Vorfreude (goes East), oder kurz: „λ = c / f“
Zuverlässig wie die Umstellung der Uhren kehrt jedes Frühjahr das goEast-Festival in Wiesbaden mit einer neuen Ausgabe zurück, um dem interessierten Publikum einen Einblick in das aktuelle Filmschaffen in Ost- und Mitteleuropa zu gewähren. Neben Sektionen wie dem Wettbewerb oder den Highlights, in denen Filme aus den letzten Jahren versammelt sind, ist auch diesmal wieder ein „Symposium“ (inklusive Filmreihe) dabei, ein von Eskalierende Träume besonders bevorzugter und gewürdigter Programmteil, auf den wir hier vorab einen genaueren Blick werfen wollen.
Ziel des Symposiums war es in den bisherigen Ausgaben oft, auf das zu Unrecht der Vergessenheit anheimzufallen drohende Filmschaffen einzelner Länder oder Gruppierungen, „Auteurs“ oder auch Studios aufmerksam zu machen, seien sie nun bemerkenswert durch ihren stilistischen und formalen Wagemut, ihre Ausbruchsversuche aus dem Korsett der filmischen Konventionen; durch die bewusste Abwendung vom bzw. kämpferische Opposition zum „staatlich Erwünschten“, ihre gesellschaftskritische Haltung – oder aufgrund anderer potentiell subversiver und als beispielhaft für die jeweilige Konzeption des Symposiums dienender Merkmale. Das gemeinsame und verbindende Element der jüngsten Ausgaben scheint vor allem, dass sie sich immer wieder um Ausgrabungen in Deutschland unbekannter oder (inzwischen) vernachlässigter Filme und FilmemacherInnen bemühen, sei es, weil sie bereits zur Entstehungszeit diesseits des sogenannten „Eisernen Vorhangs“ – wenn überhaupt – nur spärlich bzw. vereinzelt, d.h. in der Regel nur auf Festivals (oft mit zeitlicher Verzögerung) in Erscheinung traten. Sei es, weil sie durch die „westeuropäische Brille“ lediglich als „Epiphänomene“ internationaler Strömungen und Bewegungen wahrgenommen und kategorisiert worden sind, oder im Gegenteil (je nach Einzelfall vom Osten oder vom Westen) als „zu spezifisch“ und „zu hermetisch“ angesehen wurden, um international Verständnis oder Anklang finden zu können.
Wie dem auch sei – das goEast-Symposium bietet jedenfalls immer wieder aufs Neue die Gelegenheit, sich innerhalb eines verlängerten Wochenendes in die Tiefen spezifischer Filmgeschichten hineinzubegeben und erquickt und mit einem veränderten Blick aus ihren Strömen hervorzutauchen.
Nachfolgend also ein paar Überlegungen zum diesjährigen Symposium, sowie am Ende des Textes auch einzelne Hinweise auf bestimmte Filme und Filmemacherinnen der anderen Sektionen, die wir ebenfalls noch hervorheben möchten.
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Nouvelle Vague Polonaise? – was einem beim Lesen der diesjährigen Symposiums-Headline unweigerlich auffällt, ist das Satzzeichen am Ende, welches einen geneigt machen könnte zu glauben, es handele sich hierbei um eine vorsichtige, hypothetische Formulierung, womöglich einen bloßen „Arbeitsbegriff“. Und in der Tat: wirft man etwa einen Blick in eine Publikation wie Sean Martins vor zwei Jahren erschienenen Übersichtsband „New Waves in Cinema“, so findet sich dort etwa neben einzelnen Kapiteln zur „French New Wave“ oder der „British New Wave“ zwar auch ein Kapitel zur „Czech New Wave“, jedoch keines zu einer (mit diesen lange schon etablierten und allgemein anerkannten historischen Erscheinungen korrespondierenden) „Polish New Wave“.
