Dasein – schlichtes, blankes Dasein: Oskars Kleid (2022)





Leichtherzig, aber nicht leichtfertig. So könnte man Hüseyin Tabaks Dramödie über ein junges Transmädchen, an dessen Lieblingskleid sich die Erwachsenenwelt weit über diese relative Harmlosigkeit hinaus entzündet, kurz und knapp zusammenfassen. Denn wenn nicht unerhebliche Teile der zeitgenössischen Kritik etwas vergessen haben, dann die Tatsache, dass der Film von Präsentation wie Werbung sogleich einen Salto rückwärts nimmt und die konkrete Ausgangslage gar nicht „Ich bin trans und deshalb ist mein Leben schlimm.“ lautet, sondern: Mein Vater ist alkoholabhängiger Polizist, hat Probleme mit seiner Maskulinität, darüber unsere Familie zerstört und nimmt mich in meiner Selbstfindung nicht ernst. Eine bisweilen bitter humoristische Zuspitzung, welche die aufrichtige Dramatik des Filmes durchweg auf sich treiben lassen wird und den schwarzen Peter sogleich gesellschaftlichen Bildern sowie insbesondere männlichen Wertvorstellungen zuspielt. Und eine sehr alltägliche zudem, vergleicht man sie mit dem übergeordneten Thema, welches in Deutschland nach wie vor wenig echte Erfahrung, dafür umso erbitterter geführte Diskussionen zutage fördert. Aus dieser Diskrepanz zwischen einer deutschen Alltäglichkeit und dem vermeintlich so Aufsehenerregenden heraus sowie ihrer beständigen narrativen Umkehr wie Verzerrung zum jeweils anderen Pol kann Florian David Fitz‘ weitsichtiges Drehbuch frei den Blick über das Wesentliche kreisen lassen, ohne Betroffenen joviale Mitleidigkeit oder übergriffige Pathologisierung mitzugeben.

Präzise wird das Umfeld ausgelesen, in Abstraktion tonangebende Teile der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Das Äußere mehr als das Innere ist es, welchem Fitz kritische Nachfrage gilt. In der zentralen Frage hingegen drängt er auf das einzig Richtige, nimmt seine Hauptfigur erst einmal ernst und ganz einfach beim Wort – nicht Einbildung, nicht Grund zu Jubelarien Dritter, sondern nur, was sie selbst zur Disposition stellt. Für den Moment jedenfalls vollendete Tatsachen. Den Rest besorgen andere. Auf diesem Entwicklungspunkt verharrt der Film; wohin der Weg führt, das ist unerheblich, während drumherum alles in Flammen aufgeht. Es ist letztlich völlig einerlei, ob sich Lillis Empfinden für die Erwachsenen endgültig die eigene Positionierung absichernd als pubertäre Verwirrung oder wichtiger Schritt im eigenen Aufwachsen herausstellt. Besetzt sind diese Positionen ohnehin vom ersten Augenblick der Kenntnisnahme an. Um diesen Zwischenzustand der erwachsenen Hilflosigkeit angesichts kindlicher Ernst- wie Aufrichtigkeit in der Kommunikation dreht sich „Oskars Kleid“. Er ist nicht vorrangig aus der Perspektive eines Kindes heraus erzählt, sondern um diese arrangiert.

Vieles bleibt im Bereich des Vagen, allein den Betroffenen selbst Offenstehenden, wenig für die Umstehenden greifbar. Die versteigen sich in vornehmlich an der Bestärkung des eigenen Ausgangspunktes interessierten Deutungen. Über diese universelle Ungerechtigkeit des bewussten Überhörtwerdens bei klarer Artikulation knüpft der Film das erste Band zwischen Publikum und vorgeblich doch so ungewöhnlicher Hauptfigur. Trans, das ist hier in erster Instanz etwas Externalisiertes, nicht mal zwangsläufig im direkten Bezug stehende Äußerlichkeiten, die Eltern unweigerlich ins Auge fallen – auswachsen gelassene Haare, das titelgebende Kleid. Im Grunde ist das letzte Wort in Sachen Selbstbestimmung ohnehin bei ebendiesem Titel schon entsagt, jedes Agens entzogen. Affirmiertes Deadnaming könnte man ihn nennen, das jedoch würde zu kurz greifen, ist er doch reines Zitat sowie Hinweisschild einer Haltung, die Fitz zu ergründen sucht und in grundsätzlich „nicht bös‘ gemeinten“ Worten ausfindig macht, die an den Rand drängen. Jeder mit jedem, alle gegen alle – die klimatische Struktur setzt auf Zuspitzung in Konversationen. Sie sind die Hauptattraktion, der money shot, in dem der volljährige Cast des Filmes groß aufspielen darf. Insbesondere die Männer des Filmes lassen allein ihre Variante des Wirklichen bestehen. Den Gipfel erklimmt ihre Borniertheit, als nach einem schulischen Zwischenfall der vom Holocaust geprägte Großvater, der zu explosiven Minderwertigskeitskomplexen abgerichtete Sohn und der gestandene schwule Aktivist aus dem Kollegium aufeinandertreffen. Eifrig kreist jeder der anwesenden Männer im Furor um die eigenen identitätsstiftenden Narben, die lediglich körperlich anwesende Lehrerin und Lilli bleiben stumm, müssen stumm bleiben. Wortlosigkeit ist ihr zugewiesener Platz. Wenn man so will, könnte es keine treffendere Validierung Lillis als Mädchen geben. In diesem Moment wird klar, dass es hier nicht um Identität geht, sondern etwas ungleich Integraleres noch: Dasein – schlichtes, blankes Dasein.

