Das Kino des Mamoru Oshii – Teil 1: The Red Spectacles (1987)





Sano: Die ursprüngliche Idee, die wir beide zunächst hatten, war ja ausgehend von der sogenannten „Cinema Trilogy“, also den 3 Realfilmen „The Red Spectacles“ (Jigoku no banken: akai megane / 1987), „Stray Dog“ (Jigoku no banken: kerubersu / 1991), und Talking Head (1992), über sein gesamtes Werk – beziehungsweise das, was wir bisher von ihm kennen – und seine Idee von Kino, sowie unsere Faszination für seine Filme, zu schreiben. „Red Spectacles“ haben wir jetzt gemeinsam zum zweiten mal gesehen, und ich glaube, wir haben jetzt auch einen besseren Einstiegspunkt gefunden. Beim ersten Sehen war ich persönlich im Grunde noch etwas überfordert. Von dem Film, von seiner Ästhetik – von einem Filmentwurf, der für mich noch einmal anders war, als alles bis dahin von Oshii gekannte. Um mal zunächst etwas Inventur zu führen: Bei mir waren und sind das außer „Red Spectacles“ noch „Dallos“ (Darosu / 1983), „Angel’s Egg“ (Tenshi no tamago / 1985), „Patlabor: The Movie“ (Kidô keisatsu patorebâ: Gekijô-ban / 1989), „Ghost in the Shell“ (Kôkaku kidôtai / 1995), Avalon (2001), „Innocence“ (Inosensu / 2004) und „The Sky Crawlers“ (Sukai kurora / 2008).
Das sind fast nur Animes, und es wird ja allgemein auch oft vergessen, dass Oshii nicht nur Animationsfilmer ist, sondern inzwischen auch eine große Anzahl von Realfilmen inszeniert hat. Wobei bei ihm diese Klassifikation aber sowieso etwas hinfällig ist – dazu jedoch lieber später mehr. Jedenfalls hat mich „Red Spectacles“ bei der ersten Sichtung sehr überrascht, um nicht zu sagen überrumpelt, da ich trotz davor bereits gesehener Ausschnitte aus dem Film, einfach nicht mit etwas derartigem gerechnet hatte. Ein scheinbar in alle Richtungen ausbrechendes Filmmonstrum das gängige Konventionen mit Füßen tritt. Für mich war es sicherlich eines meiner verstörendsten Filmerlebnisse überhaupt, denn so wirklich fiel mir kein historisches Vorbild innerhalb der Filmgeschichte ein. Ein Unikum, ein Präzedenzfall, sozusagen eine neuartige Filmkonzeption. Das klingt angesichts der 80er und dem endgültigen Durchbruch der Postmoderne im Kino in diesem für mich ungeheuer innovativen Filmjahrzehnt vielleicht arg übertrieben, trifft meine Empfindungen während der ersten Begegnung mit „Red Spectacles“ aber ziemlich genau. Beim zweiten Sehen wurde für mich dann vieles klarer, und der ganze Film ist inzwischen nicht nur in seinen Grundzügen nachvollziehbar geworden. Dennoch schien mir auch jetzt noch ein Attribut wie absurd immer noch zu ausdruckslos um den Film zu beschreiben. Bizarr wäre vielleicht der treffendere Ausdruck.

Alex: Ja, bizarr charakterisiert die Grundstimmung des Films recht präzise. Mir ging es nach unserer ersten Sichtung vor fast einem Jahr ganz ähnlich, dass ich nämlich einfach etwas überfordert, ja geradezu geplättet von „Red Spectacles“ war, vielleicht auch weil es sich hier trotz vieler ruhiger Momente und obwohl es ja in fast allen anderen Oshii-Filmen auch schnelle Action-Szenen gibt, um Oshiis frenetischstes oder besser fiebrigstes Werk handelt. Das natürlich im Vergleich zu den anderen Werken, die ich kenne, welche da sind: „Angel’s Egg“ (Tenshi no tamago / 1985), die Patlabor–Serie (Kidô keisatsu patorebâ / 88), „Patlabor: The Movie“ (Kidô keisatsu patorebâ: Gekijô-ban / 1989), „Patlabor 2: The Movie“ (Kidô keisatsu patorebâ: The Movie 2 / 1993), „Ghost in the Shell“ (Kôkaku kidôtai / 1995), Avalon (2001), „Innocence“ (Inosensu / 2004), „Open Your Mind“ (Mezame no hakobune / 2005) und „The Sky Crawlers“ (Sukai kurora / 2008), also im Wesentlichen die gleichen Werke wie du.
Dass die „Cinema Trilogy“, von der wir ja als Basis ausgehen, so verhältnismäßig unbekannt ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da ich mich erinnere, irgendwo gelesen zu haben, dass Oshii die Kerberos-Saga als sein wichtigstes Werk betrachtet. Und diese ist den meisten euopäischen Zuschauern wahrscheinlich eher aus „Jin-Roh“ (Jin-Rô / 1998) bekannt, einem Anime zu dem Oshii ja bekanntlich das Drehbuch geschrieben, bei dem er aber nicht selbst Regie geführt hat. Aber ganz unabhängig davon, welche Stellung der Regisseur seiner „Cinema Trilogy“ nun einräumt, waren wir uns ja beide einig, dass „Red Spectacles“ sicherlich ein sehr persönlicher Film Oshiis ist. Er arbeitet ja hier mit einer ganz hermetischen, privaten Symbolsprache, wie schon in „Angel’s Egg“. Aber wo dort noch die christliche Ikonographie als Referenzfolie vorlag, löst er sich in „Red Spectacles“ fast ganz davon, nur die Fische im Pissoir erinnern dumpf an den nunmehr abgelegten Erlöser.
Vielleicht sollte man hier für Oshii-Unkundige anfügen, dass der Regisseur in „Angel’s Egg“ seinen Verlust des katholischen Glaubens, zugleich aber eine Hinwendung zu einer neuartigen Form der Spiritualiät in kryptischen Bildern von unheimlicher Schönheit umgesetzt hat. Das scheint mir als Hintergrund doch sehr hilfreich für das Verständnis von „Red Spectacles“, der im Grunde da ansetzt, wo „Angel’s Egg“ aufhört, nämlich, mal salopp gesagt, bei der Frage, was zur Hölle die Realität ist, wenn es keinen Himmel gibt.



Sano: Ja, das ist mir auch beim zweiten Sehen klar geworden, diese Verwandschaft von „Red Spectacles“ mit Oshiis vorherigem Film „Angel’s Egg“. Wobei ich mir natürlich bewusst bin, dass wir mit Spekulationen zu Oshiis persönlichen Glaubenskrisen auf einem schmalen Grat wandern. Dennoch sehe ich das ähnlich wie du. Dabei könnte der Unterschied zwischen den beiden Filmen zunächst einmal nicht größer sein. Ich empfand „Red Spectacles“ auch als sehr fiebrig, wie einen Fiebertraum in dem das Zeitempfinden durcheinander gerät: Alles scheint sich sehr schnell abzuspielen, aber gleichzeitig zerdehnt sich die Zeit auch ins Unendliche. Man fühlt sich ja bei einem starken Fieberschub, jedenfalls ging mir das bisher ab 39 oder 40 Grad so, wie auf einem Karussell. Ständig in Bewegung obwohl man nicht von der Stelle kommt und sich auch alles irgendwie zu wiederholen scheint. Und ich muss auch sagen, dass trotz zahlreicher Idiosynkrasien in den von mir bisher gesehenen Filmen von Oshii, dieses Delirium, das „Red Spectacles“ für mich zunächst einmal darstellte, nochmal radikaler erscheint, was die Kombination und Präsentation seiner Elemente angeht.
Aber unabhängig von den zahlreichen Anspielungen auf „Angel’s Egg“ geht es Oshii scheints auch hier wieder um die Auseinandersetzung mit dem Glauben, und die Thematisierung von Hoffnungsprinzipien. Ich sehe den Film inzwischen vielleicht als eine Art Gegenstück. War in „Angel’s Egg“ der Verlust von Glauben das zentrale Thema, so geht es in „Red Spectacles“ um die Aneignung einer Sicht auf die Welt, die sich verändert hat, aber dadurch dennoch nicht zerstört worden ist. Eine Art Wiedergeburt, eine Transformation also – wie der Phönix aus der Asche. Außerdem würde ich „Angel’s Egg“ und „Red Spectacles“ für mich von allen bisher Gesehenen als die zwei persönlichsten Filme von Oshii bezeichnen, und auch die einzigen Werke in denen so etwas wie eine biographische Konzeption durchscheint.
Ich habe das Gefühl, dass die Filme also einfach gemacht werden mussten, um akute existenzielle Probleme zu erörtern, nicht in Form abstrakter philosophischer Fragestellungen, sondern als Lebensnotwendigkeit des Filmemachers, des Filmemachens. Das ist für mich auch das Tolle an Oshii, dass er meiner Meinung nach keine Ideenkonstrukte präsentiert, sondern diese vielmehr aus seiner Beschäftigung mit den Anforderungen des jeweiligen Films entspringen, und im Falle von „Angel’s Egg“ und „Red Spectacles“ vermutlich auch aus dem Innersten der Seele des Filmemachers. In diesem Sinne scheint Oshii dann auch durch seine Filme zu leben, zu existieren, bzw. sich selbst zu transformieren. Filme als Lebenshilfe, Lebensausdruck gab es ja schon immer, und bei den besten Regisseuren habe ich immer den Eindruck, dass sie nicht nur Erfahrung inszenieren, sondern auch Erfahrung produzieren. Der Film also als ein denkendes, fühlendes und kreatives Wesen, als eine Bewusstsein hervorbringende Maschine, die einem Antworten und Fragen liefern kann, die man gar nicht erwartet hätte.

Alex: Genau! Film als Denkmaschine, das erinnert mich jetzt natürlich ganz stark an Deleuze, aber ich finde auch, diese Beschreibung passt sehr gut zu Oshiis Filmen. Das paradoxale Zeitempfinden, das „Red Spectacles“ transportiert und die Makrostruktur der verschachtelten Träume wie auch die „unnatürlichen“ Bewegungen der Figuren sind weitere Charakteristika dessen, was Deleuze „kristalline Ordnung“ oder ganz allgemein „Zeitbild“ nennt. Anders formuliert: Kino der Reflexion, Film als sich synaptisch verzweigender zerebraler Prozess. Wobei dieser Prozess ja nicht unabhängig vom Zuschauer abläuft sondern die Form einer offenen Interaktion hat, bei der die Bilder des Films ständig neue mögliche Gedanken und Bilder hervorrufen können. Diese Form des Diskurses ist also eine ganz entschieden anti-dogmatische, was wiederum mit dem zentralen Thema korrespondiert: Der Abwendung von einer hierarchisch-dogmatischen Weltsicht mit einem etablierten Wertesystem, wie sie der Katholizismus darstellt, hin zur „schrecklichen Freiheit“ eines Außenseiters des Daseins, die einerseits eine grausame Erfahrung ist, aber andererseits auch positiv gewendet als Chance begriffen wird.
Diese komplexe Transformation des Weltbilds spiegelt sich ja auch im Schicksal der „Red Spectacles“-Hauptfigur Koichi wider, den man vielleicht auch als Alter Ego Oshiis deuten könnte. Er ist der Einzige, der aus seiner alten zusammenbrechenden Ordnung entkommen konnte, nämlich der der Kerberos-Eliteeinheiten. Diese alte Ordnung, die auch zugleich sein Wertesystem garantiert hat, ist jedoch korrupt geworden, auch wenn er selbst es persönlich vielleicht nicht war. Das lässt der Film vermutlich mit Absicht im Unklaren. Aber so wie ich Koichi sehe, flieht er nicht aus Feigheit oder Trotz, sondern weil er ahnt, dass auf den Zusammenbruch des alten Ordnungssystems ein neues, noch korrupteres folgen wird. In der Symbolsprache des Films heißt das: Auf die Hunde folgen die Katzen.

Sano: Was ich auch interessant fand, ist die Tatsache, dass in „Red Spectacles“ die Vorgeschichte nicht weiter aufgegriffen wird. Inwiefern war das System vielleicht schon davor korrupt, inwiefern ist überhaupt die Kerberos-Spezialeinheit nicht schon Ausdruck einer dystopischen Gesellschaft. Die Auflösung der Kerberos-Truppe erscheint mir in dieser Betrachtungsweise nur schlüssig, als ein weiterer Schritt Richtung Totalitarismus. Aus dieser Perspektive wäre Koichi bereits von Anbeginn ein korrupter Teil des korrupten Systems gewesen, und eben kein Abweichler und „Revolutionär“ als der er sich nach seiner Rückkehr ja selbst sieht und inszeniert. Sein Tod am Ende des Films ist daher auch kein Verlust und kein großes Drama, da es kein Happy End geben kann. Also kein richtiges Leben im falschen. Bezeichnend, dass er hinterrücks erschossen, dann einfach so, ohne großes Tamtam abtransportiert wird. Der Held, der er in seiner eigenen Phantasie war, zerfällt so auch sichtbar für den Zuschauer. Und Oshii macht weiter mit dem eigentlichen Thema des Films, für das die Hauptfigur nur einen Ausdruck darstellt.



