Grau zieht der Nebel – eine Liebeserklärung an Mimmo Palmara und „Il vicino di casa“ (1973)




    I’ve built walls
    A fortress deep and mighty
    That none may penetrate
    I have no need of friendship, friendship causes pain
    It’s laughter and it’s loving I disdain
    I am a rock
    I am an island

    (Simon & Garfunkel – I Am a Rock)


Eine Vorbemerkung: Wie von Luigi Cozzi in den Begleitmaterialien zur deutschen Veröffentlichung inständig erbeten, wurden die Episoden dieser Fernsehserie im originalen Schwarzweiß angesehen. Original deshalb, weil dies schlicht die Form ist, die sie – dem Stand der Technik geschuldet – bei ihrer Erstausstrahlung annahmen und für die man folglich komponierte. Architektur und Ausstattung wurden nicht entsprechend ihrer Farbkraft, sondern ihrer Wirkung in Schwarzweiß ausgewählt. Farbiges Negativmaterial stellte die RAI nur im Hinblick auf den gewandelten Zeitgeist bei etwaigen, allerdings wohl nicht erfolgten Wiederholungen zur Verfügung. Abschließend ein paar Vergleichsbilder, die hoffentlich vermögen, den teilweise nicht unerheblichen Unterschied aufzuzeigen.

    . . .

„Er liebt den Frieden und die Ruhe.“, hält Luigi Cozzi in der, dem „La porta sul buio“-DVD-Set aus dem seligen Hause Dragon als Extra beigegebenen Einleitung zu dieser, seiner Episode fest und spricht dabei nicht etwa von einem Helden, den man Minuten später in „Il vicino di casa“ dann nicht ausfindig machen können wird, sondern seinem Schurken. Alberto (Mimmo Palmara) heißt dieser und steht unmittelbar nach der Aufblende seiner Geschichte zentral, verlassen in einer kargen Nahaufnahme herum. Rechts hinter ihm eine Wanduhr, die sich allen Zuschauererwartungen entgegen nie zum Schlagen überreden lässt. Im Grunde würde er nichts lieber tun, als offenkundig in sich selbst ruhend eigenartigen Schrittes durch die Wohnung vor sich hinzuschaukeln – wäre da nur nicht diese Ehefrau, die als körperlose Lärmquelle von rechts in die Komposition schreiend nach ihrem Bademantel verlangt. Muss sie halt weg! Obwohl sichtlich entschlossen greift der nach sprichwörtlicher Grabesstille Dürstende mit dem ihm wohl immanenten Phlegmatismus zum Frotteegürtel und … denkste, bedächtig das Fenster rückwärts nehmend schleicht sich die Kamera nie den Blick abwendend seitlich davon, in einer leichten Kurve nach rechts am Beton der Hauswand vorbei, hin zum stillen Wiegen des Meeres, denn Mord so zur Ellipse degradierend als wäre Meister Ozu am Werke. Mono no aware.

Doch der annähernde Halbkreis der Kamerafahrt ist noch nicht zu Ende geschlagen, kommt vielmehr plötzlich am Strand an, wo zwei Städter (Laura Belli & Aldo Reggiani) mit Baby sich festgefahren haben – somit umgehend wieder Lärm verursachen. Es sind die neuen Nachbarn, die dem Möbelwagen vorausgefahren im Idyll aufschlagen und Alberto in einer Variante von Hitchcocks „Rear Window“ (1954) auf die Schliche kommen werden. Ein simpler Konflikt für einen netten Fernsehkrimi möchte man meinen und erlebt prompt sein blaues Wunder in Anbetracht der abstrakten Bilderflut, der präzise gesetzten Irritationsmomente visueller Natur, die ab des Augenblickes der Ankunft im karg möblierten neuen Eigenheim in sich steigernder Intensität auf uns einprasseln werden sowie des ungleich existenzielleren Konfliktes, der sich auf diese Weise aus seinem Gegenpart herausschält. Keine Sicherung im Stromkasten stellt das junge Paar fest, was uns mit ihnen, die diesen Umstand anscheinend irgendwann lapidar als Dauerzustand anzunehmen scheinen, gemeinsam in permanenter, alles in ein einheitlich trübes Kleidchen zwängender Düsternis hocken lässt – das Kind derweil mittig drapiert in einem Raum, vielmehr vier mal vier Wänden aus nacktem Beton. Ein eigenartige Lage implizierter Schutzlosigkeit in Anbetracht der räumlichen Nähe des Elternpaares, des doch normalerweise Zuflucht verheißenden Wohnsitzes.

Allein eine Fort- wie Rückschritt vereinende Kombination aus portablem Fernsehgerät und Wachskerze hellt die Nacht auf, während der besorgte, nach Decken suchende Papa die Klingel des Herrn Nachbarn surren lässt – ein Surren, das ungebührlich laut Resonanzräume zu finden in der Lage scheint, von der Montage ausgespielt wird gegen die nun bereits zu einem Achtel abgebrannte Kerze. Ein feiner Zeitraffereffekt, nicht unähnlich des sich ebenfalls aus dem sukzessive verringernden Leuchten einer Lichtquelle entspinnenden Parkbesuches in Dario Argentos von Cozzi mitverfassten „Quattro mosche di velluto grigio“ (1971). Eine noch bessere Gegenüberstellung – die Ruhe des Einen, das Kind der Anderen, wie soll hier Frieden herrschen? Von der ungeöffnet gebliebenen Tür abgewiesen findet man sich erneut vorm Fernseher ein, ein Konglomerat alter Universal-Horrorklassiker flimmert einem Feuerwerk der unterschiedlichsten Kontrasttupfer gleichkommend Widerhall auf Wänden und Gesichtern, reduziert diese zu bloßen Leinwänden für Cozzis experimentelles Spiel mit grellen Lichtausbrüchen, dem gleichmachenden Nebel der Dunkelheit, den verdächtig in gegensätzliche Extreme drängenden Kontrasten von drinnen und draußen. Es lässt die Kargheitum um sie herum langsam die Bedrohlichkeit der bei Tageslicht betrachtet doch so verschiedenen, expressiven Bauten des vorbeiflatternden „Dracula“ (1931) annehmen. Wie kann ein Mensch nur so wohnen … und dann auch noch beim lauten Tonspurgepolter aus „Frankenstein“ (1931) die Wohnungstüre auflassen – impertinente Spacken!

Alberto erschafft sich da lieber eine, selbst auf dessen Fließbewegungen verzichtende Miniaturvariante seines geliebten Meeres, einen Ruhepol im Wohnungsflur – das Wasser der Wanne, er hat es einfach aufgelassen und doch sickert es nie auf den Boden nach, muss seine nicht zu unterdrückende Kraft dann eben eine Etage tiefer in Form eines dämonisch-schwarz im allgegenwärtigen Grau vor sich hinwachsenden Wasserfleckes seine Bahnen brechen lassen. Eine Tatsache, die Stefania und Luca zu Einbruch mit eingeschlossenem Leichenfund provoziert und die Lebenswirklichkeit der beiden Parteien bei gegenseitigen Vertuschungsversuchen der Taten endgültig in Form wie Inhalt aneinanderprallen lässt.

Das endlose Grau in Grau der Räumlichkeiten, der Kontrast zwischen dem gleißenden Hell des oberen Treppenhauses und dem Stromausfall unten, immerzu begleitet von einer verfremdenden Melodie Giorgio Gaslinis fast einer Halluzination des heraufstarrenden Luca ähnelnd, letztlich diese bizarre, den Anschein des freien Schwebens erweckende Deckenlampe vorm Haupteingang, gelöst von echtem Anstoß pendelnd und pendelnd, ein elektrisiertes Omen. „Il vicino di casa“ ist ein Film, der auf dem Lande, dem heiligen Wunschbild, Refugium deutscher Expressionisten von Georg Heym bis Paul Boldt, spielt und es selbst dort noch schafft, die Zivilisation aufdringlich, eher schon existenzbedrohend wirken zu lassen, das GRAUen der Großstadt zielstrebig auch hier verortet. Schlimmer noch, trotz Umzug vermögen die Städter nicht es abzuschütteln: Wo sie sind ist Dunkelheit, gräulich einförmige Kälte, die Unruhe notdürftig am Laufen gehaltener Maschinen. Bis Alberto in einem Putsch die Kontrolle über beide Hausflure an sich reißt. Ausgeknockt und gefesselt erwacht Stefania Angesicht zu Angesicht mit einem lautlos tickenden, nicht jedoch losplärrenden Wecker, mit Sonnenstrahlen die sich durch ihre, somit auch unsere mittlerweile nicht mehr an sie gewöhnten Augen fräßen. Ein Hohn, die Eindringlinge zur Ruhe verdammt, das Haus, die Wände nun weiß erleuchtet, wärmer, seltsam friedlich.

Befriedet von einem Mann, der vielmehr einer sich wieder Geltung verschaffenden Naturgewalt gleicht. Mimmo Palmaras eigenwilliger Schritt, eine Symbiose aus Zögern wie Entschlossenheit, sanft, geradezu einfühlsam aus seiner massiven Statur sickernd die Stimme eines eremitischen Denkers, stets zwanghaft und doch so sachte die Brille vorm Sprechen auf- dann wieder abrichtend. Cozzis italienischer Raymond Burr, wie er ihn abermals in den Supplementa annerkennend nennt – ein leicht depressiv-gebeugtes, dennoch in sich selbst ruhendes Felsmassiv, das sich wieder und wieder eigenhändig abträgt und versetzt. Ganghofers laufender Berg. Keine Miene verzieht er beim Ausknocken, beim zarten Fesseln der Störenfriede, als er einmal unerwartet, wie in einen von Palmaras zahlreichen Pepla-Sidekicks verwandelt von Zeitlupe und Montage mit donnerndem Wiederholungen versehen durch eine Glasscheibe birst. Lobend erwähnt er die Findigkeit seiner Widersacher wie eine Art außerirdischer Menschenjäger. Jeglichen Anspruch darauf als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden muss er zwangsläufig ein für alle Mal ablegen, wenn Cozzi ihn wie Frankensteins Monster aus dem mitternächtlichen Horrormarathon mit Stefania beladen durch die Gänge schlurfen lässt. Er gehört einer unterschiedlichen Gattung an – wie könnte man ihm böse sein?

„L’assassino è costretto ad uccidere ancora“ (1975) – der Mörder ist gezwungen erneut zu töten, so weiß es der bemerkenswert deskriptiv betitelte erste Langfilm Cozzis, eine Weiterentwicklung zahlreicher hier erstmals aufgeworfener Motive und Fragen, die dem Zwang zu töten einen gesellschaftlichen Überbau schenkt. Nicht einmal am Rande existiert diese Gesellschaft hier, der Zwang ist schlicht der natürliche Lauf der Dinge, eine Mahnung an die Endlichkeit zivilisatorischer Errungenschaften, die Cozzi zwei Jahre später mit größtmöglichstem Nihilismus zusammenbrechen ließ und vor denen er als einer der bedeutendsten Vertreter einer neuerlichen italienischen Science Fiction so oft den Rückzug ins All antrat. Die von Alberto designierte Tötungsmethode unterstreicht diese Motive: Am Ende der den Regen eröffnenden Kreisfahrt aus dem Meer hervorgegangen schienen sie, in seine Fluten sollen sie wieder zurückgegeben werden. Zu einer melancholischen Klaviermelodie schreitet er bedächtig, Meerluft, Sand, zerklüftetes Gestein aufsaugend wie ein Lebenselixier in langen Takes zu und an der bebauten, doch eigenartig verwilderten Strandpromenade entlang, starrt von der sprichwörtlichen Wüste aus in die Ferne, dabei immer auf der Suche nach einem schönen Flecken, an dem die Flut sie verschlucken möge. Bisweilen wirkt Cozzis Film, als habe Michelangelo Antonioni einen Fernsehkrimi gedreht – als Feigenblatt für kaum verholene Zivilisationskritik, für ein abstraktes Essay zu Mensch und Natur.

Doch dem ist nicht so, die Bedürfnisse des Fernsehpublikums werden siegen, mit dem endlich nachkommenden Möbelwagen fährt die Zivilisation vor. Er wimmelt sie wieder ab, den Genussblick des die Freiheit bereits Schmeckenden im Gesicht, die einzige Freude seiner filmischen Existenz. Da schreit das Baby nach seiner Mutter, die Umzugshelfer alarmierend – nie hat man seine Ruhe. Ein Ende so indikativ für Cozzis spitzbübische, nie einen abschließenden Blick in die Karten zulassende Inszenierungsweise. Ist „Il vicino di casa“ jene rein landschaftliche Auseinandersetzung, die ich meine aufgespürt zu haben, oder handelt er doch von einer Depression, die sich in beinahe paranoider Umkodierung traditionell zugeschriebener Ortsbeschreibungen ergeht? Kürzeste Dialogfetzen Palmaras und des in einer flüchtigen Vorgeschichte als Anhalter aufkreuzenden Dario Argentos – der die Türen in die Finsternis des Titels darüberhinaus als Symbole für das Eintreten in Räume deutet, in denen es keinen Lichtschalter gibt, wo Stagnation herrscht – lassen auch diesen Schluss zu. Eine Antwort bleibt der Film schuldig, doch liegt auch sein Reiz in dieser Vagheit begründet, eine Vagheit, die es so ermöglicht nicht eine Brücke zwischen, sondern eine Einheit aus Cozzis rein assoziativem Experimentalfilmdebüt „Il tunnel sotto il mondo“ (1969) und seinen späteren narrativen Arbeiten zu schaffen.


Il vicino di casa – Italien 1973 – 56 Minuten – Regie: Luigi Cozzi – Produktion: Dario Argento – Drehbuch: Luigi Cozzi – Kamera: Elio Polacchi – Schnitt: Amedeo Giomini, Alberto Moro – Musik: Giorgio Gaslini – Darsteller: Mimmo Palmara, Laura Belli, Aldo Reggiani, Alberto Atenari und Dario Argento


Dieser Beitrag wurde am Freitag, August 31st, 2018 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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