Malpertuis (1972)



„‚It seems very pretty‘ she said when she had finished it, ‚but it’s rather hard to understand!'“

Mit diesem von Alice auf das rätselhafte Gedicht „Jabberwocky“ gemünzten Zitat aus Lewis Carrolls „Through the Looking Glass“ (1872) beginnt „MALPERTUIS“, das Wunschprojekt des Flamen Harry Kümel, den man wohl als filmischen Vertreter des belgischen magischen Realismus bezeichnen könnte, eine Stilrichtung die die Nachkriegsliteratur dieses Landes stark prägte.

Genau wie Carolls tiefsinnigen Nonsens prägt auch Kümels Verfilmung des gleichnamigen Romans (1943) von Jean Ray, dem „belgischen Poe“ das Paradox der Unmöglichkeit gleichzeitig zu erleben und zu begreifen, von Unmittelbarkiet und Reflektion und die verschachtelte Struktur des Films mündet am Ende in den selben Schlussgedanken wie Carrolls zweites Alice-Abenteuer: „Life, what is it but a dream?

Der Matrose Jan (Mathieu Carrière), kommt nach langer Zeit auf See in seiner Heimatstadt an, doch es ist keine Heimkehr des Odysseus, der nach langer Irrfahrt nur eben noch zu Hause in Ithaka Ordnung schafft. Vielmehr begleiten wir staunenden Zuschauer den Seemann nun auf seiner gerade erst beginnenden, sozusagen oneironautischen („traumfahrerischen“) Reise in die labyrinthische Welt von Malpertuis (=“Fuchsbau“), dem unheimlichen Anwesen seines Onkels Cassavius, gespielt von niemand geringerem als Orson Welles, der wohl am Set äußerst unleidlich und betrunken gewesen sein  und sich nur mit Regisseur Kümel vertragen haben muss.

Zunächst gerät Jan auf der merkwürdigerweise vergeblichen Suche nach seinem Elternhaus in den nebelverhangenen und fast menschenleeren Gassen von Brügge in den bizarr-bunt ausgestatteten Venus-Club, als er einer Frau in einem wallenden blauen Mantel nachrennt, die er für seine Schwester Nancy (Susan Hampshire) hält. Dabei wird er selbst von zwei rätselhaften Männern beobachtet, die ihm seit seiner Ankunft am Hafen folgen. Er gerät in eine Schlägerei, bei der er niedergeschlagen wird und wacht in den Armen seiner Schwester Nancy, mit der er ein fast inzestuöses Verhältnis zu haben scheint, im Haus seines Onkels Cassavius auf: Malpertuis.

Voller Schrecken darüber, an diesem Ort zu sein, will Jan sofort aufbrechen, doch schließlich überzeugt ihn sein anderer Onkel Charles Dideloo (genial neckisch: Michel Bouquet) zumindest der Verkündung des Testaments des im Sterben liegenden Cassavius beizuwohnen. Nach und nach begegnet Jan den vielen in Malpertuis wohnenden Gestalten, deren bloße profane Menschlichkeit durch ihre geheimnisvolle und teils beängsitgenden Aura eher fraglich ist. Als es zur Testamentverlesung durch den langbärtigen Hausdiener Eisengott (Walter Rilla) kommt, erwartet alle eine unangenehme Überraschung: wer etwas von dem reichhaltigen Erbe erhalten will, darf Malpertuis nie mehr verlassen…

Die zunehmend verworrener werdende Handlung ist im Grunde genommen nur ein loses Gerüst für die märchenhaften und unheimlichen Phantasmagorien die Kümel hier entfesselt: Erotische Begierden in kerzenerleuchteten Bibliotheken, Türen die mal in dieses, mal in ein anderes Zimmer führen, ein etwas übereifriger Taxidermist und schmelzende Kruzifixe sind nur einige der Kuriositäten die uns Kümel in wunderschön komponierten Bilder des späteren „Highlander“-Kameramanns Gerry Fisher vorsetzt und mit unaufdringlicher und subtiler Musik von Georges Delerue („L’important c’est d’aimer“) unterlegt.

Nicht nur für alle Enthusiasten des phantastischen Kinos ist „Malpertuis“ ein wahres Juwel, das seinerzeit zwar in Cannes wie viele große Filme durchfiel, aber zu einem Geheimtipp avancierte und  angeblich auch in Deutschland recht gut im Kino lief. Nach „Daughters of Darkness“ (1971) ist dies nun schon das zweite Meisterwerk des (halb)vergessenen Harry Kümel, dass ich gesehen habe und ich freue mich schon auf „De komst van Joachim Stiller“ (1976), das sich als das dritte entpuppen könnte.

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Juni 4th, 2009 in den Kategorien Alexander Schmidt, Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

3 Antworten zu “Malpertuis (1972)”

  1. Sano on Juni 23rd, 2009 at 16:25

    Kenne selbst noch nichts von Kümel, aber nachdem Christoph und du so enthusiastisch seid, wird es wohl meine Leidenschaften so ziemlich treffen.
    Wieder mal einer dieser Filmemacher, von denen man immer wieder irgendwas hört oder liest, die aber aus dem kollektiven Cineastengedächtnis in eine „Kult“-Nische verdrängt worden sind.