Alex: Ja, die Inszenierung wird da nach dem Pathos einiger Szenen davor plötzlich sehr lakonisch. Kein großer Heldentod, im Gegenteil. Aber ich sehe das ähnlich, Koichi ist zwar eine Identifikationsfigur für Oshii und den Zuschauer, aber er ist nur eine Bezugsgröße unter vielen, die gemeinsam der grundsätzlichen philosophischen Problematik Ausdruck verleihen. Und die ist nicht nur eine metaphyische und erkenntnistheoretische, sondern auch eine ethische!
Wir sind da sozusagen mitten in Oshiis Glaubenskrise nach der Glaubenskrise, also der Frage was auf den „Tod Gottes“ folgen soll, wenn nicht das korrupte Chaos eines wertelosen und egoistischen Vulgärmaterialismus und wir sind auch mitten in Oshiis Selbstbefragung was politische Perspektiven, dystopischer oder utopischer Art betrifft. Das ist das Schöne bei ihm, dass das Spirituelle zugleich das Politische ist, das Philosophische, das unmittelbar Private, Banale und Intime. Alles ist untrennbar und bleibt immer aufeinander bezogen. Das drückt sich meiner Meinung nach auch sehr klar im Stil von „Red Spectacles“ aus: Der Film ist aus vielen kleinen, monadisch wirkenden Episoden zusammengesetzt, die ja zum Teil in ganz starken Stimmungskontrasten aufeinanderfolgen. Trotzdem wirkt der Film wie eine Einheit. Ich denke, das hat etwas mit der Herangehensweise ans Kino zu tun, die wie du vorher ja schon angedeutet hast, keinen wesentlichen Unterschied zwischen Animation und „Real“-Film macht.

Sano: Genau. Was ich schon bei Avalon teilweise befremdlich fand, was für mich in „Red Spectacles“ aber noch viel mehr zum Ausdruck kommt, ist der Animationshintergrund Oshiis, die Tatsache, dass er aus dem Animebereich kommt, und ich auch vermuten würde, dass sein formal-ästhetisches Filmverständnis sich grundlegend aus dem Comic speist. Die Betrachtung von Bildern als Panels, von Bildkompositionen als in sich abgeschlossenen Raum- und Zeiteinheiten, und wie du direkt nach dem Film treffend bemerkt hast, die Konzeption der Schauspieler und der Schauspielerführung, als auf Ausdrucksarten des Manga basierend. Die verschiedenen Einstellungen sind auf maximale Wirkung und Klarheit hin inszeniert, auf einen direkten Ausdruck, der aus der Gesamtkomposition des gerahmten Inhalts entspringt, und ein Außen der Bilder im Prinzip verneint. Wie im Comic jedes Panel auch für sich steht, und der Leser die Leerstellen dazwischen, also die Bewegung durch Raum und Zeit, individuell für sich selbst ergänzen muss, so wirken auch Oshiis Filme für mich immer in analoger Weise hermetisch – außerhalb des Bildes gibt es nichts, und ein Verweis bleibt nur ein Verweis. Daher wirken seine filmischen Welten auch enorm künstlich – erschaffen und kreiert, da sie von der Realität isoliert scheinen. Mit gängigen filmischen Realitätskonzepten hat Oshiis Kino also nichts zu tun.

Alex: Nein, wahrhaftig nicht! Ich muss da an ein Zitat Eisensteins denken, der mal sinngemäß gesagt hat, der einzige richtige Filmemacher seiner Zeit sei Walt Disney, da dieser gewissermaßen bei der weißen Leinwand anfange, während er, Eisenstein, bereits beim Einschalten der Kamera ein fertiges Bild hat, das in dieser Form seiner filmischen Idee zunächst im Weg steht. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, der Realfilmer ist erstmal dem ästhetischen Schmutz des banalen Wirklichen ausgeliefert, während der Animationskünstler von vornherein aus freier Hand und freiem Kopf heraus schaffen kann.
Da Oshii auch bei seinen Realfilmen wie ein Animationsfilmer vorgeht, stellt sich natürlich die Frage, welchen tieferen Sinn dann überhaupt die Entscheidung für Realfilm als künstlerisches Material hat. Ich denke, einen sehr entscheidenden! Denn es geht in „Red Spectacles“ ja gerade um den Status des Realen, die alte Frage nach Schein und Sein und der Perspektivität der Betrachtung von Wirklichkeit. Gerade diese ganze gedankliche Problematik und die damit verbundenen Brüche, die doch wieder keine sind, wie z.B. der Wechsel zwischen Farbe und Schwarz-Weiß oder gegen Ende das mehrmalige Aufwachen aus einer Traumebene (fast ein Vierteljahrhundert vor Inception, nebenbei bemerkt), sind es, die dem Film seine Kohärenz und seinen Realitätsbezug geben.



Sano: Exakt, denn die Realitätsanbindung entsteht weniger durch klassischen Realismus, als vielmehr durch philosophische Konzepte, die sich allgemein aus der Kultur speisen, und dadurch, in einen narrativen Zusammenhang eingeführt, so etwas wie eine „verständliche“, „nachvollziehbare“ oder zumindest in sich „realistische“ Darstellung ermöglichen.
Das Bild verweist dann, wenn es denn auf etwas verweisen muss – also wenn wir es befragen – auf das Außen unserer Welt, auf uns als Zuschauer. Das Off der Bilder sind wir. Daher ist der Wechsel zum Realfilm innerhalb des kreativen Schaffensprozesses einfach nur eine Verdeutlichung des Realitätsverweises auf uns. Im Film selbst gibt es dann keine eigentliche Realität – was ja später auch das Thema von Avalon werden sollte. „Stellen wir uns die Welt als einen Film vor“ wäre daher eine der Herausforderungen die Oshii an den Zuschauer stellt – mit allen Abwegigkeiten die eine solche Betrachtungsweise impliziert.
So wäre dann teilweise auch der Rückgriff auf Stummfilmästhetik und Stummfilmkomik zu verstehen, auf Pantomime und Diorama, zum Beispiel in der Sequenz, als einer der Hauptcharaktere nach gewonnener Partie aus dem Billardschuppen flieht, und wir die Verfolgungsjagd, das Aufeinandertreffen mit Koichi und die abschließende Schlägerei, als eine von links nach rechts abrollende Aufeinanderfolge von isolierten Handlungsmomenten erleben. Vor einer Ziegelwand wird das zentrale Detail durch das betonte Licht eines Scheinwerfers hervorgehoben, während die Kamera parallel dazu für jede neue Szene von einem Lichtkegel zum nächsten fährt. Die Schatten fungieren dabei als Übergang, als Schnitte, oder Ab- und Aufblenden, wobei die ganze Sequenz dann auch noch von einem durchgehenden Musikstück untermalt wird. Die Welt als Bühne. Die Realität als Fiktion. Und da wären wir dann einerseits auch sofort bei Shakespeare, der ja in „Red Spectacles“ ausgiebig zitiert wird, andererseits aber auch bei einer Ablehnung von Jenseits-Thematiken unserer abendländischen Kultur. Nicht hinter den Dingen, sondern in den Dingen. Das Selbst als Doppelgänger. Die Realität als Theater.

