Il piacere (1985) und: Joe-D’Amato-Retrospektive beim Filmarchiv Austria!





Gedärme, die aus hungrigen Bäuchen fallen, Kameraobjektive, die in zu penetrierende Rosetten hineinfahren: ob im Gewalt- oder Sexualakt – beides Dinge, die Joe D’Amato mit der derben, aber eben auch ein wenig unschuldigen Freude an Provokationen des Adoleszenten nur allzu gern zelebrierte – das Innerste verborgen im menschlichen Leibe faszinierte ihn offenkundig sehr. Nahezu 200 Filme strickte er um dessen Freilegung. Unter diesen gehört „Il piacere“ zu den allerschönsten, verwundbarsten wie aber auch im Gegenschluss verwundendsten.

Das Handlungsgerippe ist nebensächlich, die Geschichte um einen alternden Casanova gefangen zwischen Trauer um die Liebe des Lebens und den wiedererwachenden Triebgefühlen für ihre jugendliche Wiedergängerin allein Aufhänger für selbst für ihn, den größten auf den Regiestuhl umgesattelten Kameramann des italienischen Kinos, ausnehmend luxuriös arrangierte Vermessung von Leidenschaft via filmischer Inszenierung allein. Unmittelbar aufeinanderprallend färben Linse und Belinstes Wände, Räume, ganze Außenareale ein. Aus der Reibung hervortretend: Ein eigentümliches Knistern in der Luft, vielmehr schon ein dichter, stets aber durchschaubarer Nebel, ein Schimmern, das sich die Welt des Filmes überschreitende Freiräume zwischen Emulsion und Bildträger zu erkämpfen scheint. Güldner Glanz über den Erinnerungen an den venezianischen Karneval der Jugend, der annähernd maronenfarbene, den Vorgängen eine bisweilen weihnachtsmärktliche Wärme verleihende Rauch einer Opiumhöhle – nie Dekor, nie wie zweckmäßig aus Regiehand hineingeträufelt, immer mit höchstmöglicher Konsequenz aus dem Herz des Filmes, seiner Figuren emporsteigend.

Ein Kaleidoskop gegensätzlichster Eindrücke, Gegenwart und übermächtige Vergangenheit penibel separiert – fahler Glanz von Gras, Herbstlaub, müde den eigenen verheißenden Sonnenstrahlen gar hier. Lediglich anders, satter nuancierte Aufnahmen desselbigen dort im Schoße der Rückblenden, die sich rein über diesen Weg aus dem treibenden Fluß des Filmes, der Zeit in diesem wieder herauslösen lassen. Wo es bei anderen Filmemachern sich abwechselnde Schemata sind, genügen D’Amato winzigste Verschiebungen allein der Farbtemperatur, um den Tonfall seiner Szenen zu beeinflussen, die bemerkenswerte räumliche Kontinuität zwischen beiden Zeitebenen gemeinen Handlungsorten bezeugt es. Wie sich das zurückhaltende, nie so wirklich ins Auge treffende Braun der venezianischen Häuserschluchten in das magischste, weil im Grunde eigenwillig-grellste sowie durch Gabriele Tintis die Komposition einnehmenden Pelzkragen weiter eskalierte des Kinos verwandelt, das sagt Profunderes, Allgemeingültigeres über den in der Gegenwart aufgezogenen Faschismus aus, als 10 Francesco-Rosi-Filme es zusammenaddiert könnten, als D’Amatos diffuses Hintergrundrauschen in den Dialogen es wollte.

Jede menschliche Emotion lässt sich in „Il piacere“ präzis aus dieser Technik ablesen, es braucht keinen ausufernden Dialog, keine Erklärungen wie auch immer gearteter Natur dafür. Über allem, nicht nur Tintis Leben, schwebt sie, die erstaunliche, zutiefst nahegehende letzte Ankleidung der Verstorbenen, die sich umgehend, fast sardonisch an den wohlweislich eiaculatio-praecox-verknappten Kennenlernsex des Auftaktes anschließen darf. Ausgehend von einem close up des frisch ergrauten, über dem Tonband mit später wieder und wieder durchexerzierten Erinnerungen brütenden Tintis breiten sich in der folgenden Totale des Totenbettes abfärbende Graustufen aus – der Anstrich der Wände, seine Kleidungsstücke, schmückender Erinnerungstand, ein einziges stumm aufschreiendes Grau in Grau zur melancholischen Musik Clusters. Es sind Szenen wie diese, die auch die letzten Zweifelnden überzeugen sollten: Joe D’Amato oder der ganz ähnlich als erotomanischer Tunnelblicker belächelte Jesús Franco, sie waren Regisseure, die – so unmöglich es auch ausfällt, diese Dinge abschließend in Worte zu kleiden – zumindest eine Ahnung davon vermitteln konnten, welch mannigfaltige Bedeutungen, Ambivalenzen das Wort „Begierde“ umfassen kann, beschreibt dieses eine ganzheitliche, das übermächtig Sexuelle gar transzendierende Anziehung. Das Innerste, es ist so viel mehr noch als Anlass zu Ekel oder Ejakulation.

