Felsklüfte im Herzen – Music (2023)
Füße und Hände – zu fragil, um wirklich am Boden verankert zu sein, mit dem Schuhwerk bewaffnet zur letzten Widerstandsgeste emporgereckt. Angela Schanelecs so kryptisch visualisierte wie betitelte filmische Ausflucht von der städtischen Isolation aus „Ich war zuhause, aber…“ (2019) in ein sonnendurchflutetes Griechenland ist derart voll mit diesen Gliedmaßenspitzen, dass man annehmen könnte, es ginge allein um sie. Doch sind sie lediglich kommunikative Wurmfortsätze von Körpern, die kaum einmal ein Wort hervorpressen. Einer in Skizzen, Landschaftsbildern und einem Hauch antiker Mythologie vorgetragenen Handlung geben sie eine verwundbare Tangibilität, die an unseren oberen wie unteren Sohlen ansetzt, über diese in den Körper wandert. Die Einführung bereits verdichtet alles Gewesene zu einer rasch stagnierenden Gegenwart; zu stark für den Geist, genau richtig für das Erleben. Ein junger Mann, Jon (Aliocha Schneider), der als kleiner Waise in den Bergen aufgefunden wurde und mehr durch eine Vorstellung von mythologischer Landschaft denn echte zwischenmenschliche Hingabe in Fleisch geformt scheint, muss für den tragischen Tod eines anderen ins Gefängnis. Jenen komprimierten Ort, der ihm anscheinend grenzenloses Verständnis in den Armen der ähnlich alten, identisch isolierten Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) bringt, einer klassisch narrativen Progression jedoch endgültig einen Riegel vorschiebt.
„[…]Das Leben im Gefängnis befindet sich sozusagen in der Schwebe, es hat weder Zweck noch Bedeutung … man hat sich nichts mitzuteilen.[…]“, zitierte einst schon die Rückseite der Plattenhülle von „Monarchie und Alltag“ (Fehlfarben, 1980) aus der deutschen Übersetzung von Raymond Chandlers „The Long Goodbye“ (1953). Alltag und Schwebe, das sind Worte, die so gut zusammengehen wie Schanelec und Ephemera. Sie bilden den Nährboden für die spezifische Räumlichkeit ihres Kinos von der esoterischen Entrückung der frühen Jahre bis zur soziokulturellen Handfeste in vagen Stadtruinen des vorangegangenen Filmes. Schon von der räumlichen Anlage her – irgendwann wird er uns nach Berlin zurücktragen, ob wir wollen oder nicht – ist „Music“ im Vergleich ein Schritt zurück, einer weiter. Gleich in den Abgrund unter Gefängnissen aus Stein und aus Luft. Füße schweben über ihm, regelrecht aufgebahrt auf Gefängnisschuhen aus Holz und mit zwei hohen Querstreben als Sohle sind sie dem Kontakt zum Boden enthoben. Hände ragen aus ihm empor, Hände, die nicht einmal mehr die Muße haben, den Knochenkäfig um die am Zellenboden irrlichternde Maus zu errichten, weil ein viel größerer Kerker darüber wacht. Und noch einer zwischen Boden und Decke. Der Abgrund ist das Seelenleben, die Schwebe direkt körperlich und das Gefängnis als reiner Bau die moderne, form- wie schmucklose Gravitas einer antiken Tragödie, die in zerklüftete Felsen geschrieben scheint und deren einziger Heldenmut Weiterleben lautet.
Draußen jedoch ist es hinterher kaum anders. Die Schwebe frisst sich ein, oder war sie immer schon da? Kein Vorher, kein Nachher, alleinig Aufenthalt – einmal eingeschlossen, einmal ausgeschlossen. Von der Existenz. Im Gegensatz zum literarischen Gefängnisheimkehrer, der sich nach etwas aus der Vergangenheit sehnt und es nicht mehr findet, hatte man nie etwas. Offene Türen tagein tagaus, vergitterte Fenster voll Sonnenschein, am Kadrierungsrand, im Bokeh, das Unwesentliche. Halb gefangen, halb frei – wäre es nur eines von beidem. Eine hermetische Räumlichkeit stellt sich in den Bergen und Dörfern nicht mehr ein. Verlust von Heimat, von Verankerung sehr wohl. Im Inneren. Mit modulationsloser Stimme nimmt Iro am Telefon eine Todesnachricht entgegen, im Hauseingang sitzend, ein schöner Sommertag hinterm Rechteck Ausgangsschwelle. Trauer ausgedrückt nicht in Emotion, sondern in Architektur. Alles scheint externalisierte Seelenlandschaft – Angela Schanelec und Kameramann Ivan Marković finden die betörendsten Sommerbilder für das Gefrieren der Psyche in eitel Sonnenschein. Wie wir uns fühlen, gibt der Welt ihren Lauf vor, und wenn dem nur in unserer Wahrnehmung so ist.