In der zeitgenössischen westeuropäischen Kritik allerdings tauchte durchaus ab und an ein solcher Terminus auf, um etwa die ersten Filme von Roman Polanski oder Jerzy Skolimowski zu beschreiben und sie den „Wellen“ in anderen west- wie osteuropäischen Ländern deskriptiv anzunähern. Dafür in Anschlag gebracht wurden die inhaltlichen wie formalen Charakteristika der dort entstandenen Werke, ihr spielerischer oder offen ablehnender Umgang mit filmsprachlichen Konventionen oder ihre kritische Haltung zu Staat und Gesellschaft. Und auch wenn sich ihr Blick auf die je eigene Gesellschaft und deren Missstände richtete, schienen die daraus resultierenden Zielsetzungen doch durchaus universalisierbar: die Verurteilung staatlicher Willkür, die Bloßstellung bürgerlicher Bigotterie und die Widerspiegelung der kafkaesk anmutenden Ver(w)irrungen der modernen Bürokratie.
Mag der der Grund dafür das Ausbleiben einer „öffentlichkeitswirksamen Solidarisierung“ der in Frage kommenden Filmemacher (etwa in Form eines Manifests) oder die zu verschieden erscheinenden Werdegänge der potentiellen Protagonisten einer solchen filmischen Bewegung gewesen sein; vielleicht schienen ihre filmischen Ausdrucksweisen auch zu idiosynkratisch einerseits, zu gefällig andererseits, ihr filmisches Schaffen zu unstet oder ihr Einfluss auf nachfolgende Generationen von Filmemachern zu „punktuell“, um ihre Werke unter dem Label einer „Polnischen Neuen Welle“ zu subsumieren. Jedenfalls sucht man in den „Annalen der Filmgeschichtsschreibung“ bis heute (wenige Ausnahmen in jüngerer Zeit nicht eingerechnet) meist vergeblich nach einem solchen Schlagwort.
Vielleicht auch deshalb, weil das polnische Filmemachen nach dem Zweiten Weltkrieg bei genauerer Betrachtung oft als ein durchgehender und immer wieder auf sich selbst bezugnehmender Strang respektive eine zunehmend komplexer werdende „Einheit“ erschienen ist, wodurch der große Umbruch einer Neuen Welle keinen eindeutigen Platz, keinen historischen Ort zu haben schien – mit einem (durch eben diesen Bruch) klar geschiedenen Davor und Danach, einem Dafür und Dagegen. Stattdessen haben sich die Bezeichnungen verwandter Entwicklungen etabliert, etwa die sogenannte „Polnische Schule“ um Regisseure wie Wajda, Munk oder Kawalerowicz Ende der 1950er Jahre, oder später dann das „Kino der moralischen Unruhe“ ab den 1970er Jahren, mit Vertretern wie Kieslowski, Zanussi und Holland (und natürlich erinnern wir uns auch bei diesen beiden Strömungen nur an die hierzulande bekanntesten Namen). Oder man findet gänzlich andere Kategorisierungsversuche, abstraktere wie auch spezifischere, zum Beispiel spätere Bezeichnungen wie das „Young Cinema in Poland“ (in Bordwells „Film History“) oder die aus der zeitgenössischen polnischen Filmkritik stammende Periodisierung in ein „Erstes“, „Zweites“ und „Drittes Kino“ (trecie kino polskie nannte der Filmkritiker Jerzy Plazewski damals u.a. die Filme Skolimowskis, die sich nicht mehr der „Polnischen Schule“ zurechnen ließen). Und was, wenn das polnische Kino in den 1950ern womöglich den zahlreichen „Neuen Wellen“ um 1960 bereits zuvorgekommen war und die Vertreter der „Polnischen Schule“ oder der „Schwarzen Serie“ bereits in größerem Umfang das geleistet hatten, was in vielen anderen Ländern erst später zum Vorschein kommen sollte, also quasi avant la lettre?