Irgendwann muss sich jede der zentralen Figuren einmal behaupten im Kampf darum, recht zu behalten. Bloß Lilli nicht, die zunehmend als reines Objekt in den Redeschwallen qua Alter Übergeordneter existiert. Eine Position, deren nacktes Ausgeliefertsein sich durch Hüseyin Tabaks geschickte filmische Konstruktion auf das Publikum überträgt. So erdrückend sind diese Schlachten am Küchentisch, in der Schule oder sogar einem Krankenhaus inszeniert, dass das vermehrt körperlich expressive Spiel der jungen Nachwuchsschauspielerin Laurì nicht nur auf einer rein technischen Ebene bereits als exkludiert erscheint, sondern auch als einzig statthafte Alternative zur über jedes Maß wortgewandten Ignoranz von Burghart Klaußners Bildungsbürgeropa. Dabei ist es gar nicht so, dass sie nicht mitreden könnte – es fehlt schlicht an allen Ecken und Enden preisgegebener Raum. Zwischen entgleisenden Gesichtszügen ist kein Platz für Selbstbehauptung. Sie muss sich körperlich Bahnen brechen. Kinder handeln, Erwachsene simulieren Handlungen, die ganze Gesellschaft spielt Jugend debattiert – ohne Jugend dafür mit Bias zu männlichen Gedankenwelten. In seinen dramatischsten Momenten stellt der Film diese von allen, die bestimmen dürfen, sicher gewähnten Verhältnisse ruckartig auf den Kopf, schließen sich die Handlungen der Kinder mit den Vorbehalten und Ängsten der Erwachsenen kurz – zu erschütternden Resultaten. Aus Wort wird Missetat.

Bislang überwiegend ein Konversationsfilm wird in Lillis verzweiflungsgetriebener Flucht von daheim, welche die zahlreichen verbalen Klimaxe in einen nach der Zermürbung ungewohnt greifbaren entlädt, dann gleichfalls deutlich, wie meisterlich Tabak Bewegung aufteilt auf Aktion und filmische Mittel. Erstere führt meist ins Leere, prügelt auf Konstanten des Aufwachsens ein, die sich verschieben beziehungsweise extern verschoben werden und zu schlechteren Resultaten führen. Psychischen Eskalationen und Selbstverleugnungen, die vom elterlichen Umfeld beständig mit einer Rückkehr zur eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit verwechselt werden. Die Weichen also sind durch Schläge in der Schule und Umerziehungsversuche bei Papa lange gesetzt, bevor Schnitt wie Kamera die Akteure in die Atemlosigkeit hetzen, ihre Worte wieder einzufangen, sie unter Druck halten, bis endlich Einsicht herrscht. Darin liegt die heilsame Kraft des Kinos begründet, dass sie Gegenpole schaffen kann zu den Strömen, die uns umgeben, den Bestrebungen der Worte die Disparität der Bilder entgegenhält. Nur durch Auflösung und Bruch in ihr können wir abschließend begreifen, dass „Oskars Kleid“ ein Essay über Rhetorik ist, oder gerade deren bis zur allgemeinen Bewusstlosigkeit konstituierte Abwesenheit.

So begreift auch der Film selbst sich weniger sozialdidaktisch-verwissenschaftlichtes Einsprengsel auf einer Seite des nachhaltig auseinanderklaffenden Diskurses, nicht einmal als Debattenbeitrag überhaupt, sondern als Zündfunke mit empathischem Impetus zum Sehen und Innehalten. Hören wir überhaupt noch zu, oder sind wir nur mehr unsere eigene Echokammer? Am deutlichsten wird dieser Ansatz in jenem väterlichen Aufklärungsgespräch mit einer älteren Transfrau, das als vorgebliches Herzstück des Filmes ankommt, jedoch als Beiwerk bleibt. Auch es fügt letzten Endes lediglich eine weitere externe Perspektivierung hinzu, Papa schnallt endlich etwas und offenbart darin die eigentlich schreckliche Gewissheit: Die Erwachsenen sind vernünftig, die klären das schon. Unter sich.


Oskars Kleid – Deutschland 2022 – 102 Minuten – Regie: Hüseyin Tabak – Produktion: Dan Maag, Daniel Sonnabend, Marco Beckmann – Drehbuch: Florian David Fitz – Kamera: Daniel Gottschalk – Schnitt: Ana de Mier y Ortuño – Musik: Josef Bach, Arne Schuman – Darstellende: Laurì, Florian David Fitz, Ava Petsch, Kida Khodr Ramadan, Senta Berger u.v.a.


[Alle Filmbilder Eigentum der Warner Brothers International Deutschland GmbH]

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Mai 13th, 2023 in den Kategorien Aktuelles Kino, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen