Rotationen verwundeter Seelen: L’ultima orgia del III Reich (1977)




    Lise!
    Trockne deine Tränen
    Und weine nicht


“L’ultimo orgia del III Reich”, der einzige Nazisploitationfilm des nicht bloß im Bezug auf seine präferierten Genres schwer festnagelbaren Cesare Canevari eröffnet mit einem Titelsong, dem, man merkt es im Laufe des sich anschließenden Films recht schnell, eine Aufgabe zufällt, der sich die verrätselten Bildeindrücke schlicht verweigern. Fremdbestimmend, immerzu im Imperativ oder Tone auktorialer Einsicht gehalten, pflanzt er bereits spekulative Empfindungen fremden Geistes in eine Frau, bevor wir diese überhaupt kennenlernen dürfen. Einzig an Lise Cohen (Daniela Poggi) gerichtet gewinnt der insistierende Klang der deutschen Erzählstimme vor mit eisernen Kreuzen verzierten Credits retroaktiv in Relation zu den folgenden Barbareien deutscher Nazischergen einen fast hämischen Unterton. Als Alpha und Omega des Filmes wirkt dieser Rahmen wie eine Aufforderung zum Vergessen des gerade Gesehenen, nicht von Canevari angestimmt, sondern schlicht im Stile einer 1977 zumindest unter Deutschen weit verbreiteten Haltung im ungut paternalistischen Ton (“Lise! Kleine Lise!”) – ein Monolog ohne Raum für Antwort. Doch was gilt es überhaupt zu vergessen? Der Inhalt zwischen dieser Klammer verweigert eine druckreife, in schnöde Worte übersetzte Antwort.

Wieder und wieder geht die Kamera auf Tuchfühlung weit über die Grenzen aller Distanzzonen hinaus, unerträglich nah an leidende aber auch angesichts exakt dieses Leids lustvoll transpirierende Gesichter. Eine nie endender Reigen – Großaufnahmen aneinandergelötet durch die rapid-unruhige Schnitttechnik, das vor allem aus Canevaris psychedelischem Western “Matalo!” (1970) vertraute, unablässige Kreisen um seine Figuren. Was dort das spärliche, neu eingeführte Leben in einer Geisterstadt zu schwindelerregenden Höhen antrieb, gleicht hier visuellem Kommentar, dezidierter Haltung und setzt auch unsere eigenen Gedanken in erst wirklich in Rotation. „Manifestatore dell’anima“, den Offenbarer der Seele, nannte Christoph Draxtra Canevari einst in seinem Nachruf, nach wie vor eine passgenaue Beschreibung dessen, was die narrationsunabhängige Erzählung durch filmische Bewegung zu leisten im Stande ist. Doch ist Canevari auch der animatore dell’anima, unserer, aber auch der filmimmanenten Seelen, Kurbeln, eine verniedlichende bis verächtliche Umschreibung des Filmemachens, bei ihm stets auch das Anstoßen eines schon bald automatisiert laufenden Erkenntnisprozesses, nicht auszubremsender Stimulation wie Provokation. Die penetrante Weigerung, das Geschehen auf eine abstrakte Ebene zu hieven, ist grausamer als alles, was in anderen Genrevertretern großzügig auf dem Gabenteller sexualisierter Gewalt kredenzt wird, unerbittlich gegenüber den Zuschauenden, während es seine Figuren irgendwann durch Schnitte erlöst. Den immensen Berg an austauschbaren, ergo rasch in der eigenen Exploitationmühle verwertbaren Gefangenen, es gibt ihn bei Canevari nicht. Sein Interesse gilt allein dem eingeschränkten Figurenkreis eines Melodrams, das sein Film in der Tiefe seines Herzens ist, nicht den gesichtslosen Massen eines beliebigen Historienfilms.

    Die Hoffnung starb mit jedem Tag dahin
    Du warbst um Liebe
    Umsonst.

