu erzeugen. Er ist auch nicht vorgesehen, allein aus dieser personellen wie narrativen Glätte kann eine verschleiert-unverschleierte Autobiografie in all ihren Implikationen frei atmen, universell werden und einen sensorischen Bruch erzeugen, der ungleich tiefer verläuft.

Man muss jedoch David Lynch von John Ford separieren, um zu verstehen, dass dieser cinephil eifrig diskutierte Besetzungsclou mehr ist als eine Hommage, ein Gag oder ein einziges Augengezwinker gen eingeweihtes Publikum. Er ist ein letztes Hinweisschild auf Ebenen, die Spielberg überlappen lässt, bevor Kamińskis Trick uns ins Selberdenken entlässt, es ermutigt. Zwei weitere Filmemacher, die von Einsamkeit berichten, der tote durch den lebenden. Dieses Ende ist mehr als ein Hoffnungsschimmer, es bildet eine Dualität von tieftraurigem Beigeschmack in einem Film, der alles stets wechselseitig bebildert – der berufliche Aufbruch und die emotionale Verkapselung. Mehr als alles andere ist „The Fabelmans“ die Abbildung einer solchen Dualität. Immer wieder warnen Gesprächspartner aus dem Showgeschäft vor der Einsamkeit der Filmschaffenden, doch wir sind es, die nicht hören wollen. Die bunten Farben trügen, die elegante Erzählung trügt, ihre Abwicklung, die Leinwand, der Film, das Kino trügt. Von vorne bis hinten setzt Spielberg seine Ausgestaltung als Messer aus Eis gegen sein Publikum ein – Spuren bleiben bloß zurück, wenn er es will. Deutlicher als jeder andere Film seiner Karriere straft er all jene Lügen, die nicht weiter blicken können und wollen als zu den üppigen Oberflächen, dem Bombast, der Großträumerei, den Blockbustern eben und der seit jeher von Kulturpessimisten heraufbeschworenen Totengräberei am Kino. Diese, so scheint Spielberg bisweilen zu insinuieren, besorgt das Kino, wenn überhaupt, zuerst einmal am Menschen selbst.

„Kino ist kein zweites Leben, es ist mein eigentliches.“, hat Fritz Lang einmal über die eigene Existenz festgehalten. Scherz beiseite, denn natürlich soll die letzte Einstellung des Films auch ein erleichtertes Lachen entlocken, ist es gerade ein solcher Übergang in ein anderes Leben, den sie markiert. Doch ist es auch das eigentliche? Als visualisierter Patzer des Lebens steht sie in einer Reihe großer Irritationsmomente, die „The Fabelmans“ benutzt, um teilweise Stunden später noch sicher gewähnten Boden unter den Füßen wegzuhexen. Sie zieht zurück, die Gedanken versiegen nicht; eine oft ungewürdigte Qualität, die Spielberg aus den kleinsten, oberflächlich erscheinenden Regiegesten erzeugen kann. Sein Film ist in der Essenz Zweierlei, das Eines wird: Eine Meditation davon, was das eigentliche Leben ist, und ein Essay darüber, wie man eine relativ geradlinige Erzählung in zwei, drei inszenatorischen Kniffen zur absoluten Meisterschaft des Filmemachens überflügelt. In einer Flut von Bildern, 24 pro Sekunde, 86.400 pro Stunde, derer zweieinhalb, reichen bereits wenige in Akkumulation, um eine Stimmung völlig aufzufächern, abzudunkeln oder zu erhellen.

Und schon verstehen wir: Das Leben wird Kino. Unwiederbringlich. Diese Implikation muss niemand aussprechen, sie sitzt unmittelbar tief. Auf basalster Ebene ist dieser Schwenk eine filmische Konstruktion von Realität, der Abgang in eine, vielleicht Spielbergs, womöglich die eigene, nach einem Film, der das make believe alter Geschichtenerzähler hochhält, als hätte es eine Zeit, ein Amerika nach den 1950er Jahren nie gegeben. Von der warmen, aber weichen Tiefe des verwendeten Filmmaterials, an welchem Spielberg nach wie vor festhält, über die rigide Genauigkeit der architektonischen Rekonstruktion einer vergangenen Welt hin zum wortmächtigen, Komplexität auf beiläufigen Konversationsdialog verdichtenden Drehbuch – im Grunde gibt es kein Versteck für die Postmoderne. Und doch tritt sie aus den Konstruktionsfugen einzelner Momente einen Nagel in unseren Fuß. Sein Name lautet Resignation: lässt sich die althergebrachte Ordnung nicht ändern, so muss man sie überschreiten, womöglich sogar umschreiben, doch einen Teil von sich selbst lässt man dabei zurück. Eine bittere Erkenntnis, die der lange schon zu höchsten Privilegien gekommene Spielberg nicht herbeiredet, sondern an der Schnittstelle zu den unsrigen gelebtem Leben entnimmt. Penibel genau baut Spielberg diese alte Ordnung nach, sie entspringt nicht präziser Beobachtung allein, auch alte Narben spielen mit ein.

