Ecce homo oder Der nackte, tanzende Mensch –
Hommage an Miklós Jancsó bei goEast 2013



 

Miklós Jancsó, 2009

 

Einer der Höhepunkte für den filmhistorisch interessierten Besucher der diesjährigen Ausgabe des goEast-Festivals, das heute Abend in Wiesbaden feierlich eröffnet wird, ist sicherlich das Symposium, welches sich unter dem Titel BRIGHT BLACK FRAMES – DER NEUE JUGOSLAWISCHE FILM ZWISCHEN SUBVERSION UND KRITIK der sogenannten „Schwarzen Welle“ widmet. Zeitlich eingegrenzt durch die Jahre 1963 und 1973 feiert jenes „Goldene Zeitalter“ des jugoslawischen Films somit dieses Jahr seinen 50. Geburtstag. Doch anstatt, wie es auf der Website des Festivals zu lesen steht, „mit wehmütigem Blick die Pracht des sozialistischen Kinos wieder zu beleben, möchte das Symposium vielmehr die politisch-ästhetischen Besonderheiten dieser sehr heterogenen Filmszene nachzeichnen und das spezifisch ‚Schwarze‘ in der Schwarzen Welle erkunden. […] Das Symposium führt ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen zusammen, erkundet sowohl die Entstehungsgeschichte als auch persönliche Erinnerungsräume und präsentiert Filmklassiker sowie Neuentdeckungen der jugoslawischen Schwarzen Welle“. Da meine Kenntnisse dieser überaus spannenden Periode des jugoslawischen Kinos leider eher begrenzt sind, möchte ich es hier jedoch bei einem Verweis auf das genaue Programm bewenden lassen und stattdessen mein Augenmerk etwas näher auf einen weiteren Höhepunkt des Festivals richten, sprich: die Hommage, die dieses Jahr dem ungarischen Regisseur Miklós Jancsó gewidmet ist.

Begonnen hat die Filmkarriere dieses 1921 in Vác geborenen Großmeisters der Plansequenz in den 1950ern mit Dokumentationen und Wochenschau-Beiträgen, die unter ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten vielleicht nicht allzu interessant oder aufschlussreich in Hinsicht auf sein späteres Schaffen sein mögen. Sie gaben ihm aber einerseits die Möglichkeit, sich mit der technischen Seite des Filmhandwerks vertraut zu machen, andererseits mit der Realität im stalinistischen Ungarn der 1950er Jahre, was seinen Blick auf die unheilvolle Geschichte des eigenen Landes sicherlich geschärft hat.

In den 1960er Jahren, der „Zeit der Regisseure“ (István Nemeskürty), trat mit den ersten Absolventen der nach dem Krieg geschaffenen Filmhochschule, eine neue, jüngere Generation von Regisseuren in Erscheinung, die nun, nachdem sie wie Jancsó zunächst als Dokumentarfilmer oder als Assistenten bei ‚Altmeistern‘ wie Zoltán Fábri oder Zoltán Varkonyi beschäftigt waren, die Chance bekamen, ihre ersten Spielfilme zu drehen. Hier wären u.a. Namen wie Károly Makk oder Péter Bacsó zu nennen. Danach folgte mit dem Abschluss-Jahrgang 1962 die sogenannte Generation des Béla-Balázs-Studios, der u.a. István Szabó angehörte. Aber zurück zu Jancsó.

Nicht in Wiesbaden zu sehen sind dessen erste beiden Spielfilme, DIE GLOCKEN GINGEN NACH ROM (A harangok Rómába mentek) von 1958 und CANTATA PROFANA (Oldás és kötés) von 1962. Während ersterer bei Publikum wie Kritik offenbar wenig Beachtung fand und ihn Jancsó selbst rückblickend als künstlerischen Fehlschlag verwarf, wurde CANTATA zumindest im Ausland (vor allem in Italien) positiv aufgenommen und nimmt stilistisch bereits einige Merkmale der späteren Meisterwerke vorweg. Jancsó schildert darin, Michail Romms im gleichen Jahr entstandenem NEUN TAGE EINES JAHRES (9 dney odnogo goda) nicht unähnlich, die Krise eines Intellektuellen, der sich auf den Weg in die Heimat macht, um seinen kranken Vater zu besuchen, wobei die Reise jedoch mehr und mehr zu einer Reise ins Innere, in die eigene Vergangenheit wird.

Im Folgenden ein paar Hinweise zu den Filmen Janscós, die in Wiesbaden während des Festivals auf 35mm(!) gezeigt werden.

 

SO KAM ICH
(Így jöttem) 1964

Auch SO KAM ICH (Így jöttem, 1964) fand international bereits einige Beachtung (vor allem in der Sowjetunion, wo zwei Jahre zuvor Tarkowskij mit IWANS KINDHEIT auf seine eigene, idiosynkratische Weise auf das Kriegsgeschehen zurückgeblickt hatte). István Nemeskürty (der, nebenbei bemerkt, diesen Film sowie die beiden nachfolgenden Jancsó-Filme produziert hat) fasst in WORT UND BILD, seiner Geschichte des ungarischen Films, den Inhalt wie folgt zusammen: „Der Held dieses Films ist ein junger Student, der sich im Frühling 1945 an der Westfront Ungarns herumtreibt und mehrmals von sowjetischen Soldaten aufgegriffen wird. Nach seiner Gefangennahme muß er einem gleichaltrigen, schwer verwundeten sowjetischen Soldaten helfen, der sich, da er keine Arbeiten verrichten kann, um die Kühe zu kümmern hat. Gelegentlich kommt ein Lastwagen vorbei, um die Milch zu den Verwundeten ins Feldlazarett zu bringen. Allmählich lernen die Jungen einander kennen und werden Freunde. Dieses langsame Überwinden des gegenseitigen Mißtrauens ist das Hauptthema des Films. […] Den Film kennzeichnen außerordentlich suggestive Bilder und ein sehr straffer, knapper Aufbau, der vom Zuschauer hohe Aufmerksamkeit fordert“ (S. 251).

 

DIE HOFFNUGSLOSEN / DIE MÄNNER IN DER TODESSCHANZE
(Szegénylegények) 1965

Der eigentliche Durchbruch kam dann allerdings 1965 mit DIE HOFFNUGSLOSEN / DIE MÄNNER IN Der TODESSCHANZE (Szegénylegények), über den niemand Geringerer als Zoltán Fábri ausrief, dieser sei der „vielleicht beste ungarische Film, der überhaupt je gedreht wurde“. Dessen Handlung spielt in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, „als Garibaldi endlich die Unabhängigkeit Italiens von den Habsburgern und der päpstlichen Vorherrschaft erreicht hatte, und die herrschenden Klassen Ungarns einen Kompromiß mit den herrschenden Klassen Österreichs schlossen. […] Das Hauptziel der auf Konsolidierung bedachten ungarischen Regierung war die Herstellung der allgemeinen Sicherheit und Ordnung im Lande. Deshalb mussten die Opfer der raschen kapitalistischen Entwicklung, die Bauern und Landadligen, die ihr Land verloren hatten und sich vielfach zu Räuberbanden zusammengeschlossen hatten, unter Kontrolle gebracht werden. Dies war um so wichtiger, als sich auch aktive Teilnehmer der im Herbst 1849 niedergeschlagenen Revolution den Räuberbanden angeschlossen hatten. Die Beseitigung dieser politisch gefährlichen Elemente war ein Hauptanliegen der Regierung. So verfolgte die Gendarmerie des Grafen Gedeon Ráday, der in seiner Arbeit moderne Prinzipien der Fahndung und Kriminalistik anwandte, gleichzeitig gewöhnliche Kriminelle und politische Flüchtlinge aus der Revolution“ (Nemeskürty). Formal fühlt sich Istvan Nemeskürty, „soweit bei diesem so überaus eigenständigen Film ein Vergleich überhaupt zulässig ist“, interessanterweise an Bergman erinnert: „Festumgrenzte, geschlossene Szene, lakonischer Dialog, Motive für die Ereignisse und die Handlungen der Menschen werden dem Zuschauer bis zur Irreführung verborgen, sorgfältigste Komposition; die Bewegungen im Raum folgen Perspektiven, die sich  im unendlichen Horizont verlieren. Dies alles sind spezielle Züge einer modernen Regiemethode, wie sie besonders bei Bergman zu finden ist“ (S. 252).

In Amos Vogels „Film als subversive Kunst“ (immer noch eine wunderbare Fundgrube für längst dem Vergessen anheimgefallene Filmschätze) finden sich folgende Ausführungen, die in ihrer prägnanten wie bildhaften Sprache in aller Kürze immer noch mit zum Besten und Treffendsten gehören, was über Jancsó geschrieben worden ist und zudem deutlich machen, wie konsequent sich Jancsó an der Geschichte seiner ungarischen Heimat ‚abgearbeitet‘ hat:

„Jancsós thematisches Anliegen und visueller Stil sind persönlich und einzigartig. Eine unheilvolle Poesie – eine antiromantische, die die Wahrheiten des 20. Jahrhunderts widerspiegelt – durchzieht seine verzierenden Scharaden um unerbittliche Grausamkeit, Unterwerfung, Verrat und Unterdrückung, in denen Opfer und Herren ständig die Rollen tauschen und niemand unberührt bleibt von der Ausübung der Gewalt. Seit Die Hoffnungslosen, seinem besten Film, haben sich Jancsós stilisierte tragisch-epische Werke samt und sonders mit den Fragen der Macht und Unterdrückung abgegeben, in Bildern von einprägsamer plastischer Schönheit und Bildfolgen erbarmungslosen Terrors vor dem Hintergrund Unheil verkündender, leuchtender Landschaften in grausamstem Schwarzweiß. Es sind Sinnbilder für Wahrheiten, die besser indirekt ausgesprochen werden, und Aussagen eines angsterfüllten Humanisten, der verfolgt ist vom Problem des Totalitarismus, des Kriegs und der Verderbtheit der Macht.

Jancsó nimmt diese Themen leidenschaftlich wieder und wieder auf. Die Hoffnungslosen berichtet von der Gefangenschaft in einer teuflischen Falle und der Zerstörung durch psychische und physische Tortur einer Gruppe ungarischer Nationalisten des Jahres 1848, die sich gegen das Kaiserreich Österreich-Ungarn auflehnen, Die Roten und die Weißen von den endlosen gegenseitigen Grausamkeiten und Massakern des russischen Bürgerkriegs von 1919; Stille und Schrei über die Gefangennahme von Anhängern von Béla Kuns kurzlebigem Sowjetregime in Ungarn; Schirokko die Lebensgeschichte eines Mitglieds der Ustascha, einer kroatischen rechtsextremistisch-nationalistischen Vereinigung der frühen dreißiger Jahre, das an der Korruption in der Gruppe zugrunde geht.

Jancsós Stil – stets bündig, stilisiert und auf das Wesentliche vereinfacht – ist mit jedem Werk kraftvoller geworden, so sehr, dass er nunmehr weniger als fünfzehn Kameraeinstellungen, die auf ständige choreographische Bewegung bauen, für einen Film benötigt. Die scheinbare Einfachheit seines Werkes erweist sich als architektonische Genauigkeit und ideologisches Sinnbild; seine ‚Improvisationen‘ sind die eines besessenen Genies.“ (Vogel, S.179-181)

 

STERNE AN DEN MÜTZEN / DIE ROTEN UND DIE WEISSEN
(Csillagosok, Katonak) 1968

„In diesem sehr schön fotografierten, stilisierten Drama aus dem russischen Bürgerkrieg, einem der überraschendsten Werke aus den Oststaaten, sind weder die Roten noch die Weißen Stereotypen, und schlecht ist nur der Krieg. Es kommt nur wenig konventionelle Montage darin vor; der gesamte Film besteht aus langen, ungeschnittenen Einstellungen, in denen die Kamera sich in ständiger, gleichsam choreographischer Bewegung befindet, durch die ganze Handlung hindurch, Kreise beschreibt oder den Darstellern folgt. In einer absurd idyllischen Landschaft vollzieht sich eine unerbittliche, verwirrende Scharade von Hinrichtungen, Gefangennahmen und Racheakten auf beiden Seiten, mit wechselndem Glück, das andauernd Henker in Opfer, Opfer in Henker verwandelt. Große plastische Schönheit und „giftige“ Poesie durchziehen dieses Ballett der Gewalt; die namenlosen Männer scheinen in hypnotischen, archaischen Ritualen befangen, die stolzen oder vergewaltigten Frauen Symbole vergänglichen Lebens zu sein. Nach Motiven aus Isaak Babels Werken verfasst, ist dies eine bis ins Einzelne ausgeführte Paraphrase der Befindlichkeit des Menschen.“ (Vogel, S. 113)

Die erste sowjetisch-ungarische Koproduktion der Filmgeschichte und eigentlich als Propagandafilm zum 50. Jubiläum der Oktoberrevolution von der Mosfilm in Auftrag gegeben. Die ebenso aufschluss- wie wendungsreiche Entstehungs- und Produktionsgeschichte des Films (bzw. der zwei verschiedenen Fassungen des Films) zeichnet  Iván Forgács  in SZOVJET-MAGYAR KOPRODUKCIÓ / SOWJETISCH-UNGARISCHE KOPRODUKTION (2011) nach, der auch auf dem Festival zu sehen sein wird.

 

ROTER PSALM
(Még kér a nép) 1972

Auch zu ROTER PSALM finden sich bei Vogel ein paar Zeilen, in denen bereits Kritik an der Kehrseite der weiteren formalen Perfektionierung der ‚Methode Jancsó‘, die zunehmend zur blutleeren Manier zu werden droht, anklingt: der Inhalt tritt mehr und mehr hinter die Form zurück, der Tanz als dekoratives und Ausdruckselement in den Vordergrund; die politisch-historische Brisanz des Ereignisse, die Grausamkeit des Geschehens scheinen durch die betörende ‚Schönheit des Ornaments‘ gemildert.

„Der Preis für die beste Regie ging 1972 in Cannes an Miklós Jancsó, der ihn schon Jahre vorher hätte erhalten sollen. In diesem neuen Werk – der choreographischen Darstellung eines missglückten Bauernaufstandes im Ungarn des 19. Jahrhunderts – hat Jancsó seinen Höhepunkt in Stil und Thema erreicht: die ständig wechselnden Beziehungen zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, die Rolle der Gewalt in den menschlichen Belangen, die Notwendigkeit unablässiger Revolution und (vielleicht) unablässiger Repression. Hier ist das Thema völlig abstrakt geworden – zum filmischen Ballett, inszeniert von einer ununterbrochen bewegten Kamera (ungeschnittene Einstellungen, so lang, wie die Filmrolle es erlaubt), mit  Darstellern in ständiger Bewegung, die durcheinander schreiten vor dem Hintergrund revolutionärer und konterrevolutionärer Rituale, Gesänge und Massenauftritte. Enthält der Film die bislang vollkommenste Fusion von Form und Inhalt, so scheint sein subversiver Aspekt infolge eines merkwürdigen abstrakten linken Romantizismus verdunkelt und nebensächlich.“ (S. 121)

 

MEINE LIEBE – ELEKTRA
(Szerelmem, Elektra) 1974

Klassischer griechischer Tragödienstoff, verlegt in die karge ungarische Steppe, im furiosen Finale katapultiert in das Hier und Jetzt (der 1970er Jahre). Rein arithmetisch gesehen wohl ein Extrem- aber damit auch Wendepunkt in Jancsós Schaffen: nur noch 12 Einstellungen finden sich hier, bei einer Lauflänge von 76 Minuten. Ein organisatorischer Kraftakt, bei dem die Dreharbeiten eher einer militärischen Operation geglichen haben müssen (wie Gideon Bachmann in „Sight and Sound“, 43:4, Herbst 1974 berichtet): per Megaphon erteilte, penible Anweisungen, jeder Komparse ein kleines Teil im Räderwerk, der kleinste Fehler und die Aufnahme ist ‚für die Tonne‘. Dafür wurde des Nachts ausgiebig gefeiert.

„Alle meine während der letzten Jahre entstandenen Filme stehen in gewisser Verbindung zum Happening […]. Meine Kritiker vertreten die Ansicht, dass es sich nicht um traditionelle Dramen, sondern um Freilichtspiele handelt, und es scheint, daß sie in vieler Hinsicht recht haben. […] Meine Elektra ist in erster Linie eine Reihe von visuellen Eindrücken. Eine Struktur, die nicht auf Konflikten aufbaut, sondern geradlinig, im Prinzip episch ist, obwohl sie natürlich auf keinen Fall romanartig ist. Happening, Pantomime sogar Ballet – überzeugt und betont; die gesamte Statisterie wurde aus mehr als zweihundert Tänzern und aus professionellen Volkskunstensembles zusammengebracht. Was die ‚Technik der langen Schnitte‘ anbetrifft, so wird in der Elektra diese Methode wohl am extremsten angewendet […].“  (Miklós Jancsó)

Ende der 1970er Jahre verliert Jancsó zusehends die Gunst des Publikums wie der Kritik, aber auch der Produzenten. So bleibt etwa seine „Vitam et sanguinem“-Trilogie mit nur zwei Teilen unvollendet und er sieht sich künstlerisch zunehmend zu Kompromissen gezwungen. Nichtsdestotrotz hält er bis Mitte der 1980er an seinen ‚Markenzeichen‘ fest, was von der (damaligen) Kritik als wenig originelles, erschöpftes Spiel mit Versatzstücken wahrgenommen wird. Der nackte Körper etwa,  in seinen frühen Filmen noch „Symbol des Ausgestoßenseins aus dem Paradies, des Ausgeliefertseins“ (Nemeskürty), wirkt auf den Zuschauer zunehmend irritierend, mitunter gar ‚erotisierend‘, wodurch etwa der historisch-politische Gehalt eines Films wie VIZI PRIVATI, PUBBLICHE VIRTÙ (1976) hinter der vermeintlichen ‚Softporno‘-Anmutung zu verschwinden droht.

1986 kehrt er mit SEASON OF MONSTERS (Szörnyek évadja) nach mehreren TV-Arbeiten inhaltlich zum ersten Mal seit CANTATA in die ungarische Gegenwart zurück, sein Werk wird zunehmend selbstreflexiver, ironischer, parodistischer gar. Von der damaligen Kritik gescholten, entdecken heute nicht wenige Autoren rückblickend die Filme dieser Zeit und ihre damals missachteten Qualitäten neu. Leider lässt sich dies in Wiesbaden nicht überprüfen, da kein Film aus dieser Phase in Wiesbaden zu sehen sein wird. Ein Nachhall dieser Zeit ist aber noch in GOTT GEHT RÜCKWÄRTS (Isten Hátrafelé Megy) von 1990 zu spüren, der sich mit dem Fall des Kommunismus und dem Zerfall des sowjetischen Imperiums auseinandersetzt. Die Reihe beendet dann WACH AUF KUMPEL, SCHLAF NICHT! (Kelu Fel, Komám, Ne Aludjál), ein weitgehend improvisierter Episodenfilm von 2002, in dem Jancsó die beiden aus dem Überraschungserfolg DIE LATERNE DES HERRN IN BUDAPEST (Nekem lámpást adott kezembe as Úr Pesten, 1998) bekannten Figuren Kapa und Pepe auf Zeitreise durch das gerade zu Ende gegangene Jahrhundert schickt.

Wer die bei diesem Abriss zwangsläufig entstandenen Lücken (vor allem in den 1980er Jahren) füllen und zudem Texte solch namhafter Autoren wie Peter Hames lesen möchte, sei auf das hervorragende Special auf kinoeye verwiesen, das Jancsós gesamte Karriere Revue passieren lässt und in dem sich u.a. auch Interviews mit seinen treuen Mitarbeitern János Kende (Kamera) und Gyula Hernádi (Drehbuch) finden. Dem-/Derjenigen sei natürlich auch nahegelegt, sich die seltene Chance, die großen Werke der 1960er und 1970er in angemessener Form – sprich: auf der großen Leinwand in 35mm – zu sehen, nicht entgehen zu lassen. Am 15. April um 18 Uhr wird es zudem ein Skype-Interview mit dem Altmeister geben – vorausgesetzt die Technik spielt mit. Die Spielzeiten der Filme finden sich hier, das gesamte Programm des Festivals hier auch als pdf.

Abschließend noch Jancsós eigene, sehr pragmatisch anmutende Erklärung für die Entwicklung des ‚Jancsó-Stils‘, der u.a. das Schaffen seiner Landsleute Béla Tarr und Benedek Fliegauf (diesjähriger Jurypräsident!) wesentlich beeinflussen sollte (aus einem 2001 geführten Interview, auch auf kinoeye zitiert):

„I used long takes because I wanted films without cuts. I’m simply inept at cutting. I always hated flashbacks, empty passages and cuts. Each shot took as long as there was material in the camera — ten minutes.”

 

Literatur:

Nemeskürty, István: Wort und Bild. Die Geschichte des ungarischen Films.
Frankfurt a.M. / Budapest 1980.

Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick. Hamburg 2000.

Der ungarische Film. Eine Dokumentation. Retrospektive zur XXVI. Internationalen Filmwoche Mannheim, 10. – 15. Oktober 1977.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des goEast-Festivals.

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, April 10th, 2013 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christian Moises, Essays, Festivals, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Hinweise veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “Ecce homo oder Der nackte, tanzende Mensch –
Hommage an Miklós Jancsó bei goEast 2013”

  1. Manfred Polak on April 14th, 2013 at 17:02

    Interessant ist die Begründung für die langen Einstellungen, dass Jancsó überhaupt nicht schneiden kann (oder will). Dreyer hat sich sehr ähnlich über seine Spätwerke geäußert:

    „In seinem Spätwerk (vier Filme in 21 Jahren) versuchte er dann, sich dem Zwang des Schnitts weitgehend zu entziehen und die Einstellungen immer weiter auszudehnen. LA PASSION DE JEANNE D’ARC hat mehr als 1.500 Schnitte, TAG DER RACHE 436, ORDET (DAS WORT; 1954/55) nur noch 114, und bei GERTRUD lohnt es sich kaum mehr, sie zu zählen.

    Dreyer verbrachte im Lauf seiner Karriere immer weniger Zeit im Schneideraum; bei GERTRUD waren es nur noch wenige Tage. In einem Interview erzählt er davon, und es klingt, als sei ihm eine Last von der Seele gefallen: »Nach drei Tagen war der Film [GERTRUD, 1964] fertig geschnitten. Aus. Vorbei. Es wurde immer besser, denn DAS WORT wurde in fünf Tagen geschnitten, und TAG DER RACHE [1943] in zwölf. Davor brachte ich einen Monat oder sogar noch mehr damit zu, meine Filme zu schneiden.«“
    Hans Schmid: Carl Theoder Dreyer: Kino der fünften Dimension (in: Carl Th. Dreyers JEANNE D’ARC, CICIM, München 1996)

    Dabei war Dreyer eigentlich ein guter Cutter. In seiner Frühzeit bei Nordisk war das eine seiner Hauptbeschäftigungen. Ich glaube, Renoir hat sich auch einmal in diese Richtung geäußert, aber er hat es mit den langen Einstellungen nicht so weit getrieben wie diese beiden (oder auch Paradschanow in DIE FARBE DES GRANATAPFELS).

  2. Christian Moises on April 21st, 2013 at 15:21

    Ist erfahrungsgemäß natürlich selten für bare Münze zu nehmen, was Filmemacher so über ihre Arbeit erzählen. Andererseits lässt sich an einem Film wie ROTER PSALM gut sehen, wie wenig er sich (zuweilen, nicht immer) für die Montage im eigentlichen Sinne interessierte. Alles Augenmerk ist hier gerichtet auf die „innere Montage“, auf das, was sich im (ausgedehnten) Moment des Dreh(en)s vor der Kamera ereignet, im Wechsel von Nah- oder gar Detailaufnahme über Halbnahe, usw. bis mitunter zum anderen Extrem der Totalen, et vice versa – sei es durch eine Kamerafahrt, einen Zoom oder einen bloßen Schwenk.
    Kehrseite dieser Sorgfalt bezüglich der Mise-en-scène, der einzelnen, ungeschnittenen Einstellung ist andererseits die Härte, mit der die Einstellungen zuweilen „aufeinanderprallen“. Allerdings nicht etwa im Sinne einer, sagen wir: „Eisenstein’schen Dialektik“ (den Jancso übrigens sehr verehrt hat) dadurch womöglich einen neuen (dritten) Sinn stiftend, sondern eher eine Art „Flickenteppich“ ergebend, und kein rundes, geschlossenes Ganzes. Die Abfolge dieser Tabelaux vivants hat durchaus ihre feste Logik und (meist für den einen oder anderen tödliche) Konsequenz, jedoch keine, die am Schneidetisch „erarbeitet“ oder gar erst erzeugt, gestiftet würde. Hier gilt es nur mehr, die (zeitlich gesprochen) vor-gefertigten Bausteine aneinander zu reihen, Anschlüsse oder Übergänge erscheinen zweitrangig, man möchte fast sagen: vernachlässigenswert.

    Klang jetzt vielleicht (nicht nur sehr „akademisch“ sondern auch) abwertend, war aber vor allem erst mal rein konstatierend gemeint und v.a. auf ROTER PSALM bezogen. Muss aber auch zugeben, dass ich den (aber nicht unbedingt aus diesem Grund) immer noch nicht so sehr mag. ELEKTRA scheint formal geschlossener, stimmiger, die Kamera-Operationen oft interessanter, abwechslungsreicher. Was aber neben dem (archaisch-mythischen wirkenden, nichtsdestotrotz damals politisch hochbrisanten) Inhalt auch dem Setting geschuldet ist, das – auch wenn es tatsächlich nur wie eine Theaterbühne inmitten der kahlen ungarischen Steppe anmutet – oft in die Sequenzen miteinbezogen wird, Bewegungen in der Vertikalen erlaubt, die Sicht blockiert oder Rahmungen ermöglicht. Ähnlich arbeitet Jancso bereits in der meines Erachtens nach interessantesten Einstellung in RED PSALM (nennen wir sie die „Erntedankfest-Szene“ oder etwas genauer die „Danken-wir-erstmal-für-die-Ernte-und-danach-verbrennen-wir-den-Pfaffen-Szene“), die mit der langsamen Bewegung über den mit (den dieser mühsam abgerungenen) Gaben der Natur bedeckten Tisch beginnt und mit dem Einschluss des Pfarrers in der Kirche endet.
    Auch einer der Höhepunkte: das (am Ende der betreffenden Einstellung) in der Supertotalen gefilmte Einkesseln der Aufständischen, als die Soldaten sich für einen kurzen Moment von der Ausgelassenheit der Bauern angezogen fühlen um nach einem Signalton unverzüglich in Reih und Glied zurückzukehren und die Menge „niederzumähen“. Überhaupt scheint mir die Ton- hier zuweilen interessanter als die Bildebene bzw. das Wechselspiel zwischen beiden. Was auch an der „Entschleunigung“ des Geschehens liegen mag, etwa im Vergleich zu STERNE AN DEN MÜTZEN, wo die ständigen Gefechte für eine ganz andere optische Dynamik sorgen, die ständigen Ortswechsel eine ganz andere gestalterische Raffinesse ermöglichen.

    Aber genug soweit. Werde vielleicht meinen Text oben bei Gelegenheit etwas „ausbauen“, mit weiteren eigenen Gedanken ergänzen, falls ich Zeit und Lust habe – und/oder das Gefühl, dass das jemanden interessieren könnte. 😉 Eins vielleicht noch: diese Art der Vorgehensweise erlaubte dem (über die Jahre gut eingespielten) Team natürlich eine vergleichsweise rasche Arbeitsweise. Anstatt etwa wie in klassischen Szeneauflösungen ständig alles neu aufbauen zu müssen um das Geschehen aus unterschiedlichen Positionen abzulichten (Schuss-/Gegenschuss und der ganze Kram), waren – insoweit alles klappte und im Voraus genau festgelegt war – nach zehn Minuten Drehzeit tatsächlich auch zehn Minuten Film im Kasten! Sodass etwa die (schon ganz beunruhigten) Gesandten aus Moskau bei ihrem Besuch am Set von STERNE AN DEN MÜTZEN mit Erstaunen zu hören bekamen, dass der Film bereits zu drei Vierteln abgedreht war – was sie die Leistungsfähigkeit ihrer hochausgebildeten Regisseure im eigenen Land für einen kurzen Moment in Frage stellen ließ, von denen sie ein ganz anderes, „gemächlicheres“ Tempo gewohnt waren.

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