Abseits gelegentlicher Gewaltspitzen wird somit fast zwangsläufig zur Identifikation angestiftet, mit Lise, auch aber ihren Peinigern. Ungebrochen lässt uns das Kamerauge an den Lippen eines Ultimativverwerters kleben, der jüdisches Leben erst in Arbeit, dann, sobald nutzlos geworden, übergangslos in Nahrung für das Herrenvolk umzumünzen gedenkt. Die plötzliche Ruhe der Bildgestaltung ist unübersehbar, auch dann als sich die umliegenden Münder ob des exquisiten Geschmackes einer Kostprobe zunehmend in Ekstase stopfen. Canevari richtet nicht, er beobachtet und äußert er sich doch einmal direkt, so geschieht dies in Form unauflösbarer Widersprüche, Provokationen an den äußersten Randbegrenzungen guten wie schlechten Geschmacks. Die pupsende Verächtlichmachung einer selbstgefälligen Rede – es mögen die entfleuchenden Gase eines jungen Soldaten sein, doch Canevaris Entscheidung war es, ihren Ursprungsort als Großaufnahme in den Redefluss einzuschneiden. Peinlich und grausam können Menschen hier stets zur gleichen Zeit sein, zwischen den beiden Adjektiven besteht kein Widerspruch, die Beobachtung mit abgespreiztem, das Ernste betonendem Finger liegt fern. Im schärfstmöglichen Gegensatz zu großformatigen Holocaustfilmen wie “Schindler’s List” (Steven Spielberg, 1993) oder “The Pianist” (Roman Polanski, 2002) ist “L’ultima orgia del III Reich” ein durch und durch immersiver Film – mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Eine bequeme Ausflucht auf das Allgemeine, die Deutschen oder “Diese Vorfahren aber auch!”, das Schaffen von räumlicher Distanz liegt ihm fern – er ist nicht versöhnt, um es mit Straub und Huillet, deren Schaffen Canevaris methodische Strenge auch jenseits dieses schalen Scherzes nähersteht als allen italienischen Zeitgenossen, zu sagen, weigert sich abzuschließen.

Einzig am reinen Überlebensprozess interessiert lässt der Regisseur Figuren verschwinden im Schwarz schon allzu bald von lodernden Flammen ausgeleuchteter Tunnel, im doch so friedlich ruhenden Weiß ungelöschten Kalks, um ihnen dann selbst von Freunden nimmermehr ein Wort des Mitleids oder nur der Erinnerung zukommen zu lassen. Provokative, nicht in Schauwerthuberei zu Ende geführte Bilderwelten unter der Ausblendung des großen Ganzen. Canevari kennt den menschlichen Körper verzehrende Flammen, nicht aber den Rauch, der von verkohlten Überresten emporsteigt, assoziativ in den Plot eingeflochtene Schornsteine nun leerstehender Lagerhallen angehäuften Menschenmaterials, nicht jedoch jene der Knochenmühlen. Grauen bleibt bei ihm bruchstückhaft, fragmentarisch, allein existent scheint, was für Lise Cohen von Relevanz ist. Widersprüchliche Eindrücke, die ihren Abdruck auch auf deren Seelenleben hinterlassen. Daniela Poggi bleibt durchaus beredt, doch versteinert im Antlitz, eine Sphinx, muss aus dem Drängen der Inszenierung heraus zur Identifikation herangezogen werden und verweigert diese doch mit ureigener, den lauernden Bildern widersprechender Kraft.

    Sieh!
    Das Glück kehrt zurück

Einmal, da hat sie längst den Aufstieg zur Geliebten des Lagerkommandanten (Adriano Micantoni) hinter sich gebracht, wird sie von einem Bootsmann auf die umgebenden Gewässer hinausgefahren. Gleichzeitig zu dieser ohnehin schon befreienden Aufweitung der Kadrage unter freiem Himmel beginnt die Kamera unablässig Kreisläufe um ihr Boot zu absolvieren, die nach und nach das ganze Ausmaß der pittoresken Ruinen und Gefängnisinsel greifbar werden lassen. Rein optisch losgelöst und dennoch nicht gebrochen, unzweifelhaft Teil des gleichen Rhythmus, der gleichen Methodik. Fahrten kreisen bei Canevari nicht von Punkt X aus, sondern einzig und allein um dessen Radius herum – im Gegensatz etwa zum deutschen Dokumentarkreiser Dietrich Schubert ist seine Haltung keine behutsam den Kontext ausmessende, vielmehr eine antwortlose Fragen aufwerfende, frontal vor den Kopf stoßende. Vielleicht ist “L’ultima orgia del III Reich” auch der Film, der in diesem kurzen Moment das Kapodasein und die generelle Verschmelzung mit dem Unterdrücker am verständlichsten erscheinen lässt. Es wäre keine Zeit des Mitleids, hatten sich Lise und eine ihrer wenigen Freundinnen gleich zu Beginn einmal geeinigt. Und doch liegt die Andeutung von mehr hinter ihren erkalteten Augen, ungeklärte Motivationen, verkapselte Gefühle. Die Bootsfahrt – ist sie die aufs Neue erwachende Lebenslust, die der kümmernde KZ-Arzt diagnostiziert hatte, die vollkommene Brachlegung des Seelenlebens, von der die Kommandanten so freudig fantasierten oder nur die erste Etappe eines abgeklärten Mordes am Peiniger? Unauffällig wurde er beim Wiedersehen, das die Rückblendenerzählung erst eröffnet, eingestreut, der Nebensatz über die den Liebhaber einst rettende Falschaussage. Sadiconazista vermengt mit “La mariée était en noir” (François Truffaut, 1968), doch ohne wirklich narrativ ausgetextetes Motiv.