    Was mich an unserer Gesellschaft, aber auch spezifisch an der Filmgeschichte erstaunt, ist dass beinahe alle Filme die surreal, phantastisch, märchenhaft, oder sonstwie unheimlich sind, aus der gängigen Filmrezeption/diskussion verbannt werden. Extremes in jeglicher Form scheint nicht sehr beliebt zu sein, außer es steht in Verbindung zu klaren Intellektuellen Ideenkonstrukten (mit Betonung auf klar). Oder es ist halt ein irgendwie legendärer Filmemacher wie Godard, Bunuel, Bergman oder Kubrick. Das schaut man sich dann auch an….

    Realismus und Naturalismus scheinen in Kombination mit (kritischem) Humanismus, die Stilistischen und Inhaltlichen Präferenzen des 20. Jahrhunderts zu sein.

  2. Christoph on Juni 23rd, 2009 at 21:26

    Und das erstaunt dich? Ich gebe nur abermals mein geliebtes Schlagwort: Gesellschaftskritiksfetischismus. Oder auch: Wichtige Themen, historische Relevanz, filmreflexives Abstraktionsgeprotze…

    Ja, du hast das ganz treffend beschrieben: Das Träumerische, Unwirkliche, Surreale, Fantastische, Maerchenhafte und Extreme hat bei der Mehrheit der Kritiker und Filmwissenschaftler einen schweren Stand, es ist ihnen zu unserioes, kuenstlerisch zu egoistisch und esoterisch, nicht relevant genug, zu sehr auf eine subjektive Rezeption abzielend und daher ungeeignet, grandios allgemeingueltige und trutzige Phrasen fuer Kritiken daraus zu dreschen und, wie du mit deiner Umschreibung von Naturalismus / Realismus als stilistische Präferenz schon indirekt beschrieben hast, angesehen als eine abstrakte Form von Verrat gegenueber der „Wahrheitsfindung im Kino“ (Mir sträuben sich schon beim Schreiben die Nackenhaare) die im fruehen Tonfilm so schwer erkämpft werden musste. Dieser Kampf zieht bis heute weite Kreise und hat m. E. dieses voellig gestoerte Verhältnis der „intellektuellen“ Filmkritik und Filmwissenschaft (= der unverantwortlichen, aber federfuehrenden hoechsten Instanz, sozusagen) zu all diesen wunderbaren, aber eben egozentrischen, spirituellen, persoenlichen, „kleinen“, „unwichtigen“ Dingen auf dem Gewissen.

    Ich bin im Verlauf des letzten Jahres zu der Ansicht gekommen, dass der filmische Surrealismus und das artifizielle Hollywood-Kino der 30iger bis 50iger sich geistig näher stehen als es vielleicht zunächst den Anschein hat – beide ergehen sich gerne in Reizueberflutungen, die Sinne stimulierenden Eskapaden, die ihre eigenen unwirklichen Gesetze formen und von der weltlichen Logik losgeloest eine eigene artifizielle Existenz fuer sich erschaffen, in der die Ueberreste der Wirklichkeit zu merkwuerdigen Fratzen oder bizarr uebertriebenen Pastellbildern verformt werden. Ich denke hier natuerlich an ausgewählte Filme und auf viele trifft das nur szenenweise zu aber aus dieser Sichtweise heraus mag mir Alex vielleicht verzeihen, dass ich Filme wie z. B. THE SCARLETT EMPRESS, IMITATION OF LIFE, MAGNIFICENT OBSESSION, AN AMERICAN IN PARIS, A STREETCAR NAMED DESIRE (Ja, auch den – und ich lasse dich gerne raten, warum – wenn du so richtig surrealistisch sein willst, frag mich aber besser gar nicht erst), TEA AND SYMPATHY, THE SECRET GARDEN und VERTIGO natuerlich sowieso als mehr oder weniger, teilweise auch sehr, surrealistisch ansehe.
    Daher das Gefuehl das Verrats. Fuer mehrere Jahrzehnte mussten Filmemacher fuer Realismus und ein soziales Bewusstsein in Filmen kaempfen und obwohl sich die Euphorie ueber den Ausgang dieser Schlacht inzwischen laengst in eine unproduktive Starre verwandelt hat, schielt man immer noch feindselig ins andere Lager, wo Surrealismus, Mainstream und Genre-Kino gemeinsam ihren Portwein schluerfen. Diesen Sieg kann man wohl in die 60iger und 70iger datieren und obwohl Surrealisten und Sozialisten besonders damals als Filmemacher einträchtig miteinander harmonierten, hatte ich immer das Gefuehl, dass der Uebermut des surrealistischen Films und seine kurze Hochzeit nicht zuletzt eine wieselflinke Trotzreaktion auf die E-Welle war. Nur mein Eindruck, nichts, was ich untermauern koennte.