Alex: Ich denke eine besonders interessante Funktion übernimmt dabei der Humor in „Red Spectacles“, der hier so präsent ist, wie in sonst keinem der mir bekannten Oshii-Filme. Ich erinnere mich da dumpf an ein Zitat Jean Pauls, der irgendwo geschrieben hat, der Humor sei „das umgekehrt Erhabene“. Während das Erhabene als ästhetische Kategorie eine gedankliche Bewegung vom Simplen und Konkreten zum Abstrakten und Allgemeinen, ja Transzendenten ausdrückt, vermittelt der Humor umgekehrt das ganz Große, eigentlich Unfassbare, dem Kleinen und Banalen des Alltags, wobei diese Übersetzung natürlich nicht ohne jene groteske Verzerrung einhergeht, die uns zum Lachen bringt.
Die Bizzarrerie von „Red Spectacles“ rührt meiner Meinung nach von einer Art Pendelbewegung oder einem Atem her, der ständig zwischen diesen Phasen des Erhabenen und des Komischen wechselt, teilweise so schnell, dass sie wie bei einer Elektronenwolke den Eindruck eines epistemologischen Nebels erzeugen, einen Nebel des Grotesken, das zugleich das Erhabene ist. Ich liebe Kunstwerke, die auf dieser Schwelle balancieren! Als Koichi hinter der Toilette des Kinos den versteckten, weil mittlerweile illegalen Soba-Nudel-Stehimbiss betritt, schreitet er geradezu majestätisch durch eine Wolke weißen Lichts in dieses (scheinbare) Refugium des Untergrunds. Das Engelsei aus dem Vorgängerfilm taucht dann auch konsequenterweise als Fast Food-Gericht auf, das es aber nun in der „neuen Ära“ nicht mehr gibt. Oshii spielt hier mit den Mitteln der Travestie, die anders als die Parodie das Ernsthafte nicht karikiert sondern verkleidet. Und zwar immer wieder verkleidet! „Red Spectacles“ ist eben auch ein Film über Masken und Verkleidungen des Menschen, wie auch die Masken der Realität. Es ist daher kein Zufall, dass Koichis Taxifahrer unablässig Shakespeare zitiert, dessen „All the world is a stage“ und „We are such stuff as dreams are made of“ das Motto zu dem komplexen Spiel mit Wirklichkeitsebenen abgibt. Dich hat die Szene, als Koichi entdeckt, dass er in einer Kulisse agiert doch auch an etwas Bestimmtes erinnert, Sano?



Sano: An eine Szene bei Shohei Imamura! Wenn wir mal bei den ganzen Zitaten, eben auch Filmzitaten bleiben, habe ich das Gefühl, dass Oshii nicht nur aus Liebe oder als Referenz zitiert, sondern von ästhetischen und filmtheoretischen Überlegungen ausgehend, die in seinem Universum ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. So ist die Szene in der Koichi entdeckt, dass er sich in einem Bühnenraum befindet, und wir aus einer Vogelperspektive heraus die Studiokulisse um den vorher dargestellten Raum erblicken, ein direktes Zitat der berühmtesten Szene aus Shohei Imamuras sich zunächst als „klassischen“ Dokumentarfilm gebenden „Ein Mann verschwindet“ (Ningen jôhatsu / 1967). Als bei Imamura nämlich während eines konzentrierten Interviews der Filmcrew mit der Protagonistin, plötzlich die Wände des Zimmers zur Seite stürzen, und wir als Zuschauer entdecken, dass wir uns nicht in ihrem Haus, sondern in einer Studiokulisse befinden, entsteht auch ein Moment des Erhabenen wie du ihn beschreibst.
Deine Unterscheidung zwischen Parodie und Travestie, überhaupt die Einführung der Travestie finde ich übrigens großartig und in diesem Kontext mehr als passend. Ich bin mir nicht sicher inwieweit das für Imamura bereits zutrifft, aber „Ein Mann Verschwindet“ ist trotz aller Schwächen (und es gibt eine interessante Kritik von Nagisa Oshima zu dem Film, der bei Erscheinen in Japan wohl für einiges Aufsehen gesorgt haben muss), eine Art Vorläufer von „Red Spectacles“, indem er den von dir beschriebenen Kontrast zwischen Lächerlichem und Ernsthaftem als Spannungsverhältnis zwischen Realität und Illusion inszeniert. Wobei eine Wertung oder ein Ausspielen des Realen gegen das Fiktive ausbleibt, da die Fiktion die gleiche Macht und Wirkung beansprucht wie die vermeintliche „Realität“. Ich denke Oshii könnte den Film sehr bewundert haben. Was aber in „Ein Mann verschwindet“ noch allein von der Inszenierung ausgeht, findet sich bei Oshii auch auf der Ebene des Protagonisten wieder. Die Erkenntnis geht auch von Koichi aus, und wenn er in der genannten Szene eine Puppe am Esstisch als solche entlarvt, ist nicht primär die Kulisse sondern der Mensch der Ausgangspunkt einer Diskussion zwischen Wahrheit und Einbildung. Die Realisierung Koichis verläuft dann auf einer weiteren Ebene auch als Versinnlichung des Schauspielers als Dummy, und daraufhin versucht Koichi die Pappwände, die auch ihn definieren, einzureißen. Und ich denke diese beiden Pole die durch die Travestie verwoben werden, verursachen auch das paradoxe Erlebnis des Filmes, und seine Beurteilung als „bizarr“.

Alex: Das mit dem Menschen und der Puppe ist ein interessanter Punkt! Der auch eng mit dieser Thematik der Verkleidung bzw. Maske des Individuums zu tun hat. Wo hört die Maske auf und wo fängt das Individuum an, oder ist diese Trennung nicht so ohne weiteres möglich? Die gesamte Problematik, die Oshii später vor allem in den beiden „Ghost in the Shell“-Filmen abhandelt, ist hier schon angelegt. Eine Schlüsselrolle für den Film spielt schließlich auch der sogenannte „Protect Gear“, der Kampfanzug der Kerberos-Truppe, von dem Koichi das einzige noch nicht beschlagnahmte Exemplar besitzt. Dieser hängt wiederum auch mit den titelgebenden roten Brillen zusammen, aber dazu später. Worauf ich jetzt hinauswollte war dieses besondere Verhältnis des Menschen zu seiner Rolle, zu der er zum Teil wird und die ihn manchmal fast zu vernichten droht. Das sehen wir ja gegen Ende in dieser unglaublichen Katharsis-Szene (so sehe ich sie), als Koichi seinem eigenen Doppelgänger in der Kerberos-Uniform gegenübersteht und schreit, dieser solle ihn erschießen… was ja auch geschieht, wenn auch auf anderer Ebene durch jemand anders.
Das Besondere am „Protect Gear“ ist, dass er als technologisches Wunderwerk aus seinem Träger einen anderen Menschen macht. Die Rolle Koichis als Kerberos und auch ganz konkret die materielle Hülle, die buchstäbliche Verkleidung ist bereits ein untrennbarer Teil seiner selbst geworden. Es besteht ein bizarres, fast erotisch zu nennendes Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner technologischen Hülle, man denke hier auch an die „Patlabor“-Serie und die beiden Filme! In „Ghost in the Shell“ erfolgt dann der logische nächste Schritt zur vollständigen Verschmelzung von Mensch und Maschine. Das ist Oshiis Vision vom „neuen Menschen“, oder jedenfalls eine Ausdrucksform davon.



Sano: Durchaus, wobei aber die Maschine in „Red Spectacles“ noch nicht positiv konnotiert ist. Koichi will ja (ich sehe das wohl ähnlich wie du) am Ende von ihr befreit werden. Obwohl das Thema Maschinenmensch ein klassisches Thema des Science-Fiction-Films ist, hat Oshiis Herangehensweise für mich damit aber kaum etwas zu tun. Bei ihm ist es eben nicht die Fetischisierung der Technik die im Vordergrund steht, und auch nicht die darüber hinausgehende Fetischisierung des Blicks (die man zum Beispiel besonders ausdrucksstark in den Filmen Brian De Palmas thematisiert sehen kann), sondern vielmehr – wie in der Malerei, dem Comic oder der Architektur – die Fetischisierung des Materials, der Farbe, der Linie und der Form, also des Filmbildes und seiner Ausdrucksmittel. Alles ist Fetisch, muss daher aber als solches dann wiederum nicht mehr Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Fetisch als Grundvoraussetzung, als Ausgangspunkt der filmischen Schöpfung, der selbstverständlich wird, und aus dem heraus die eigentlichen Problematiken entwickelt und thematisiert werden. Daher auch die zwingende Auseinandersetzung mit dem Dualismus Fiktion und Realität, der von der Kunst als solcher bereits vorgegeben wird, wie auch das spezifische Verhältnis von Raum und Zeit.

Alex: Oshiis Umgang mit Materialität, auch mit dem Filmmaterial als solchem, ist in der Tat sehr fetischistisch und wenn wir uns an die Herkunft des Wortes Fetisch erinnern, dann wohnt dem ja auch etwas sehr Religiöses, oder zumindest Spirituelles inne. Wir haben uns ja schon kurz nach der Sichtung darüber unterhalten, dass Sexualität in Oshiis Filmen auf eine ganz merkwürdige Weise eine Rolle spielt: Oberflächlich ist sie (fast) abwesend, aber unterschwellig strahlen seine Helden meistens eine merkwürdige Mischung aus Autosexualität und ungerichteter, diffuser Mutlisexualität aus, die sich eben häufig auf Objekte, vor allem technologisch hochentwickelte richtet. Entfernt klingt das für mich bei allen offensichtlichen stilistischen Unterschieden bei Cronenbergs Darstellung von Technik und Sexualität an.
Marshall McLuhan, der Medien und allgemeiner Technik bekanntermaßen zu Ausweitungen des menschlichen Körpers, präziser externalisierten Sinnen und Fähigkeiten erklärte, hielt als guter Katholik – der er trotz all seinem Futurismus exzentrischerweise war – den mystischen Leib Christi für das „Mastermedium“, das am Ende aller Tage alle übrigen Medien aufheben und unnötig werden lasse. Oshii geht gedanklich gewissermaßen den umgekehrten Weg: Materialität und damit auch Medialität, sprich Film, werden für ihn nach dem Wegbrechen des Glaubens an die christlichen Transzendenz-Versprechen zum Ausgangspunkt und zugleich Ziel einer neuen Form spiritueller Erfahrung. Materie ist der neue Heiland – Technik ist der neue Heiland – Film ist der neue Heiland!
Sowohl die philosophisch-spekulative Seite der Religion, als auch die der Erfahrung des Erhabenen gehen jetzt in dem Entwurf, vielleicht auch der Utopie einer unendlich wandlungsfähigen Material-Kunst auf. Der Künstler ist dabei aber nicht nur der klassische Künstler, sondern allgemein der „Former der Materie“, der aus Reflektion handelnde Mensch! Das hat dann natürlich eine eminent politische Dimension und weist auch nicht gerade wenig geistige Verwandtschaft mit Nietzsche auf…