Papiertischdecken, Plastikgeschirr, ein doch in den Randkoordinaten unbedingt bürgerliches Familienleben, das nicht einmal im täglichen Essbesteck eine Konstanz entwickeln darf. Die feinen Klavierhände der Mutter sollen schuld sein, doch muss man nicht selbst mit mentalen Problemen beschlagen sein, um den Ball der wiederkehrenden Impressionen aufzunehmen und aus den Zwischentönen, jenen Leerstellen des Kinos, die wir selbst auffüllen, zu ahnen, dass mehr als Spülwasser dahintersteckt. Lange bevor narrative Notwendigkeit Depression, Eheprobleme und fehlende Anerkennung in verletzende Worte kleidet, aus denen die Kinder verstehen, haben wir längst begriffen und müssen hilflos zusehen. Ganz wie der kleine Sammy in seiner ersten Kinovorstellung, als die Lokomotive aus „The Greatest Show on Earth“ in das entgegenwarnende Auto rauscht. Die Interaktion zwischen Kino und Leben, wann das eine das andere aufzufressen beginnt, reflektiert Spielberg in weit mehr als der Obsessivität, die Sammy in die Gestaltung seiner frühen Amateurfilme steckt. Als retardierendes Moment rein visueller Natur eingeleitet durch einen Schwenk.

Überhand nehmen die latenten Probleme im Hause Fabelman vollends, als der junge Regisseur beim Schnitt eines Urlaubsfilmes für den familiären Frieden selbst über eine solche subkutane Irritation stolpert. So wie er nicht sieht, was Spielberg uns antut, können auch wir nicht sehen, womit er sich als in der Kontrolle wähnender Filmemacher unerwartet selbst bewegt. Wieder und wieder spult er Kopie vor, zurück, wieder von vorn, dann tritt das inszenatorische Element schließlich auf unsere Ebene über, die Augen werden eins. Aus einem beiläufigen Schwenk entlang der Schwestern wird im Hintergrund die Untreue der Mutter mit dem besten Freund der Eltern offenbar. Sogleich brennt dieser Miniaturklimax uns höhnisch eine Sequenz aus unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft auf die Netzhaut zurück, ein Gespräch, welches Sammy mit dem eigenwilligen Großonkel vom Film geführt hatte, welcher die Familie nach dem Tod seiner distanzierten Schwester erstmals kurz besucht hatte. In technischsten Tönen sowie größter emotionaler Distanz zu den möglichen narrativen Implikationen, hatte er diesem die große Idee für den neuen Schülerfilm dargelegt: Den Kamerablick auf das aufgewühlte Gesicht eines Filmhelden, wir bleiben im Dunkeln. Bis die Kamera schwenkt.

Abermals verstehen wir, Sammy wird es ebenso verstanden haben. Du denkst, du kontrollierst den Film, doch er kontrolliert dich. Sehen lernen, das Aufnehmen und Verstehen aus prinzipiell toten, einzig durch die Projektion belebten Bildern musste er schon früh lernen; und indem Spielberg diesen Lernprozess in ein Familiendrama über das allzu jähe Erwachsenwerden einbettet, lässt er an diesem an sich so schönem Vorgang tief empfundene Wehmut zurück. Auftakt und Ende von „The Fabelmans“ bilden eine Klammer über die Abkapselung in Fantasiewelten, das Kino als Schlüssel zu den eigenen Emotionen, Erwachsenwerden in Eindrücken aus zweiter Generation. Einmal der kleine Junge, der sich vor seinem ersten Kinobesuch fürchtet, dessen Eltern uneins über die möglichen Folgen der technicolorbunten Konfrontationstherapie mit dem Leben auf die ohnehin schon zahlreichen Angststörungen sind und dem sich über die neue sukzessive auch die alte Welt erschließt. Auf der anderen Seite der junge Erwachsene, der von kleinster Anerkennung beglückt in die weite Filmwelt hinein und aus den Restriktionen dieses, seines eigenen Filmes heraustaumelt. Beide werden gespiegelt von einer Inkarnation, die längst die Weisheit der alten Meister erlangt hat und auf eine Zeit im Leben zurückblickt, in der sich die Innenleben zu überkreuzen begannen.

Unsicherheiten im Zugang zur Außenwelt sind Unsicherheiten im Zugang zur einstigen spirituellen Heimat, dem Hort der Familie geworden. Verstummt sind die jiddischen Feiertagslieder, vorbei die Zeiten der Familienfeiern und Ausflüge, die Flucht in die die Natur, in denen die erste Hälfte der narrativen Aufarbeitung voll nostalgischer Wonne schwelgt. Zusehends verengt sich der filmische Raum zwischen Umzug, Isolation daheim wie an der neuen Schule. Die Weite der Wüste, die Geborgenheit von Zelten unter Baumwipfeln – die Amerikana versiegt im Übergang zum Erwachsenenleben, bis das zwischenzeitlich aufgegebene Kino zurückkehrt und Realitäten schafft. Es öffnet sich mit dem übersehenen Briefumschlag einer Produktionsfirma schlicht eine gänzlich andere, die Sammy Fabelman verschlucken wird. Daran lässt Spielbergs Methodik keine Zweifel. Indem sie den interaktiven Moment des Kinos, was zwischen Sehen und Abspeichern geschieht, gesondert herausstellt und wie er die Welt um uns herum einfärbt, bleibt die filmische Erfahrung vorgeordnet, aus ihr entspringt Erkenntnis. Nicht zuletzt auch für uns. Erst für die Regie, dann mit Versatz im Festgehaltenen für den Rest der Welt. Der ewige Kreis, nicht auszuhaltende räumliche Isolation. Ganz deutlich sieht man diesen Prozess in dem rapiden Selbstbewusstseinsverfall, den einer von Sammys Pausenhofschlägern beinahe Major Arnold Toht aus „Raiders of the Lost Ark“ gleich erleidet, sobald er seinem nun unveränderlichen Abbild im strikt dokumentarischen Strandpartyfilm ansichtig wird.

Kino als Bundeslade. Einmal, kurz vorm unumgänglichen Aufbruch, zehrt sie kurz alles um sich herum auf, legt die emotionale Abkapselung des ersten Lebens in ungefilterter Künstlichkeit offen. Strenge Aufsicht auf den Kopf von Sammys Vater eingespannt zwischen den Zulauflinien der Deckenecke, gerade geht ihm der Stoß Bilder durch den selbigen, den seine nun Ex-Frau vom guten Leben mit dem neuen Partner geschickt hat und dessen realweltliche Implikationen Sammy schon gar nicht mehr bemerkt. Seine Züge sind erstarrt, völlig isoliert, in architektonischen Skizzen erfroren, aber immerhin – die Linie des Horizontes ist oben. Ein herausstechender Irritationsmoment. Wie ein Gemälde im Film, einmal völlig offenkundig von Künstlerhand geschaffen. Das make believe ist am Ende, der Zusammenbruch aller Wände. Heimat ist eine leere Hülle, in der es nichts mehr zu holen gibt. Es ist weise, dass Spielberg bald darauf den Erzählstrang abbricht. Obigem Ende bewahrt er so die gleiche unbestimmte Traurigkeit, die Fritz Langs Ausspruch für ein in soziale Leben eingebettetes Wesen wie den Menschen unweigerlich anhaftet, so positiv er auch gemeint sein kann. Die narrative Auslöschung durch Umschreibung, des Schmerzes, mit ihm jedoch auch der Erinnerung – sie bleibt nur Ahnung. Doch aus ihr verstehen wir ein letztes Mal: Die Grenze zwischen uns und den anderen – sie hingegen wird zur Wand.


The Fabelmans – USA 2023 – 151 Minuten – Regie: Steven Spielberg – Produktion: Steven Spielberg, Tony Kushner, Kristie Macosko Krieger – Drehbuch: Steven Spielberg, Tony Kushner – Kamera: Janusz Kamiński – Schnitt: Sarah Broshar, Michael Kahn – Musik: John Williams – Darstellende: Gabriel La Belle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Julia Butters u.v.a.


[Alle Filmbilder Eigentum der Universal Pictures International Germany GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, Mai 7th, 2023 in den Kategorien Aktuelles Kino, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen