goEast 2013 – Annäherung an Miklós Jancsó




Jancsó beim Skype-Gespräch im Festivalzentrum des goEast

Die diesjährige Hommage des goEast-Festivals machte mich mit Miklos Jancsó vertraut, der mir bis dahin vollkommen unbekannt war, Schande über mein Haupt. Es war keine Liebe auf den ersten, durchaus aber auf den zweiten Blick. Jancsós Filme wirkten auf mich zunächst wie Verfilmungen von Konzepten, Versuchsanordnungen, die aus elaborierten Kamerabewegungen und strukturieren Massenszenen bestehen. Sie handeln nicht von Menschen (als Individuen), sondern von Menschen (als Volk). Sie sind auch Analysen der Macht. Und politisch gingen sie zu ihrer Zeit stets etwas zu weit.
Der erste Film, den ich sah war der Kurzfilm „Gegenwart I“, ein Kommentar zur Stellung der Juden in Ungarn. Dann ging es gleich in die Vollen mit „Die Männer in der Todesschanze“, der mich stark an Pasolinis „Salò“ erinnerte, jedoch als ungleich stärkere, konzentrierte Variante, die ohne jeglichen Intellektualismus auskommt. Anfangs kam mir der Film sehr spröde und kalt vor, doch im Vergleich zu seinen anderen Filmen muss dieser erste Eindruck revidiert werden.
Jancsó verlässt sich ganz auf Bewegung. Die Kamera bewegt sich immerzu, und auch innerhalb des Kadrierung findet ständig Bewegung statt. So wird eine Dynamik erzeugt, die dem Film ein nervöses Zucken verleiht, aber irgendwie auch eine elegante Fiebrigkeit. Dabei gibt es keinen treibenden Soundtrack, der die Bilder unterstützt oder ihre Wirkung verstärkt oder gar Spannung erzeugt. Musik gibt es in Jancsós Filmen niemals aus dem Off, was nicht heißt, dass es sie nicht gibt. In seinen Filmen treten zur Genüge Musiker auf oder Leute, die Volks- oder Revolutionslieder (gerne die Marseillaise) singen. Musik gibt es nur innerhalb der abgebildeten Welt, eine Methode, die auch Rohmer einsetzt. Somit wird ein gewisser Realismus suggeriert, der oberflächlich gesehen zwar mit Jancsós Themen Revolution, Macht, Politik korrespondiert, andererseits seinem allegorischen Stil fast schon zuwiderläuft. Vielleicht waren es diese kleinen Einsprengsel des Realismus, die mir den Eindruck des Spröden vermittelten.
„Sterne an den Mützen“ war ein sehr ähnlicher Film, der eine Revolution seziert, die sich bereits selbst parodiert. Dabei ist in dem Film eine unheimlich zärtliche Szene versteckt, in der die Weißgardisten eine Gruppe von Schwestern aus einem Krankenhaus in den Wald entführt, nur um sie miteinander Walzer tanzen zu lassen, und sie danach wieder zu entlassen.
Jancsós Film, so kontextabhängig er ist, ist letztlich zeitlos. Das eigentlich Politische an ihm bestand darin, ihn überhaupt zu drehen. Denn diese erste sowjetisch-ungarische Koproduktion war als feierlicher Film zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution gedacht, und Jancsó hat in diesem Sinne ganz bestimmt nicht abgeliefert.
Im Anschluss lief die Dokumentation „Sowjetisch-Ungarische Koproduktion“ des Filmhistorikers Iván Forgács, der übrigens zu jedem Film eine launige Einführung gab. Der Film zeigte, dass die Zensurbehörden überfordert waren, und nicht verstanden, was dieser eigensinnige Ungar da eigentlich trieb. Am Ende dachten sie, zum Teufel mit ihm, und ließen ihn machen. Mit dem Ergebnis waren die Oberen jedenfalls nicht zufrieden.
Der junge Nikita Michalkow verirrt sich in „Sterne an den Mützen“ in eine Szene, in der er zwei, drei Sätze sagen darf. Umso mehr überrascht es, dass Forgács Michalkow zu einem Interview in seinem Film bewegen konnte. Es war wohl recht kompliziert, überhaupt an ihn ranzukommen, wie Forgács in einem kurzen Gespräch erzählte. Der Dreh mit Michalkow war wohl sehr nett, aber auch kurios. In seinem Büro befanden sich Scheinwerfer (das Interview ist übrigens auch der grellste Teil des Films), und Michalkow gab dem Kameramann vor, aus welchem Winkel er gefilmt werden wollte. Über die Arbeit von Jancsó hatte er eine Menge Respekt übrig. Seiner Meinung war „Sterne an den Mützen“ auch kein Film über die Oktoberrevolution, dazu war Jancsó viel zu sehr mit seinen Einstellungen und Bildkompositionen beschäftigt. Er hätte sein ganz eigenes Ding gedreht in seinem ganz eigenen Kinokosmos. Auf einer Ebene mag das stimmen, doch auf einer anderen Ebene ist der Film eine bittere Abrechnung mit den glorreichen Revolutionsmythen.

Der dritte Langfilm, den ich gesehen habe, war „Roter Psalm“, ein Film über einen Bauernaufstand in Ungarn um 1890, der immer mehr in die Abstraktion abdriftete. Waren die beiden vorigen Filme teils noch von Jancsós Zeit als Dokumentarfilmer beeinflusst, so setzt er in „Roter Psalm“ auf Verdichtung und Vereinfachung. Eine Geschichte im ursprünglichen Sinne ist nicht mehr vorhanden, es gibt nur noch Plansequenzen und Massenchoreographien, und Szenen, die quasi im Zeitraffer revolutionäre Prozesse beleuchten. Dabei wird die Rolle der Kirche untersucht, die inneren Konflikte der Bauern, die Zerrissenheit der Soldaten, die eigentlich mit den Unterdrückten sympathisieren, und der Machtmissbrauch der Herrschenden, die auf der bestehenden Ordnung pochen. Diese komprimierten Szenen mit ihrem analytischen Geschick erinnerten mich oft an den späten Godard, bloß weniger kryptisch. Bei den Massenszenen kam mir wiederum Angelopoulos in den Sinn, der seinen Jancsó sicherlich gut studiert hat.
Auch erinnerte mich dieses gewaltige Happening von Film an die Studentenrevolten und die Hippiebewegung, aus deren Ikonographie sich Jancsó ganz klar bediente. Letztlich zeigt „Roter Psalm“ die Revolution in der Nussschale, und verdeutlicht, wie die ersten beiden Filme, die Parallelen historischer und zeitgenössischer Ereignisse. Geschichte wiederholt sich. Bis zum Erbrechen.

Meine kleine Jancsó-Retrospektive wurde feierlich mit „Gott geht rückwärts“ abgeschlossen. Ko-Kurator Forgács bereitete die Zuschauer behutsam auf das Werk vor, indem er sagte: „You will not understand this film“. Der Film, so Forgács, stamme aus einer Schaffensperiode von Jancsó, die niemals begann und niemals endete. Die stilistische Strenge, die ich mittlerweile von ihm erwartete, war verschwunden, und an ihre Stelle trat ein ausgefallener, absurder Humor. Der Zorn der Jugend ist einem leichtlebigen Spott gewichen, vielleicht ein Nebenprodukt des Alters.
„Gott geht rückwärts“ folgt der Prämisse, dass eine Pistole und ein Mädchen bereits einen Film ergeben (schon wieder Godard!). Hier sind es zwei Pistolen und ein nacktes Mädchen. Ein Filmemacher will den Irrsinn der neuen Zeit dokumentieren, dabei wird über das Ende des Kommunismus meditiert. Dabei sind für den Zuschauer viele Ereignisse nur auf dem Monitor sichtbar, ein Verweis auf die Fiktionalisierung des Realen, auf die Unbeständigkeit der Realität, auf die Manipulierbarkeit der Geschichte. Jancsó filmt die Stunde null, deren Gefahrenpotential er schnell erkannt hat, und geht ihr mit apokalyptischer, aber guter Laune entgegen. Einen konkreten politischen Standpunkt auszumachen ist dabei nicht möglich, da Jancsó sich Eindeutigkeiten per se verweigert. Er sieht sich außerdem, wie er in einer Skype-Konferenz am Ende des goEast mitteilte, sowieso nicht als „Auteur“, sondern als Teil einer intellektuellen Gruppe, sozusagen als exekutives Organ verschiedenster linker Ansichten, die von seinen Autoren oder sonstigen Mitarbeitern ausgearbeitet wird.
Jancsó war übrigens gut aufgelegt bei dem Skype-Gespräch. Er will noch immer Filme machen (er ist jetzt über 90), und er behauptet (nicht ohne Stolz), dass er immer noch ins Kino geht, und Tarantino und von Trier schätzt.
Leider erschließt sich das Spiel mit der Politik, das „Gott geht rückwärts“ treibt, den westlichen Zuschauern nicht in seiner Gesamtheit, was einerseits mit den historischen und sozialen Spezifika des Landes zu tun hat, und andererseits mit einer sehr dürftigen Qualität der Untertitel, die teils ungelenk und fehlerhaft daherkommen, und viel auslassen. Man ist einfach ein wenig ausgesperrt. So muss man sich auf die Bilder verlassen, die, trotz des mittlerweile kleiner gewordenen Budgets, noch immer polemisieren und überraschen. Am Ende sieht man Jancsó selbst, inmitten seiner Crew, wie er, ganz dem alten Politthriller-Klischee entsprechend, auf der Straße erschossen wird. Der Störenfried ist tot, lange lebe der Störenfried!

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, April 24th, 2013 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Festivals, Sven Safarow veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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