Sano: Das sehe ich ähnlich, wobei für mich viele der problematischeren, sagen wir mal reaktionären Tendenzen dieser Welt- und Kulturauffassung bei Oshii entfallen. Technik ist nämlich nicht als solche erhaben, nicht durch ihre Existenz und ihre Nutzung, sondern nur durch ihre Beseelung, die aber von beiden Seiten ausgeht: Vom Mensch und von der Maschine. Daher auch der programmatische Titel „Ghost in the Shell“. Ein Neues Sein durch eine neue Form, und nicht einfach das Alte in neuem Gewand. Oshiis Kino wäre demnach ein philosophisches Kino, ein Kino der Reflektion, welche sich aber aus seiner materiellen Sinnlichkeit speist. Also statt der Abbildung einer Idee, eine ganzheitliche Hervorbringung durch das Kunstwerk selbst.
Wir wären da denke ich bei der modernen Malerei, vor allem den Avantgarden vom Anfang des 20. Jahrhunderts, z.B. bei den russischen Formalisten, und jemandem wie Malewitsch. Im Kino entspräche das dann vielleicht einer Mischung aus Andrej Tarkowskij und dem späten Bela Tarr, aber auch genuin japanischen Filmentwürfen, beispielsweise von den frühen Filmen von Kihachi Okamoto – ich denke da vor allem an „Der Deserteur“ (Dokuritsu gurentai / 1959)- und dem exzentrischen Genrekino der 60er, bis zu einem Ausnahmekünstler wie Seijun Suzuki. Die Metaphysik der Osteuropäer, und der Weltenentwurf einer Parallellinie der japanischen „New Wave“, durch deren Einfluss „Red Spectacles“ für uns Europäer auch ganz und gar mit Elementen aus den unterschiedlichsten „westlichen“ Filmgenres durchsetzt erscheint. Und wenn ich anfangs noch vom Fehlen konkreter filmhistorischer Bezugspunkte sprach, so sehe ich das nach der zweiten Sichtung etwas anders.
Ein konkretes Vorbild wäre beispielsweise bei Seijun Suzuki und in einem Film wie „Branded to Kill“ (Koroshi no rakuin / 1967) zu finden. Und natürlich sind Oshiis Filme auch immer explizit politisch. Die Studentenbewegung und der Terrorismus der 70er, etwas das auch zentral für das Schaffen von Koji Wakamatsu ist, der möglicherweise einen weiteren wichtigen Einfluss auf Oshiis in politischer Hinsicht teilweise extrem nihilistischen Filmentwürfe darstellen könnte. Diese politische Aktivität der 68er, die in Japan wohl in den 50ern ihren Ausgang nahm, findet sich bei Oshii dann zusätzlich im Gewand der Cyberpunkästhetik wieder, als ein Weiterspinnen von alternativen Entwicklungen und möglichen Parallelwelten, eine weiterführende Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit der politischen Realitäten Japans. In Oshiis Filmen ist diese landesspezifische Studentenbewegung und die Linke Japans meiner Meinung nach nie wirklich gescheitert, sondern erfährt eine permanente Auferstehung und Weiterentwicklung innerhalb neuer Weltentwürfe, darf also immer wieder von neuem Scheitern. Es wird aber meiner Meinung nach schwierig Oshii durch seine Filme gängigen politischen Kategorien zuzuordnen, und auch wenn ich damit liebäugele ihn tendenziell als Utopisten, vielleicht auch als Anarchisten zu bezeichnen, fällt solch eine Einordnung extrem schwer.



Alex: Ich würde sagen er entzieht sich einer Kategorisierung. Ob ihn das zum Anarchisten macht hängt denke ich auch etwas von dem zu Grunde gelegten Verständnis von Anarchismus ab. Aber ausgehend von dieser politischen Dimension würde ich gerne zu einem bzw. eigentlich zwei Motiven kommen, die in „Red Spectacles“ im Grunde ganz zentral sind insofern der Film mit ihnen endet und zu denen wir noch gar nichts gesagt haben:
Erstens die roten Brillen, die die „Katzen“ in Koichis Koffer finden, in dem sie eigentlich den gestohlenen „Protect Gear“ vermuten und zweitens das rätselhafte Mädchen, das den ganzen Film hindurch auf unzähligen Plakaten und Werbetafeln zu sehen ist und am Ende in Erscheinung tritt, um Koichi mit seinem Doppelgänger zu konfrontieren. Außerdem endet der Film ja mit ihr, wie sie im Taxi zum Flughafen fährt und das Bild dabei langsam farbig wird. Dann sieht man auch, dass ihr Kapuzenmantel leuchtend rot ist! Leider habe ich „Jin-Roh“ noch nicht gesehen, aber du sagtest ja, dass die Kerberos-Saga da auch mit der Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf spielt. Vielleicht ist das eine semantische Fährte?
Außerdem ist rot ja eine politisch recht eindeutig und recht stark konnotierte Farbe. Insofern frage ich mich, ob die roten Brillen nicht auch für einen utopischen Blick stehen, der dann vermutlich weniger mit den historischen bzw. real existierenden Formen linker Politik, als mit einer allgemeineren humanistischen Utopie einer gerechten Gesellschaft zu tun hätte. Das scheint mir allerdings andererseits als Erklärung dieser Motive auch etwas zu simpel, vor allem wenn man die geradezu mystisch zu nennende Inszenierung bedenkt. Es ist aber interessant, dass zunächst nur die roten Brillen wieder Farbe ins Bild bringen und dann das Mädchen. Ich denke rot hat hier eine viel umfassendere Bedeutung, die zwar mit der Konnotation der linken politischen Utopien spielt, die aber auch eine spirituelle ist. Ich vermute mal, es handelt sich bei der Bedeutung der Brillen und des Mädchens um von Oshii beabsichtigte symbolische Leerstellen, denen aber durch den Titel und das Plakat des Films mit dem Gesicht des Mädchens im Hintergrund eine besondere Relevanz beigemessen wird. Was meinst du dazu?