    Jedenfalls ist der Grundgedanke, die Realitaet oder ein ernsthaftes Realitätsempfinden als uninteressant abzuschieben und die stilistische Uebertreibung, bzw. uebertriebene Stilisierung in den Vordergrund zu stellen und an die Instinkte und Sehnsuechte des weltmueden Individuums zu appelieren, etwas das den Surrealismus und das alte Studio-Hollywood-Kino m. E. eindeutig eint. Man koennte nun mit gutem Recht argumentieren, dass das kommerzielle Kino ihn ausbeutet, aber was tut dann die andere Seite? Man waere bei einer Art Gut und Boese-Frage (!!!) angelangt, bei weisser und schwarzer Kino-Magie, schoener und schlechter Manipulation…

    @ Tulse (specifically): Ich habe mir darueber in den letzten Wochen allerhand Gedanken und auch meine Hausaufgaben gemacht – im Netz (da ich derzeit keinen Zugriff auf entsprechende Literatur habe) mehrere unterschiedliche Definitionen des Begriffes „Surrealismus“ ’nachgeschlagen‘ die mich allesamt in meiner Ueberzeugung bekräftigt haben, dass du den offiziellen Begriff (offiziell? Hm. Was heisst das eigentlich?) mindestens ebenso kräftig selbst interpretierst und modellierst wie ich (woran ich nichts schlechtes erkennen kann, weil wir m. E. beide doch immer noch brav dem roten Faden folgen, den die offizielle Definition uns legt, sofern wir den Begriff verwenden wollen. Erbsenzählerei läuft selbigem nach meiner eigenen Interpretation uebrigens auch zuwider). Dass du dich dabei auf die offiziellen Wegbereiter der urspruenglichen Bewegung wie Max Ernst oder Dali sowie auf diverse Werke der Sekundärliteratur berufst, sollte dabei m. E. zweitrangig sein (ja, ich egozentrisches, rotzbubiges Stueck, ich) – sonst dreht man sich genauso im Kreis wie die James Bond-Fans, die ueber die Modernisierung ihres Idols jammern, einerseits zurecht, weil es ein stoischer Dinosaurier seiner Entstehungszeit ist, der eine Modernisierung und Verschiebung seiner Attituede auf Dauer nicht ueberleben kann, andererseits zu unrecht, weil man auch ein Dinosaurier-Skelett fuer andere Zeiten und ein anderes Umfeld frisieren muss, auch auf die Gefahr hin, dass sich die kleinen, markanten Schnoerkel abschaben.

    Der Surrealismus ist sicherlich weniger antik als die Saurier, moechte ich meinen.^^
    Und er ist, bzw. sollte gegen unsere moderne Erklaerungswut immun sein. Wo die Schwierigkeit in unseren Diskussionen darueber ihren Ursprung hat. Du willst erklärt haben, warum ich dieses und jenes surrealistisch finde waehrend ich dir unterschiebe, dass du Surrealismus nur dann (an)erkennst, wenn er dir ins Gesicht springt, bzw. ins Gesicht geklatscht wird.
    [Auf den obigen Text komme ich irgendwann vielleicht noch einmal zu sprechen, dass ich ihn fuer misslungen halte, habe ich dir ja in meiner ueblichen Ruepelhaftigkeit schon mitgeteilt]

    @ Sano:

    DAUGHTERS OF DARKNESS koennte dir auch gefallen (wobei ich allerdings zunächst immer grundsätzlich davon ausgehe, dass dir Filme, ueber die wir gemeinsam schwärmen, immer erst einmal nicht zusagen;-), vor allem da er einen eigenen, abstrakten Fetischismus pflegt, mit Geschlechterrollen spielt (bzw. sexuelle Machtspiele ausgiebig einarbeitet) und die ikonographischen, „klassischen“ Bilder des Vampirfilms mit sowohl extremer Stilisierung, die mich teilweise sogar ein wenig an Kubrick erinnert, und ploetzlichen Einbruechen extremen Realismus verknuepft. Eine äusserst reizvolle Mixtur, ungefähr so, als hätten Dario Argento und Douglas Sirk zusammengearbeitet (auch wenn Alex das wahrscheinlich so nicht unterschreiben wuerde;-).

    PS:
    @ Alex:
    Mir ist uebrigens erst nach dem Lesen des Textes aufgegangen, das Kümel immerhin ein neuer Fetisch ist, den du sozusagen mir zu verdanken hast.^^ Das ist erfuellend und frustrierend zugleich – erfuellend, weil somit auch ich endlich DIR einmal etwas geben konnte (ich habe ja schon so einiges von dir) und frustrierend, weil ich erst eine solche, hm, voluminoese Portwein-Pulle auspacken musste.

  3. Christoph on Juni 23rd, 2009 at 21:27

    Oh Schreck, das war zuviel. Muss wohl eine Entzugserscheinung sein, was mir hier in England am SCHRECKLICHSTEN fehlt, sind die intellektuellen Filmdiskussionen mit euch.;-) Wie Sie sehen, wurden im obigen Posting die meisten ae’s mit ä’s ersetzt. Dies ist eine wohlwollende Geste, die sich nicht zwangslaeufig, äh, zwangsläufig ständig wiederholen wird.

Kommentar hinzufügen