Eingehüllt werden diese farblichen Versuchsanordnungen von entzückenden, im Rahmen der Inszenierung als natürlich anzusehenden Begrenzungen, oder Maskierungen in der Maskierung der Kinoleinwand, die vereinzelt den Eindruck historischer tableaux vivants erwecken, einzelne Bewegungsfolgen in sich isolieren, so akzentuieren. Andrea Guzons Kleiderprobe inmitten des fensterartigen Freiraumes zwischen monochromem Herrenbett mit Überdachung, Vorhängen wie exakt passender, regelrecht übergangslos einfließender Tapete – die Zuschauerschaft ist zum Mitspannen eingeladen. Die den Himmel zerkratzenden, alle Schlechtwettertrübungen von vornherein durch dichteste Verästelung aussperrenden Baumkronen über einer motorisierten Spätsommerspritztour. Schließlich und endlich die Kreisschließung von Publikums- Figurenspannereien kurzschließend – die Kinositze am untersten Bildrand vor den Gesichtern beim Besuch eines pornografischen Filmes. In diesem Schlüsselmoment verdichtet auf einen Raum: die ganze, mitunter zauberhafte Anziehungskraft des Sexfilmes. Wir und sie, sie und wir – austauschbar, gepresst in die Sitze eines Kinos, in dem der tiefblaue Glanz des Nitratfilmes abermals die Luft um die Gesichter einfärbt. Dann ein Perspektivwechsel, weg von den ob der gegenseitigen Betastungen erregten Gesichtern, hin zur Leinwand, fort von den Figuren und doch das langsam emporglimmende, orangefarbene Feuer ihrer verstohlenen Liebesakte auffangend – wie viele Menschen mögen es ihnen in einer Vorstellung von „Il piacere“ gleichgetan haben?

Doch D’Amato wusste nicht nur um die animierende Kraft der Leinwandhandlungen, sondern gleichermaßen um das sinnliche Potenzial des sie erst ermöglichenden Trägers und möglicherweise ist das auch die schönste Lehre, die es aus diesem so simplen wie verschachtelten Werk zu ziehen gilt: Des Kinos hintergründig-libidinösester Ästhet war ein bescheidener Schelm aus Rom, jemand, der sich sicher niemals einer kritischen Reevaluierung, einer aus cinephilem Feuer geborenen Wiederbespielung der Leinwände mit Kopien seines Œuvres aufgedrängt hätte und doch der Filmemacher, dessen Werk am unzertrennlichsten mit dem ihm angestammten Material verwoben scheint. Nie waren fachkundige 35mm-Projektionen derart integral für die Wirkkraft wie bei good old Joe – nur in ihrem Rahmen ist es punktgenau dort, wo es hingehört: jedes Kadragenfilament, jedes Farbtupferchen, alles … und noch viel mehr.

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Ursprünglich unter dem überwältigenden Eindruck einer Testsichtung des just behandelten Filmes geschrieben, geriet dieser Text wie von allein, oder – ganz passend – wie von Zauberhand mehr und mehr zur Feier des Materialästheten Joe D’Amato und damit unwillkürlich auch zum dringenden Hinweis auf eine der schon jetzt aufregendsten Retrospektiven des Jahres. Beim Filmarchiv Austria suhlt man sich am ersten, dem selbsternannten „Wild Weekend“ des Februars ausgiebigst in der Kraft seiner unnachahmlichen Bilder. Das ganze Programm und alle Infos zu Anfahrt, Ticketreservierung oder dem Archiv selbst finden sich auf der hauseigenen Webseite. Wir wünschen viel Vergnügen und allzeit gute Projektion für Publikum wie Veranstalter gleichermaßen!


Il piacere – Italien 1985 – 85 Minuten – Regie: Joe D’Amato – Produktion: Joe D’Amato – Drehbuch: Claudio Fragasso, Franco Valobra, nach einem Roman von Nicolas Restif de la Bretonne – Kamera: Joe D’Amato – Schnitt: Franco Alessandri – Musik: Cluster – Darsteller: Andrea Guzon, Gabriele Tinti, Lilli Carati, Dagmar Lassander, Laura Gemser u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, Januar 27th, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Festivals, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Hinweise veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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