Sano: Die Brillen und das Mädchen. Das sind auch für mich die zwei Dinge, die mir selbst nach der zweiten Sichtung weiterhin rätselhaft erschienen sind, und deren Bedeutung ich auch rein persönlich nicht zufriedenstellend klären konnte. Der Versuch der Deutung als symbolische Leerstellen erscheint mir daher überaus reizvoll, jedoch bin ich von den anderen Filmen Oshiis solche expliziten Leerstellen, solche potentiellen Red Herrings nicht in diesem Ausmaß gewohnt. Vielleicht ist das in Bezug auf Oshii aber auch eine anhaltende Leerstelle in meiner Wahrnehmung. Möglicherweise ist daher eher der Wunsch der Vater des Gedankens, aber ich tendiere prinzipiell zu einer (dennoch natürlich vielfältig auslegbaren) bedeutungstragenden Funktion, die meiner Meinung nach für die Interpretation des gesamten Films von ausschlaggebender Relevanz sein könnte. Die Sonnenbrillen würde ich, man beachte ihr pulsieren im Koffer, als Ausdruck von Leben, also als symbolisches Herz Koichis verstehen. Etwas, womit die verbliebenen Figuren des Films nichts mehr anfangen können. Die Farbe Rot ist ja auch die Farbe des Blutes, der Leidenschaft, auch der Liebe. Überhaupt ist meiner Meinung nach das Liebesmotiv ein wichtiges in Oshiis Werk – der Mensch als vor allem fühlendes Wesen – etwas worauf wir bisher leider noch gar nicht eingegangen sind. Das mag jetzt etwas plump wirken, aber ich denke Gefühle sind bei Oshii nicht primär biologisch, sondern psychologisch bedingt. Liebe also auch als Ausdruck einer Idee, einer Konstante, die die übliche Mensch-Maschine Dychotomie aufsprengt, indem sie als durch Gefühlsanaloge Regungen positiv konnotiertes Element innerhalb des filmischen Universums von Oshii auch ganz traditionelle Demaraktionslinien zwischen den Schurken und den Helden zieht. Die „Seele“, das emotionale meschliche Potential in all seinen Interpretationsstufen, bleibt also vor allem auch dadurch weiterhin zentral.
Den Koffer an sich würde ich auch als klassischen MacGuffin verstehen, in Anspielung an Alfred Hitchcock, aber auch an einen Film wie Robert Aldrichs „Rattennest“ (Kiss me Deadly / 1955). Bezeichnend, dass die Leute die den Koffer im Film finden, mit dem Inhalt nichts anzufangen wissen. Sie suchen ja vor allem die Hülle, den Panzer. Die Sonnenbrillen habe ich auch als Analogie zu den roten Augen am Beginn des Films gedeutet, den roten Augen der Kerberos Einheiten, die in einer Einstellung auch prononciert von der Kamera eingefangen werden, als sie dem Zuschauer direkt entgegenblicken. Vielleicht trugen alle Soldaten als Teil ihrer Panzerung diese roten Sonnenbrillen? Die Farbsymbolik in Richtung linker Utopien habe ich darin aber auch gesehen. Beim Mantel des Mädchens, das sich am Ende rot färbt, bin ich aber wieder bei der Liebesmetapher angelangt, auch wenn ich das Gefühl habe mich damit innerhalb des Films zu verheddern. Rot ist zwar auch die Farbe des Teufels, der Umhang erinnert aber auch an den Marienmantel. Das Mädchen/die frau scheint ja irgendwie die Spielleiterin zu sein, vielleicht auch eine zweite übergeordnete Verkörperung des Regisseurs. Wie auch immer: Wir haben es hier insgesamt wieder einmal mit einem oszillieren zwischen öffentlicher und privater Symbolik Oshiis zu tun, die sich nicht eindeutig festlegen lässt. Oshii erschafft also auch hier neue, eigene Allegorien.
Mit der Rotkäppchen-Geschichte, um die es zehn jahre später in „Jin-Roh“ ganz explizit gehen wird, hat das an dieser Stelle aber meiner Meinung nach nichts zu tun. Wenn wir jedoch eine Chronologie der Ereignisse annehmen, und versuchen „Jin Roh“ als Prequel zu „Red Spectacles“ zu betrachten… Also, in „Jin-Roh“ ist der Protagonist der „Wolf“ der Rotkäppchen-Geschichte. Er ist Teil der Kerberos-Elite Einheit, freundet sich aber mit einem kleinen Mädchen an, das als Terroristin Botengänge mit Sprengstoff ausgeführt hat, wobei er Im Laufe des Films versuchtmit ihr aus seinem Leben zu fliehen (ich merke gerade: Vielleicht kommen auch daher Teile meiner Assoziationen zur Welt von „Red Spectacles“ als von vornherein dystopisch). Das mädchen in „Jin-Roh“ ist also Teil einer politischen Widerstandsbewegung, er ein Handlanger der politischen Macht die das Land beherrscht. Die Kerberos-Krieger sind also sozusagen herangezüchtet; der englische Titel „Jin-Roh: The Wolf Brigade“ bringt die Verbindung schön zum Ausdruck. Als solcher ist dann der Wolf, trotz seiner Liebe zu Rotkäppchen am Ende jedoch nicht fähig sie nicht zu fressen. Der Protagonist gehorcht letztendlich seiner Natur, in diesem Fall seiner „Programmierung“. In Umkehrung dieses tragischen Endes von „Jin-Roh“ wäre dann unser „Rotkäppchen“ in „Red Spectacles“ nicht so sehr der „Big Brother“, als der sie durch ihre ständige mediale Präsenz erscheint, sondern eine Art Konstruktion des Feindbildes, das für die Bevölkerung ständig präsent sein muss, welches es aber nicht mehr gibt. Also ein wenig wie die vermeintlichen Widerstandskämpfer in George Orwells dystopischem Roman 1984, die es ja auch nicht (mehr) gibt. Sie existiert aber immer noch als Geist, als Idee, und zeigt nicht nur Koichi den Ausweg aus seinem Dilemma – sein Tod wäre demnach eine Erlösung – sondern triumphiert am Ende auch über das Dargestellte, über den Film. Also ein Zeichen, welches die Realität der dargestellten Welt (die ja wie wir festgestellt hatten, sowieso ständig ihre Künstlichkeit zelebriert, und sich auch noch als Traum im Traum des Films herausstellt) auch in (Stellvertreter)richtung des Zuschauers transzendiert. Wie du sagst, wird die Inszenierung in dieser Schlussphase arg „mystisch“. Wir hätten hier also meiner Meinung nach eine spirituelle Dimension als Abschluss, was mit vielen weiteren Filmenden Oshiis übereinstimmen würde. Das Mädchen das uns Zuschauer direkt anblickt, ist eine Aufforderung die durch ihr aus-dem-Film-treten ja sozusagen direkt an uns herangetragen wird. Ich sehe da auch eine eindeutige Verwandschaft zu ähnlichen Blickinszenierungen bei Stanley Kubrick. Etwa das Schauen des Sternenbabys am Ende von „2001: Odyssee im Weltraum“ (2001: A Space Odyssey / 1968), die Blicke – „das Auge“ – von Alex in „Uhrwerk Orange“ (A Clockwork Orange / 1971), oder das Starren von Private Pyle vor seinem Selbstmord – übrigens auch in einer möglichen Traumsequenz – in Full Metal Jacket (1987). Alle diese Blicke in die Kamera richten sich an uns, fordern uns quasi direkt zu einer Reaktion, zu einer Stellungnahme zum Gesehenen heraus. Bei Oshii wäre das wie gesagt die spirituelle Dimension des Glaubens an sich – einer Wahrheit die sich im Gefühl der Selbsterkenntniss, also für mich der Liebe, findet.



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5 Antworten zu “Das Kino des Mamoru Oshii – Teil 1: The Red Spectacles (1987)”

  1. Manfred Polak on Juni 10th, 2013 at 21:43

    Sehr interessanter Text. Hab mir soeben die Cinema-Trilogie plus Soundtrack-CD gebraucht für 34 $ bestellt. Wer auch Interesse hat, sollte nicht zu lange zögern, sonst werden 1000 $ daraus … :-Þ

    Ihr habt ja schon jede Menge Referenzen zu anderen Filmen bzw. Regisseuren genannt. Mir ist beim Lesen noch Terayama in den Sinn gekommen. Der Schluss von PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY ist ebenfalls sehr deutlich von der Studio-Szene in Imamuras A MAN VANISHES abgeleitet, und auch bei Terayama ist der innere Drang zum filmischen Aufarbeiten der eigenen Biographie erkennbar. Mal sehen, ob sich die Assoziation beim Sichten von Oshii verstärkt oder in Luft auflöst.