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Ein wesentlicher Impuls für das Wiederaufkeimen der Frage nach Sinn oder Unsinn einer solchen Zuschreibung als Klammerbegriff für eine (mehr oder weniger eng begrenzte) Menge von Filmen und FilmemacherInnen war eine von Łukasz Ronduda und Barbara Piwowarska kuratierte Filmschau (angeregt und begleitet von einer theoretischen Auseinandersetzung in Form von Texten und einleitenden Vorträgen), die 2008 in Warschau reüssierte, bevor sie dann u.a. 2009 in der Tate Modern in London und 2011 auch im Kino Arsenal in Berlin Station machte – und für Diskussionsstoff sorgte. Der bezeichnende Titel dieser Unternehmung: „Polish New Wave: The History of a Phenomenon that Never Existed”. Eine wesentliche Fragestellung war dabei, inwieweit die schwierigen Arbeitsbedingungen im damaligen Polen das Entstehen einer solchen „Welle“ nachhaltig erschwerten, ja verhinderten. Etwa dadurch, dass die finanziellen wie politischen (etwa durch Zensur oder gar Verbot ausgeübten) Beschränkungen Filmemacher wie Skolimowski (in Stil, Haltung und Sujet anderen „Wellen“, v.a. der französischen, sicherlich am nächsten), Zulawski (weitaus „eigenbrötlerischer“) und (am prominentesten und erfolgreichsten) Polanski ihr Glück bzw. Arbeitsmöglichkeiten im Ausland suchen ließen, verlockt durch lukrative Angebote aus Westeuropa oder USA und die (zumindest dort vermutete) größere Ausdrucksfreiheit. Wo immer die genauen Ursachen für das Ausbleiben einer ebenso gesellschaftlich wie künstlerisch wirkmächtigen Bewegung zu suchen sein mögen; der Versuch einer Annäherung fällt in einem lesenswerten Überblicksartikel zur damaligen Veranstaltung in London von Michael Goddard folgendermaßen aus:
„the Polish New Wave was never able to have a continuous, stable development but was rather evident in a number of individual cinematic projects occurring over an extended period of time, the contours, definition and limits of which are still subject to debate.“
Ebenso interessant wie streitbar an Rondudas und Piwowarskas Neuansatz ist ihre grundlegend ahistorische Begriffsbestimmung, die anstatt eine klare historische Eingrenzung (Vertreter, Vorläufer, Folgen, etc.) zu leisten, eher wie eine (diffuse) Ausweitung anhand stilistisch-formaler Kriterien anmutet, nehmen sie die „Polnische Neue Welle“ doch in Anspruch
„als Überbegriff für eine Reihe polnischer Dokumentar- und Spielfilme […], die in den letzten 40 Jahren entstanden sind, sich den traditionellen Filmformen kategorisch verweigern, formal radikal neue Wege beschreiten und in der Schnittmenge zwischen zeitgenössischer Kunst und Kino anzusiedeln sind.“ (aus dem Begleittext zur Reihe im arsenal-Kino)
So geben sie auch als Anlass für ihre Neubestimmung SUMMER LOVE von Piotr Uklański aus dem Jahr 2006 an, d.h. das Spielfilmdebüt eines bildenden Künstlers, das die NY Times anlässlich seiner Aufführung im Whitney Museum of American Art als „the first deconstructed art western“ zu umschreiben suchte (ein kurzer Eindruck hier). Angesichts einer solchen terminologischen Offenheit wirkt das Filmprogramm der Veranstaltung im arsenal-Kino zeitlich und hinsichtlich der auftauchenden Namen allerdings erstaunlich geschlossen, ließe eine derartige Definition neben etwa der Berücksichtigung ästhetisch wagemutiger Werke aus den letzten Jahrzehnten durchaus auch die Eingemeindung anerkannter „alter Hasen“ zu, die in einzelnen Werken „über die Stränge schlugen“ und formal neue Wege einschlugen, wie etwa Has und Kutz. Andererseits wiederum scheint eine solche Bestimmung RegisseurInnen auszuschließen, die inhaltlich zwar durchaus kritische Töne anschlugen, formal aber eher in konventionellen Bahnen verblieben.