Kurz darauf geht Iro einen Gang auf uns zu, ihren letzten – zwischen Häusern und Straßen strahlt die Sonne wie etwas Abebbendes, nicht etwas Flutendes, ist sie Lebenskraft, die versiegt. Immer bloß von hinten und von den Seiten dringt sie durch, auch wenn die Kamera mit einem eleganten Schwenk von nur wenigen Grad vom Zurückgelegten zum Bevorstehenden umklappt. Säumende Lichtpfützen auf dem Pfad zum Ort ihres Todes funkeln wie Regenlachen, die man umgehen mag – es fällt traumwandlerisch leicht. Licht und Schatten, nur der Stand der Sonne schon, haben eine suggestive Expressivität inne, auf ihnen wandelt man hilflos den Pfaden der Götter und Sagen nach. Wieder sind es Sohlen, die den Kontakt zur Erde aufkündigen, dieses Mal bereitwillig. Beiläufig rutschen Iros nackte Füße einfach vom Sand die Klippen herunter. Kein Sprung, kein Ausrufezeichen. Als ihr Leben an der Küste endet, finden sich auch Jon und das Kind klein wie Insekten aus der Obersicht am Gestein des Ufers ein – es liegt längst vollends im Schatten. Plötzlich ist nichts mehr von der geradewegs körperlich spürbaren Hitze übrig, die Schanelecs Bilder durchflutet. Die Welt hat sich abgekühlt. Das Wasser ist den Bach runtergegangen. Wenige, dafür umso intensivere Szenen lassen ihre Figuren einmal wirklich etwas körperlich miteinander austauschen. In einer von ihnen hatte Iro wenig zuvor ihre Hände im Waschbecken gekühlt. Alleine ringen sie in einer Nahen um jeden Tropfen, bis Jons unerwartet in den körperlosen Rahmen hinzustoßen; zu einer Vereinigung, auch aber zu umspülter Zärtlichkeit, die zwei Handpaare als eines öffnet, um das lindernde Nass einer Kommunion gleich zu empfangen. Ich mag mich, mag meine Seele an dir abkühlen – ein weiches, zerbrechliches Bild für Begierde, für den extern abrinnenden Tränenstau, doch auch für basalsten Trost aus den Tiefen der Erde.
Immerzu führt uns ein solcher Strom zurück zum Ausgangspunkt, die auf den ersten Blick flatterhaft erscheinenden Bilderwelten von „Music“ erschließen sich meist retrospektiv, die Gefängnismaus ist nicht das einzige Tier, welches seinem Habitat enthoben wird. Noch im Auftakt hatte ein Freund aus Jons altem Leben einen winzigen Krebs beim Badeausflug aus dem Meer entnommen, ihn in der Handfläche immer wieder sachte zu ungelenken, ganz falschen Bewegungen angestupst. Erst nach einem Schubser zurück ins Wasser folgen die richtigen, dem eigenen Raum angemessenen. Am gelöstesten sind auch die Menschen stets im Wasser, zwei elegische Schwimmszenen zu Anfang und Ende sind es, in denen sie einmal zu freier Bewegung finden. Über die schweren Appendizes des Körpers hinaus gleiten sie dahin wie endlich angekommen. Vieles ist hier der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser, jenseits des übertragenen Sinnes bleibt wenig davon übrig. Denn der Mensch hat kein eigenes Gewässer, bleibt stets nur Gast in ihnen, ist keine Amphibie. Ein Umstand, dem der Film mit unterschwelliger Wehmut begegnet. Abermals ist es die Tierwelt, über welche Schanelec die menschliche Existenz zu fassen bekommt. Wie den Säugetieren, die markant nebenbei durch die Kadrage streunen, fehlt den Figuren ein fester Platz. Als der noch junge Jon aus der Hütte seines Erscheinens in der Welt getragen wird, reckt eine Ziege ihm den Kopf aus der Türe nach wie eine Mutter, die den Sprössling in die weite Welt hinauswandern sieht. Kein Irritationsmoment – selbst eine artübergreifende Geburt, sie würde letztlich keinen Unterschied machen.
