Lulu (1962)





“Eine burleske Tragödie” verspricht klangvoll der Untertitel. Burlesk, das ist ein Adjektiv, das häufig das Frivole, das Obszöne, kurz: den Sleaze, miteinschließt. Man kann sich kaum ausmalen, welche ungeheuren Gefühle das deutsche Kinopublikum übermannt haben müssen, als es 1962 hilfloser Zeuge von Rolf Thieles unbarmherzigen Epos der reuelosen Verworfenheit wurde. Aus den verruchten österreichischen Ateliers geradewegs in die bundesrepublikanischen Provinzkinos! Und da wurde man Zeuge seiner großen Stars, die, einer nach dem anderen, getrieben, zerrissen und doch furchtlos der blonden Lulu in den Untergang folgten.

LULU ist ein verglühender, lüsterner Film. O. E. Hasse, Hildegard Knef, Mario Adorf, Rudolf Forster und Sieghart Rupp – sie alle verglühen unter dem ätherischen Schleier der Begierde für Nadja Tiller, die Rolf Thiele hier neu für sich erfunden hat. Denn auch er verglüht in den Sonnenstrahlen der von ihm geschaffenen Venus, die in der immer gegenwärtigen Lust, die sich aus ihr speist, badet und räkelt.

O. E. Hasse erfindet sie für Thiele, modelliert aus dem verwaisten Blumenmädchen von der Straße einen heißkalten Engel. My Fair Hussy. Der gedrungene Leon Askin ist ihr erstes Opfer: Der geschmeidige Reigen im hauchzarten Negligeé, den sie unter seinen hervorquellenden Augen tanzt, ist der Vorbote des Todes. Es wird ihnen allen so ergehen, den Männern um Lulu, und sie werden alle diesem glockenhellen Ruf vom anderen Ufer des Hades folgen, ganz gleich, was er in Aussicht stellen mag. So lässt Thiele “seine” Nadja Tiller auch das Publikum rufen, ein Publikum, das völlig überfordert gewesen sein muss von dem blanken Sex, der es mit scheinheiliger Unschuld anlächelte. Auch die tote Lulu, nackt auf dem Bett in einer Londoner Absteige dahingestreckt von Jack the Ripper (Charles Regnier spielt diesen nonchalanten Mephisto, der durch den Film führt), hat nichts von ihrer Erotik verloren. Am Ende ist sie nur wieder der Engel als Inkarnation des elusiven Begehrens, der miefige Moralismus perlt an ihrer weißen Haut ab und die Choräle der Kirchensänger unter ihrem Fenster umströmen ihren Leichnam, ohne in ihn zu dringen.

Moral ist Masochismus und Unmoral ist beherrschender Genuss, nicht erst seit dem Rokoko. Lulus Schöpfer, Doktor Goll (Hasse) begreift das als erster, und deswegen ist er der einzige, der Lulu – beinahe – die Stirn bieten kann.
Auf der verschlungenen, weißen Treppe seiner Villa. Lulu im schwarzen Abendkleid mit V-Schnitt. Die große Konfrontation. Es bricht aus ihm heraus, inbrünstig:

“Du Kreatur!… die mich durch den Dreck schleift!”
– “Warum hast du mich nicht besser erzogen?”
“Du Würgeengel! Du Freude meines Alters!”
– “Willst du mich umbringen?”
“Du haftest mir wie eine unheilbare Seuche an! Aber nun ist Schluss damit!”

Aber es ist nie Schluss damit. Das Lulu-Leid wird von den todgeweihten Männern gefeiert, nur die Gräfin Geschwitz (Knef) leidet leidvoll. Aus ihrer irisierenden Darbietung, ihrer zögerlichen Manie, offenbart sich, vielleicht zum ersten Mal im deutschsprachigen Kino, eine unendliche Depression einer aufrichigen, aber einseitigen Liebe von Frau zu Frau, in Würde. Nur ihretwegen ist man Lulu böse, die Männer, die wollen es nicht anders. Rodrigo (Adorf), der Zirkus-Dompteur, glaubt, er könne sie zähmen. Doch in einem unangekündigten, ekstatischen Striptease auf der Bühne als Salome, besiegt sie auch ihn und sein Machismo. Er wird das vielleicht erkennen, wenn er verblutend in einem Pariser Nachtclub kniet, weil ihm die Gräfin die Pulsadern aufgekratzt hat.
Wutentbrannt macht Dr. Goll Lulu nach ihrem skandalösen Strip einen Szene in ihrer Garderobe. Die souveräne Haltung ist dahin, er ist zum Hahnrei geworden. Lulu schlängelt sich, nackt, nur etwas bedeckt von einem Fell, auf ihrem Diwan. Er in der Loge und sie auf der Bühne, das stünde in keinem Zusammenhang, so meint er. Lulu nicht.