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Wie auch immer… Wirft man nun einen kurzen Blick auf das begleitende Filmprogramm des Wiesbadener Symposiums, in dem sich neben einem (zumindest hinsichtlich der Entstehungszeit) relativ geschlossenen Korpus von Kurz- und Spielfilmen, die zwischen 1958 und 1972 entstanden sind, auch ein Film wie HUBA von Anka Sasnal und Wilhelm Sasnal aus dem Jahr 2014 findet, könnte man hinter dem von Dr. Margarete Wach geleiteten Symposium eine durchaus vergleichbare Neubestimmung vermuten (zumal in dem von ihr mitherausgegebenen, überaus umfangreichen und lesenswerten Buch Der Polnische Film. Von seinen Anfängen bis zur Gegenwart ein Kapitel den Zusatz „Über eine Neue Welle, die es vielleicht nie gab“ trägt). Dennoch legen neben der Auswahl der Filme die Themen der einzelnen Vorträge sowie der Untertitel der Veranstaltung, in der von einer Suche nach einem flüchtigen Phänomen der Filmgeschichte (interessanterweise scheint dieses „Phänomen“ in der englischen Übersetzung ein weniger ephemeres zu sein) die Rede ist, eine doch eher retrospektiv-historische Verortung dieser Nouvelle Vague Polonaise nahe – wenn auch, wie gesagt, mit einem Fragezeichen versehen. Genaueren Aufschluss über die dem Symposium zugrundeliegenden Überlegungen wird wohl erst der ausführlichere Katalogtext oder auch der Eröffnungsvortrag von Wach bringen. Danach wird es noch weitere „Lectures“ namhafter Experten zum Thema geben, darunter neben Vorträgen, die sich dem Phänomen und dessen Bestimmung widmen auch welche über „Gender-Bilder im polnischen Kino der 1960er und 1970er-Jahre“ oder die „Kultfilme“ von Marek Piwowski und Janusz Kondratiuk (von dem in Wiesbaden leider kein Film im Programm vertreten ist, von dessen absurdem Humor man sich jedoch hier und hier einen Eindruck verschaffen kann; letzterer ohne UT, dafür von Goddard ausführlicher beschrieben).
Interessant aus jetziger Perspektive sind überhaupt die Überschneidungen mit aber auch Abweichungen von der Ronduda/Piwowarska-Reihe. So haben letztere wohl bewusst auf Polanskis Debüt-Spielfilm DAS MESSER IM WASSER (1961) verzichtet, der aus heutiger Sicht, wenn auch formal brillant, so doch vor allem im Vergleich zu seinen Kurzfilmen davor vergleichsweise konventionell (sprich: „westeuropäisch“) erscheint, damals jedoch viele Kritiker von den Anzeichen einer „Neuen Welle“ sprechen ließ, die in der beengenden, existenzbedrohenden Situation auf dem Boot oder im Schlussdialog im Auto eine (allegorisch bzw. als Parabel verkleidete) Widerspiegelung der (zumindest unterschwellig gärenden) Konflikte in der polnischen Gesellschaft sahen – wenn auch zuweilen unter streitbaren, „marktwirtschaftlichen“ Vorzeichen.
Am Drehbuch war neben Jakub Goldberg auch Jerzy Skolimowski (verantwortlich für die Dialoge) beteiligt, von dem neben dessen Debüt-Spielfilm BESONDERE KENNZEICHEN: KEINE (1964) dankenswerterweise auch die nachfolgenden in Polen (und nicht im Ausland) entstandenen Filme WALKOVER (1965), BARRIERE (1966) und der gleich nach der Fertigstellung verbotene HÄNDE HOCH (1967, hier in der Fassung von 1981) zu sehen sein werden. Über die ersten beiden Filme schrieb Ulrich Gregor im Jahr 1978 in seiner Geschichte des Films ab 1960:
„Beide Filme beeindrucken weniger durch ihr manifestes Geschehen als vielmehr durch die Summe der kleinen Beobachtungen am Rande; in ihnen artikuliert sich ein Klima, ein Geisteszustand. Sie erwecken den Anschein, als ob das Leben unter unseren Augen entsteht.“
Das Flüchtige, Beiläufige der Inszenierung weicht bereits in BARRIERE mehr und mehr einer poetischen, symboli(sti)schen Bildsprache, die in HÄNDE HOCH dann vollends überhand nimmt, wo die Bilder nicht mehr für sich selber stehen sondern stets auf Anderes verweisen, immer (auch) Anderes verhandelt wird als das je konkret Sicht- und/oder Hörbare.