Der Reihe handlicher Tiere, die über deren Hände und Füße in direkten Kontakt mit den Figuren geraten, wird hingegen ein drittes und letztes hinzugefügt. Sekunden bevor Iro ihrem Leben ein Ende setzt, erkundet eine kleine Echse den Sand um ihren rechten Fuß, steigt auf und reist auf diesem per Anhalter mit hinunter. Klammernde, einander fest- oder aufhaltende Tiere untereinander; retten kann die Echse Iro trotz offenkundiger Bemühungen nicht, jedoch verfestigt sich eine Ahnung aus diesen Symbolen: Bloß ein Tier ist der Mensch am Ende des Tages, eines dem sein Intellekt, die längst entleerten Zeichen und Gesten von Kultur nichts nützen. Auf diesem Stand hatte „Ich war zuhause, aber…“ uns einst zurückgelassen – doch wenn er hier sein Haupt erneut erhebt, ist der Film noch lange nicht aus. Wohin also mit einem, wenn die Sonne keine Wärme und das Wasser keine Heimat spenden kann, Hände wie Füße keinen Halt finden können? Man nimmt das Zweitbeste: Die schönen Künste und Berlin. Wie ein Fisch auf dem Trockenen.
- „Sink with me
Like a grain of salt
Into the sea“,
singt Jon dort. Wo Worte versagen, öffnet die Musik Türen zu Narben. Aus den klassischen Gesängen, mit denen in der Heimat immer wieder gegen den Weltschmerz angekämpft wurde, wird in der großen Ferne englischsprachige Popmusik. Der musikalische Ausdruck verschafft dem metaphorische Klarheit, was fern der zur Präzision erzogenen Alltagssprache unserer Welt liegt. Deshalb heißt der Film auch „Music“ und es läuft keine der Welt nicht immanente – sie ist ein Herbeizitieren guter Geister, Form gewordener Weltschmerz, nie aber ein Anstoßen der Figuren, eine Tanzanleitung aus dem Externen. Sie ist der Ausweg aus den beständigen Eingriffen des Lebens, dem Stromern, den unsicheren Schritten. Aus dem Schuhwerk hingegen weicht in Berlin jede Offenheit. Von durchlässigen Sandalen beschuht gaben Jons Füße vor seiner Verhaftung den Blick auf schwere Wunden preis, beim Schulunterricht, den er als Sträfling gab, erholten sie sich in luftigen Slippern, nur um auf dem deutschen Asphalt aufgeschlagen in hermetisch abgesohlten Sneakern zu verschwinden. Zwischendurch wird Heilsalbe gesucht, doch ob sie noch an ihrem Platz sind, erfahren wir nie. Angela Schanelecs untrügliches Gespür für die bildliche Verkapselung in Kleidung ringen unseren Tastwerkzeugen in weitere Ebene der existentiellen Ungewissheit ab: Die Schuhe werden beständig geschlossener, je mehr die Wunden verblassen – oder werden diese bloß nach innen transferiert? Klar erscheint der Weg nach außen und entgegen aller Unkenrufe, die Schanelec zuletzt vermehrt eine elitäre Weltsicht vorwerfen, ist er universell. Trauer und Verlust kennen keine sozialen Barrieren, weshalb ein Lied frei resonieren kann; über alle Grenzen hinweg, der Vortragende könnte überall, könnte jeder, könnte jedes sein. Dass alle Menschen sich für Kultur, sogar vermeintliche Hochkultur begeistern, in ihr Trost gegen das Erkranken an der Welt finden – das ist Angela Schanelecs großer Optimismus, die eine Träumerei, die sie sich inmitten all dieser nun bereits metaphysischen Traurigkeit gestattet.
Music – Deutschland, Frankreich, Griechenland, Serbien 2023 – 109 Minuten – Regie: Angela Schanelec – Produktion: Kirill Krasovski, François d’Artemare, Natasa Damnjanovic, Vladimir Vidic – Drehbuch: Angela Schanelec – Kamera: Ivan Marković – Schnitt: Angela Schanelec – Musik: Doug Tielli – Darstellende: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou, Argyris Xafis, Frida Tarana u.v.a.
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