Allesamt Erklärungen, Möglichkeiten, die Canevari feilbietet, real ist indes einzig, was er in dunkelsten wie bloß graduell vom Himmelszelt aufgehellten Stunden auf die Leinwand werfen lässt. Er besitzt die zügellose Unverfrorenheit, eine Ahnung von Glück zu visualisieren, diese jedoch narrativ weder zu unterfüttern noch aufzulösen, lässt uns ebenso rätselratend vor Lises erstarrten Zügen verharren wie die beim schmerzbasierten Beleben dieser Mal um Mal Scheiternden. Was die umso drastischer geschilderten Grausamkeiten in ihr anrichten, steht auf ewig ohne Antwort. Lise Cohen ist die ungewöhnlichste Kreation einer filmischen Historienaufarbeitung, die sich am ganz genau Wissen, am ganz genau Verstehen labt, aus der Ferne Dinge beschreibt, die nicht einmal durchschaut, wer immerzu ganz nah bei den Menschen bleibt, mit ihnen gemeinsam in die Abgründe menschlicher Rohheit vorstößt. Canevari versteht dies, er akzeptiert es vorbehaltlos. Obwohl keine reale Person oder einer solchen nachempfunden, gehört Lises Leid ganz ihr allein, nicht den Geschichtsschreibern, nicht uns. Einmal, nur für wenige Augenblicke, tritt Lise aus der Kadrierung heraus und hinterlässt an ihrer eigenen Leerstelle den gleißenden Lichtkegel einer nicht näher bestimmbaren Deckenleuchte; in einem anderen Kontext, einer ganz der Vita verschriebenen Musikerinnenbiografie beispielsweise, könnte dies das Nachglimmen der Scheinwerfer nach dem ganz großen letzten Auftritt sein. Hier ist es Hinweis in Analogie – darauf, wem die von Canevari ausgebreitete Bühne wirklich gehört. In all seiner schonungslosen Abscheulichkeit ist “L’ultima orgia del III Reich” vor allem eins: Ein Appel dafür, den zu Opfern gewordenen nicht auch noch das Letzte zu nehmen – die Deutungshoheit über Erlebtes, Durchgemachtes, Vernarbtes.

    Lass die dunklen Träume hinter dir

    Das Leben wird noch schön


L’ultima orgia del III Reich – Italien 1977 – 92 Minuten – Regie: Cesare Canevari – Produktion: Cesare Canevari – Drehbuch: Cesare Canevari, Antonio Lucarella – Kamera: Claudio Catozzo – Schnitt: Enzo Monachesi – Musik: Alberto Baldan Bembo – Darsteller: Daniela Poggi (als „Daniela Levy“), Adriano Micantoni (als „Marc Loud“), Maristella Greco, Antiniska Nemour, Fulvio Ricciardi u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Samstag, August 31st, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Rotationen verwundeter Seelen: L’ultima orgia del III Reich (1977)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (02-09-19) on September 2nd, 2019 at 21:01

    […] Malberg schreibt auf Eskalierende Träume über Cesare Canevari berüchtigten Naziploitation-Film „L’ultimo orgia del III Reich” und kommt zu dem Schluss: „In all seiner schonungslosen Abscheulichkeit ist “L’ultima orgia […]

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