Mit dem eher poetisch-kontemplativen DAS LEBEN DES MATTHÄUS (1967) von Witold Leszczyński ist ein weiterer Debütfilm zu sehen, der zwar ebenso wie Polanskis MESSER als polnischer Kandidat für den Auslands-Oscar nominiert war, dem aber (womöglich) der große internationale Durchbruch verwehrt blieb, als/da die nicht mehr ganz so jungen Wilden der französichen Nouvelle Vague im Mai 1968 Revolution (mit)spielten und aus Solidarität mit den protestierenden Arbeitern und Studenten kurzerhand das Festival in Cannes abbrachen – wo Leszczynskis Film seine westeuropäische Premiere feiern sollte (ein Schicksal, das er u.a. mit Jancsós STERNE AN DEN MÜTZEN und Jan Nemecs ÜBER DAS FEST UND SEINE GÄSTE teilte). Ebenso wie Polanski oder Skolimowski verließ Leszczyński bald das Land in Richtung Westen, u.a. Belgien, Dänemark und Schweden. Frankreich hingegen war die spätere Wahlheimat eines weiteren Emigranten, der nach dem Verbot seines zweiten Films, TEUFEL (1972), vorübergehend das Land verließ um ebendort mit Romy Schneider den (wie es so schön heißt) „Skandalerfolg“ NACHTBLENDE (1974) zu drehen: Andrzej Zulawski, einer der Säulenheiligen des Eskalierende Träume-Universums. Außer TEUFEL wird (wiederum, wenig überraschend, ein Spielfilmdebüt) DER DRITTE TEIL DER NACHT von 1971 in Wiesbaden laufen.
Verzichtet wurde leider auf die Übernahme von Zulawskis Science-Fiction-Ruine DER SILBERNE PLANET (1976,1988), der auf der legendären Romantrilogie seines Großonkels Jerzy Zulawski basiert und den er nach langen Kämpfen mit Politik und Produktionsfirma für gescheitert erklärte (worüber er im Off-Kommentar zu Beginn und Ende der rekonstruierten Fassung Auskunft gibt). Bei Goddard kann man auch einige Zeilen darüber lesen, worauf wir in Wiesbaden verzichten müssen, stellte für ihn dieses Stückwerk doch immerhin „the high point of the entire weekend“ dar. Was aber das Vergnügen an den anderen im Rahmen des Symposiums zu sehenden Filmen keinesfalls schmälern soll, die zudem bis auf wenige Ausnahmen auf gutem, altem Zelluloid und nicht in Pixelform zu bestaunen sein werden – heutzutage ein leider immer selteneres Vergnügen.
Desweiteren werden mit STRUKTUR DES KRISTALLS (1969) und ILLUMINATION (1972) noch digitale Rastaurierungen zweier Filme von Krzysztof Zanussi zu sehen sein, sowie der Kultfilm DER AUSFLUG (1968) von Marek Piwowski, der sich dortzulande zu einem wahren Phänomen und inzwischen vielleicht zu dem prägenden filmischen Werk der „sozialistischen“ Periode Polens entwickelt hat, obwohl er nach seiner Fertigstellung erst 1970 in einer stark gekürzten Fassung in wenigen Kinos seine Uraufführung erlebte. Diese Kurzfassung, die leider bis heute als einzig erhaltene Version des Streifens gilt, hat jedoch soviel beißenden Spott zu bieten, dass sich wohl die alte Regieweisheit bewahrheitet, laut der man möglichst viele kontroverse Szenen drehen solle, damit nach den Schnittauflagen wenigstens einige (und manchmal auch die für den Filmemacher entscheidenenden) Szenen im Film erhalten bleiben und die hierzulande vor allem Alois Brummer regelmäßig zu befolgen schien.