“Soll ich Ihnen sagen, was ich dabei dachte? Ich dachte, Sie würden anschließend zu mir kommen. Hat es Ihnen nicht gefallen?”
– “Sieh mich nicht so unverschämt an! Ich weiß, wo bei dir der Engel zu Ende ist und der Teufel beginnt!”
“Wenn Sie wüssten, wie mich Ihre Wut glücklich macht. Sie haben mich gedemütigt, weil Sie dachten, dass Sie sich dann leichter über mich hinwegsetzen könnten. Ich sehe es Ihnen an! Sie sind doch schon fast am Ende Ihrer Fassung!”
– “Willst du, dass ich mich an dir vergreife?”
“Ja! Was muss ich Ihnen noch sagen, damit sie es tun!”
– “Na warte!”
“Ja! Schlagen Sie mich! Schlagen Sie meine Beine! Wo ist Ihre Reitpeitsche?”

Wenig später wird Lulu ihn auf der besagten, weißen Treppe erschießen. Abknallen wie den Bösewicht in einem amerikanischen Melodram. Die Sittlichkeit hat es schwer in diesem Film, schlussendlich geht sie vor die Hunde, bevor Lulu geht und ist das Obszönste überhaupt.
Die Apokalypse der Gefühle, die Scham vor der Leidenschaft, die Sintflut menschlicher Abhängigkeiten, die maskuline Angst vor der Macht femininer Lust, die Maßlosigkeit des Träumens. Man sieht, Thieles Kino ist ein Kino der großen, existenzialistischen Themen, ein Kino surrealistischer Sittenbilder. Mit dröhnendem Schädel müssen Herr und Frau Müller 1962 das Kino verlassen haben, bis in die Träume müssen sie die gleißenden, wogenden und marmornen Schwarzweißbilder des Begehrens aus Thieles abgründigem Garten der Lüste verfolgt haben. Warum ich all das schreibe? Weil diese Bilder von solch einzigartiger Kraft sind, weil Thieles entschlossene Furchtlosigkeit so konsequent ist, dass man auch heute noch unter Nadja Tillers todbringendem Sog verglüht. Liebe ist Zeitgeist, Sex ist Klassik.

LULU – Österreich 1962 – 95 Minuten, schwarzweiß
Regie und Buch: Rolf Thiele – Nach den Stücken „Die Büchse der Pandora“ und „Erdgeist“ von Frank Wedekind – Produktion: Otto Dürer – Kamera: Michel Kelber – Schnitt: Eleonore Kunze – Musik: Karl de Groof
Darsteller: Nadja Tiller, O. E. Hasse, Hildegard Knef, Rudolf Forster, Fritz von Friedl, Sieghart Rupp, Mario Adorf, Charles Regnier, Klaus Höring, Leon Askin, Herbert Fux

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Januar 15th, 2011 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christoph, Das Hofbauer-Kommando, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “Lulu (1962)”

  1. Whoknows' Best on Januar 16th, 2011 at 01:31

    Unfassbar, was für Luder die arme Nadja Tiller doch spielen musste! Vom Mädchen Roemarie zur Lulu… – Und warum habe ich immer den Eindruck, Charles Regnier sei für den deutschen Film das gewesen, was Michel Piccoli für den französischen war – bloss wesentlich gemütlicher?

  2. Christoph on Januar 16th, 2011 at 02:22

    Ja, total toll, was für Luder die glückliche Nadja Tiller spielen durfte! Ich kenne noch viel zuwenige Filme mit ihr, aber eine Schauspielerin, die in diesen Jahren mit Rollen wie LULU oder Hilde Susmeit in ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN (vermutlich ihre exzessivste Rolle, spekuliere ich mal) gesegnet wurde… Das bemerkenswerte an diesen Figuren (auch ROSEMARIE) ist doch, dass sie letztlich aufgrund ihrer aggressiven, dominanten Sexualität alle Männer um sie herum wimmdernd im Boden versinken lassen. So gesehen steht Nadja Tiller schon fast für eine besonders progressive (andere würden sagen: fragwürdige. Oder vorgetäuschte.) Form von Feminismus im deutschen Kino dieser Jahre, als formvollendete Gottesanbeterin, gegen die kein Mann eine Chance hat. Ungemein schade, dass DIE WEIBCHEN der eine von den drei deutschen Zbynek Brynych-Filmen war, in dem sie nicht mitspielte.

    Die Assoziation Regnier-Piccoli ist interessant. Allerdings agiert Regnier ja immer sehr trocken und kalt, weswegen ich nicht auf diesen Gedanken gekommen wäre. Ich denke bei Regnier immer eher an Boris Karloff, irgendwie. Unsereins träumt sich manchmal fiktive Filme zusammen und ich hätte gerne eine Verfilmung von DR. JEKYLL UND MR. HYDE mit Regnier in der Titelrolle, unter der Regie von Thiele, Alfred Vohrer, Jürgen Goslar, dem späten Veit Harlan oder sogar als Pop-Gruselgroteske von Michael Pfleghar (eine unfassbare Vorstellung).

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