  2. Sano Cestnik on Juni 10th, 2013 at 23:22

    Sehr löblich. 😀 Die von dir verlinkte US-Box ist übrigens auch unsere Sichtungsgrundlage. Leider ist auf der CD nur der Soundtrack von STRAY DOG enthalten. Den werde ich mir nach Sichtung des Films sicher bis zum Erbrechen anhören, jedoch lechzte mein Herz zunächst nach dem RED SPECTACLES-Soundtrack. Was im Dialog keinerlei Erwähnung findet: Die Musik von Kenji Kawai macht hochgradig süchtig. Nicht umsonst tanzt der Mann auf dem vorletzten GIF so ekstatisch nach ihrer Pfeife. 😀

    Von Terayama kenne ich nur eine handvoll Filme. Allesamt großartig, aber leider keiner der von dir so ausgiebig besprochenen dabei. Daher habe ich in deine Terayama-Texte nur sporadisch hineingelesen, mich an den wunderschönen Screenshots ergötzt, und mir gesagt, sie zu durchqueren, nachdem ich die besprochenen Filme gesehen habe. Von meiner Erinnerung ausgehend, kann ich aber wenig direkte Verbindungen von Terayama zu Oshii ziehen. Terayamas Filme scheinen mir noch um einiges abstrakter und wilder, im klassischen Sinne „avantgardistischer“ zu sein, und der Selbstbezug/die Selbstdarstellung exzessiver. Vielleicht kann Alex was dazu sagen? Er kennt möglicherweise andere Filme von Terayama als ich.
    Ansonsten bin ich auf deine Eindrücke nach der RED SPECTACLES-Sichtung gespannt. 🙂

    Ein großer stilistischer Einfluss wäre aber wie kurz auch im Dialog erwähnt Seijun Suzuki. Der hat dann auch mit Oshiis Drehbuchautor Kazunori Itô (neben RED SPECTACLES auch GHOST IN THE SHELL, AVALON, sowie die PATLABOR-Filme) 2001 bei PISTOL OPERA zusammengearbeitet. Das wäre dann auch ein Suzuki-Film, bei dem ich von einem Einfluss Oshiis auf Suzuki sprechen würde, und in dem sich auch eine eindeutige geistige Verwandschaft zwischen den Filmemachern ausmachen lässt. Ob Suzuki Ito in diesem Fall wegen seiner Kollaborationen mit Oshii ausgewählt hat, weiß ich nicht – denkbar wäre es.

  3. Medienjunkie on Juli 4th, 2013 at 22:05

    Hab’s jetzt auch nach einigen Hindernissen geschafft, den Film zu sehen. Befremdlich! Stilistisch gefällt er mir einerseits mit seiner Film Noir-Ästhetik sehr gut, dann komme ich aber auf der anderen Seite mit den zahlreichen Slapstick-Elementen und diesem gewollten Overacting überhaupt nicht klar. Das scheint mir aber etwas typisch Japanisches zu sein, nicht nur was den Film angeht, sondern ja etwa auch Mangas, wo ja auch der Zeichenstil plötzlich von einem Panel zum nächsten von realistisch auf cartoonesk überzeichnet wechseln kann.

  4. Sano Cestnik on Juli 6th, 2013 at 13:42

    Ja, bei der sersten Begegnung mit dem Film fühlten ich und Alex uns auch sehr überrumpelt. Und wie ich schrieb auch sehr überrascht, für diesen – auf den ersten Blick – eher „untypischen“ Oshii. Wiedersehen und eingehendere Analyse haben diesen Eindruck dann aber weitestgehend relativiert.
    Der FIlm funktioniert wie eine Live-Action-Variante eines Mangas, indeed. Und in Japan gibt es ja immer wieder Realverfilmungen von Comics, die das von dir benannte Wechselspiel mehr oder weniger direkt zu übernehmen versuchen. Ich kenne davon nur eine Handvoll (da mich das bisher nicht interessiert hat), und „Red Spectacles“ wäre hierbei sicherlich nochmal ein extremes Beispiel. Jedoch basiert der Film nicht auf einer Vorlage, auch wenn er die „Manga-Ästhetik“ teilt.
    Ich denke inzwischen der Humor in „Red Spectacles“ ist typisch Oshii. Zwar auch Hommage an bestimmte Sachen der Film- und Mangawelt, und Übernahme von Merkmalen (auch aus seinen früheren Anime-Arbeiten), aber fast die gesamte Handlung spielt sich ja im Grunde *SPOILER* im Kopf des Protagonisten ab, ist ein (Fieber)Traum, bzw. die letzten verstreichenden (Milli)Sekunden vor dem Tod. In diesem Kontext sind die teilweise verwirrenden inszenatorischen Spielchen auch nicht (mehr ganz so) unpassend.

    Dass der extreme(re) Stimmungswechsel eine Eigenart der japanischen Kunst ist, bzw. in Japan häufiger Anwendung findet als bei uns in Deutschland, würde ich auch sagen. Die Japaner hatten und haben aber auch nicht die Art von Konsenskino, wie hierzulande, wo das Fördersystem entweder Ernstes oder Lustiges fördert, bzw. nur sanfte Durchmischungen von Beidem. Das Groteske wird bei uns nicht (besonders) geschätzt, siehe zum Beispiel die oft Ablehnenden Eindrücke zu bestimmten Aspekten der Filme eines Oskar Roehler, oder auch gesamter Arbeiten wie Jud Süß. Ich denke, da spielt auch dieser ablehnende Gestus gegenüber Aspekten des Grotesken und Überzeichneten eine erhebliche Rolle.
    Für einen bemerkenswerten deutschen Film, der sich stilistisch in verwandten Gefilden wie „Red Spectacles“ bewegt, empfehle ich aber auch dieses Meisterwerk.

  5. Alexander S. on Juli 22nd, 2013 at 16:21

    @Medienjunkie: Ich kann nur voll und ganz bestätigen was Sano sagt! Mir ging es beim ersten Mal ähnlich und ich habe diese Irritation der plötzlichen Stimmungswechsel schon öfter im japanischen Film erlebt, so etwa in Tsukamotos TETSUO: THE IRON MAN, wo für mich ein unbeschreiblicher Horror plötzlich nach ca. 2/3 des Film ins Komische und Comichafte kippt und den ganzen Schrecken in eine Lawine herrlichsten Irrwitzes katapultiert. mittlerweile LIEBE ich dieses Stilmittel, das unserer deutschen vielleicht sogar umfassender „westlichen“ Kinokultur eher fremd ist.
    THE RED SPECTACLES gewinnt jedenfalls nochmal ungemein bei einer Zweitsichtung, so oder so! 🙂

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