Von Grzegorz Krolikiewicz war vor ein paar Jahren sein TANZENDER HABICHT (1977) im Rahmen der zunächst auf der Berlinale zu sehenden und danach durch das ganze Land reisenden, überaus entzückenden Reihe „Winter adé – Filmische Vorboten der Wende“ zu bestaunen gewesen. DURCH UND DURCH lautet der Titel seines Anfang der 1970er Jahre entstandenen außergewöhnlichen Films, der nun auf dem GoEast zu sehen sein wird. Krolikiewiczs theoretische Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium, seine Nähe zur damaligen polnischen „experimententellen Filmszene“ rund um den Warsztat Formy Filmowej („Film Form Workshop“, mehr dazu hier), zu Filmemachern wie Jozef Robakowski (vgl. hier und hier, oder auch hier) and Zbigniew Rybczynski (siehe hier und hier), ist in DURCH UND DURCH deutlich spür- bzw. sichtbar, der dem Zuschauer einiges abverlangt, ohne jedoch in reine formale Spielerei abzugleiten. Bleiben dessen „visuelle Extravaganzen“ doch durchweg narrativ eingebettet, etwa wenn es darum geht, die nervliche Anspannung, die emotionale Aufruhr der beiden Protagonisten ins Bild respektive in Bildform zu bringen, in Bilder zu übersetzen. Außerdem zu sehen: zwei seiner kürzeren Arbeiten, JEDEM, DAS WAS ER GAR NICHT BRAUCHT (1966) und WEINE NICHT (1972), als Vorfilme.
Ach ja, genau, die Vorfilme. Sie unerwähnt zu lassen wäre zweifellos eine Sünde, diese jedoch sicher nicht wert. Es laufen noch: Polanskis WIR WERDEN DIE PARTY SPRENGEN (1957), ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK (1958), DIE LAMPE (1959), und SÄUGETIERE (1962), Skolimowskis STECHE DAS AUGE AUS (1960), HAMLETTCHEN (1960) und EROTIKON (1961), Piwowskis EIN ABTEIL FÜR 100 UND MEHR PERSONEN (1965), DER FLIEGENTÖTER (1966) und KIRK DOUGLAS (1966), sowie Zanussis TOD DES ABTES (1965), Wojciech Wiszniewskis HERZINFARKT (1967) und Bogdan Dziworskis SKISZENEN MIT FRANZ KLAMMER (1980).
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Aber wie Anfangs erwähnt, gilt es nicht nur die Filme des Symposiums (neu) zu entdecken, sondern auch auf einige der zahlreichen anderen filmischen Kostbarkeiten hinzuweisen, womit wir nun bei den weiteren (teils ebenfalls historischen, teils aber auch neueren) Schätzen dieses Festivaljahrgangs angelangt wären.
Zum einen wäre da besonders die Filmschau des nationalen Filmarchivs von Bosnien und Herzegowina hervorzuheben, die am Montag, dem 14. April um 14 Uhr ein rund eineinhalbstündiges Programm aus sieben Filmen präsentieren wird, die zwischen 1937 und 1978 im ehemals jugoslawischen Gebiet entstanden sind. Aufgrund der kurzen Filmtexte im Programmheft erwartet uns wohl ein Streifzug durch ein nahezu unbeachtetes Kino zwischen Experiment und Dokument, das nicht nur aufgrund seiner Seltenheit den versteckten Höhepunkt des diesjährigen goEast-Programms markieren dürfte. Alle Filme werden in Anwesenheit der stellvertretenden Archivleiterin Devleta Filipovic in Form von 35mm-Kopien aus dem Bestand des Filmarchivs vorgeführt.
Einen weiteren Programmhöhepunkt, auf den wir uns fast genauso freuen, stellt die 35mm-Projektion von Miklos Jancsos STILLE UND SCHREI (1968) am Freitag, dem 11.04. um 14 Uhr im Caligari-Kino dar. Jancso, dem durch eine kleine Werkschau große Aufmerksamkeit auf dem letztjährigen goEast zuteil wurde, ist vor einigen Monaten leider verstorben. Warum wir damals zu fast jedem seiner Filme ins Murnau-Kino gepilgert sind, wird man bei der Vorführung dieses selten gezeigten Werkes aus seiner prominentesten Schaffensphase vermutlich schnell herausfinden können. Für uns bleibt Jancso ein prägender und epochaler Filmemacher, dessen Filme es immer wieder anzusehen lohnt.
Ebenfalls 2013 verstorben sind der Slowake Peter Solan, dem leider weder eine vergleichbare internationale Bekanntheit noch eine ähnlich lange anhaltende filmische Produktivität bis ins hohe Alter wie Jancso vergönnt war, sowie der kontroverse und in seinem Heimatland zeitweise über die Maßen populäre Aleksei Balabanov, dessen Filme bei goEast zuletzt regelmäßig zu sehen waren. Von Solan läuft VOR DEM ENDE DER NACHT (1965) ein Werk des Prager Frühlings und aus Solans Hochphase, das in der Slowakei (neben weiteren seiner Filme) auch in guter Qualität auf DVD (mit englischen Untertiteln) erschienen ist. Vom jung verstorbenen Balabanov wird sein letzter Film ICH WILL AUCH (2012) gezeigt.
Für was könnten wir außerdem noch Zeit haben? Das diesjährige goEast-Porträt ist der noch vergleichsweise jungen Malgorzata Szumowska gewidmet, deren Schaffen wir vermutlich deshalb zum ersten Mal begegnen werden, da die Hälfte ihrer gezeigten Filme ebenfalls von glänzend flimmerndem Filmmaterial vorgeführt und teilweise zeitlich direkt vor den Symposiumsfilmen im Wiesbadener Murnau Filmtheater zu sehen sein wird.
Und um die Geduld unserer geneigten Leserschaft nicht allzu sehr zu strapazieren (und um keine Erwartungen zu wecken, die nachträglich womöglich enttäuscht werden könnten), hier nur noch ein paar kurze Hinweise zu weiteren aktuellen (sprich: uns noch unbekannten) Filmen im Programm:
Interessant im Wettbewerb auf jeden Fall wiederum ein polnischer Beitrag, der mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern und seinem Jazz-Score und nicht nur aufgrund seiner Thematik, die weit in die (Un)Tiefen des Zwanzigsten Jahrhunderts führt, einen „Retro-Touch“ vermuten lässt, weshalb sich von Pawel Pawlikowskis Roadmovie IDA (2013) womöglich interessante Verbindungen zu den Symposiumsfilmen herstellen ließen. Spannend sicherlich auch wieder die rumänischen Beiträge, die – glaubt man dem Programmtext – dennoch sehr unterschiedlich geartet sind. Während Andrei Gruzsniczki in QUOD ERAT DEMONSTRANDUM (2013) formstreng die Gewissensnöte und Aporien schildert, in die sich die Bevölkerung unter der Fuchtel Ceausescus tagtäglich gestürzt sah, wirft Corneliu Porumboiu spielerisch (im Geiste von Truffauts AMERIKANISCHER NACHT von 1973 und anderer „Metafilme“) einen Blick hinter die Kamera, stellt sehr direkt und schonunslos den Prozess des Filmemachens selbst, die Strapazen, Kämpfe und (amourösen) Verwicklungen vor, nach und zwischen den eigentlichen Dreharbeiten in den Vordergrund – und uns auf der Leinwand vor Augen.
Doch schon bereits gesehen und für gut befunden (da sehr unterhaltsam) ein weiteres polnisches Roadmovie, VATER UND SOHN MACHEN EINE REISE (2013), in dem sich Vater und Sohn (Marcel und Pawel Lozinski) auf den Weg von Warschau nach Paris machen, beide keine Unbekannten, beide ihres Zeichens Filmemacher. Die Reise im Campingbus führt nicht nur quer über Kontinentaleuropa, von Ost nach West, sondern auch tief in die eigene familiäre Vergangenheit und erweist sich durchaus als Belastungsprobe für die Beziehung der beiden, wenn sich etwa der Vater auf engstem Raum mit den offen ausgesprochenen Vorwürfen des Sohnes konfrontiert sieht. [Kleine Randnotiz: wer nun eigentlich für die Regie bei dieser sehr persönlichen Versuchsanordnung verantwortlich zeichnet, scheint etwas unklar. Während im Programmheft der Vater genannt wird, scheint mir doch eher die Angabe bei DOK Leipzig zu stimmen, die den Sohn als Regisseur und Produzent anführt – wirkt dieser doch wie die (an)treibende Kraft, stellt er gewissermaßen den Vater vor laufender Kamera zur Rede. Allerdings differieren auch Titel und Zeitangaben. Und darüberhinaus finden sich auch bei imdb diesbezüglich widersprüchliche Angaben, je nachdem unter welchem Namen man nachschlägt… oder haben die beiden womöglich jeweils ihren eigenen Film aus dem Material montiert? Nun, verbuchen wir es der Einfachheit halber und ohne besseres Wissen als gemeinsames Projekt – so wie diesen Text!]
Abschließend noch der Hinweis auf Andrey Silvestrovs HIRN von 2009 in der „Beyond Belonging“-Reihe – der (Augenzeugenberichten zufolge) tatsächlich so etwas wie einem Blick ins Hirn gleicht und sich mit Worten gar nicht beschreiben lässt, weshalb wir dieses verbale Glatteis hier erst gar nicht betreten werden – und auf den neu hinzugekommenen Wettbewerb für Experimentalfilm und Videokunst, dessen GewinnerIn den sogenannten „Open Frame Award“ mit nach Hause nehmen und sich ins Wohnzimmer oder Küchenregal stellen kann – wir sind gespannt!
Soll das etwa alles gewesen sein? Mitnichten, denn das goEast-Festival lädt auch dieses Jahr vor allem dazu ein, seine eigenen Entdeckungen zu machen, und sich aus dem vielschichtigen aber dennoch nicht überladenen Angebot auf Wunsch die Rosinen herauszupicken, die im Ganzen erst die entscheidende (für jeden anders geartete) Geschmacksnote verleihen, um die 7 Tage erneut verdammt einzigartig zu machen. Und vielleicht sind das bei dem ein oder anderen neben den Filmen, vor allem die Menschen, die man dort trifft und mit denen man die Festivalplätze durchstreift und die goEast-Tage verbringt.
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Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Filmfestivals goEast. Hyperlinks verweisen an entsprechender Stelle auf den Ursprung der zitierten Passagen.
Sonstige Quellen:
Gregor, Ulrich: Geschichte des Films ab 1960 – Band 4 : Osteuropa, Lateinamerika, Afrika, Asien, Australien, Nordamerika. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Taschenbuch, 1983.
Habe den Text noch um ein paar Hinweise ergänzt und glattgebügelt. Weitere (fundierte und zivilisierte) Hinweise, Ergänzungen, spontane Affektäußerungen oder womöglich auch Richtigstellungen in Kommentarform sind wie immer erwünscht, ja sogar gestattet – als Bereicherung unseres Dienstleistungsangebots! Und nein: wir wurden für diesen Artikel entgegen anderslautender Gerüchte (noch) nicht bezahlt! 😉
(Editiert von Sano)
Noch zwei, drei Ergänzungen/Korrekturen (to whom it may concern):
Zur „Causa Lozinski“: es handelt sich tatsächlich um ZWEI Filme, der eine vom Sohnemann, der andere vom Herrn Papa. Beides nach einer Idee und produziert von Pawel Lozinski, hier lag ich also richtig… kompletter Titel des Films von Papa Marcel: FATHER AND SON ON A JOURNEY – THE FATHER’S CUT!
Und „formstreng“ trifft natürlich viel eher auf Porumboius METABOLISM als auf Gruzsniczkis Film zu (der doch vergleichsweise konventionell geraten ist, wenn auch nich à la Hollwood wie etwa DAS LEBEN DER ANDEREN)… und der Truffaut-Bezug auch nicht wirklich passend (abgesehen von dessen Liebschaften mit seinen Darstellerinnen)… ist tatsächlich doch eher den Filmen Hong Sang-Soos verwandt (die er meines Wissens auch in Interviews als Inspiration genannt hat) – abgesehen davon, dass hier VIEL weniger gesoffen wird… womöglich sind mir deshalb auch die „Originale“ von Hong dann doch lieber/näher. 😉 Und einem seine Alter ego-Figuren schlussendlich (d.h. am Ende) meistens auch, wenn sie sich zuvor auch noch so zum Horst gemacht haben… Bei Porumboiu ist das (zwangsläufig?) alles viel unterkühlter, ja nun, „nüchterner“… mehr Kopf als Bauch…