Vorschau Filmfest München: SHIT YEAR (Cam Archer)



SHIT YEAR ist ein Film des amerikanischen Independentregisseurs Cam Archer, sein zweiter Spielfilm nach dem von Gus van Sant produzierten WILD TIGERS I HAVE KNOWN, der 2006 seine Premiere auf dem Sundance Festival feierte. Seitdem entwickelte der Film sich zu einem kleinen Independent-(Festival-)Hit, der im Juni 2008 von Salzgeber sogar einen kleinen deutschen Kinostart und eine anschließende DVD-Veröffentlichung spendiert bekam. Näheres zu TIGERS hier und hier, einen ersten Eindruck vermittelt auch der Trailer:



SHIT YEAR (zu dem es leider noch keinen Trailer gibt) scheint noch einmal ein ganzes Stück experimenteller geworden zu sein. Der Film wurde auf 16mm und in Schwarz-Weiß gedreht und handelt, so liest man, von einer erfolgreichen Schauspielerin, die ihre Karierre aufgibt und sich in ihre Haus in die Berge zurückzieht – und in der dortigen Isolation feststellt, dass sie mit ihrer Schauspiellaufbahn auch sich selbst aufgegeben hat.

Oder wie Archer selbst es im Interview mit dem „Filmmaker Magazine“ äußert:

„After making Wild Tigers I Have Known, the first [movie], I started to feel disenchanted by the creative process. I started thinking, what would it be like if I stopped making art. How would that affect my identity? Would I now mean something else? Do I define my work, or does my work define me? Could I exist without it? What I am getting out of it any more? I started to feel that it was losing the thrill that it once had [for me]. I had been obsessed, and I was starting to feel burdened, and that was shitty. I knew I didn’t want to make a movie about a filmmaker [to explore these ideas], but an actress seemed more interesting to me — someone who is already stepping into other identities and removing themselves from themselves. And then I thought, what if that actress is retiring?“ (…) Mehr

Die Hauptrolle in SHIT YEAR spielt Ellen Barkin („played to perfection“ – Variety), die in Deutschland leider nicht so bekannt ist wie in den USA – am Ehesten kennt man sie vielleicht noch aus THE BIG EASY (aber auch aus Solondz‘ PALINDROMES, aus Hills JOHNNY HANDSOME, aus Jarmuschs DOWN BY LAW). Auch mit Blick auf ihre eigene Karriere eine sicher interssante Besetzung.

Jay Weissberg schwärmt in „Variety“ weiter vor allem über die Kameraarbeit:

„Together with d.p. Aaron Platt, he’s [Cam Archer] created a world of striking images that combine elements from such black-and-white photographic masters as Garry Winogrand and Ansel Adams.“

Insgesamt scheint SHIT YEAR in Cannes durchaus gemischt aufgenommen worden zu sein (siehe z.B. Eric Kohn bei Indiewire), es gibt sogar Berichte, dass während den Vorstellungen nicht wenige den Saal verlassen hätten (was in Cannes ja eigentlich nie ein schlechtes Zeichen ist). Für mich klingt SHIT YEAR zunächst aber nach einer sehr spannenden Kombination aus formalem Experimentierwillen und sehr persönlich-reflektivem Inhalt – genug um mir den Film anzusehen.

Links:
SHIT YEAR beim Filmfest München
Ellen Barkin-Porträt der „New York Times“ (von 1993)

Vorschau Filmfest München: LA DOPPIA ORA (Giuseppe Capotondi)



Als „Mystery-Thriller in der Tradition von M. Night Shyamalan, erzählt als Liebesmelodram“ wird der Film LA DOPPIA ORA auf der Homepage des Münchner Filmfestes beschrieben. Giuseppe Capotondis Regiedebüt gewann auf dem Filmfestival in Venedig 2009 gleich drei Preise, darunter den Coppa Volpi für die beste Darstellerin, der an Ksenia Rappoport ging.

Auch Lee Marshall von SCREEN DAILY gab sich begeistert und sah frischen Wind durchs italienische Genrekino wehen:

„With this tasty genre piece, first-time director Giuseppe Capotondi proves there is life in Italian cinema beyond ponderous glossy dramas and pneumatic sex comedies. Mixing film noir, thriller, love story and supernatural horror, The Double Hour has some of the dour provincial atmosphere and subtly menacing tone of 2007 Italo murder mystery The Girl by the Lake; but it’s more intricately plotted, and takes us into much more intriguing dream-and-reality territory.“

Was auf dem Papier so klingt, als könnte Capotondi versuchen an einige der atmosphärischen, extravaganten italienischen Genremixe (mit Haupteinfluss des Giallo) der 70er anzuknüpfen, sieht im Trailer schon eher nach einem kühlen, unglamourösen psychologischen Thriller mit Euro-Noir-Anleihen aus:


Capotondi hat vor seinem Debütfilm hauptsächlich Musikvideos gedreht, so dass es nicht verwundert, dass der Soundtrack ziemlich ausgewählt ist und etliche Progressive Rock Bands vereint (u.a. „Godspeed You! Black Emperor“). Dazu hat Pasquale Catalano einen Score komponiert, einige seiner früheren Arbeiten (aus LE CONSEGUENZE DELL’AMORE von Paolo Sorrentino) kann man sich bei Youtube anhören. Klingt ein bißchen nach Philip Glass, aber in der Tat erstmal sehr atmosphärisch und viel versprechend.

Ein amerikanisches Remake soll angeblich auch schon in Planung sein.

Links:
LA DOPPIA ORA beim Filmfest München

Vorschau Filmfest München: DAS LETZTE SCHWEIGEN (Baran bo Odar)



Die Reihe „Neue Deutsche Kinofilme“ war 2009 am Tiefpunkt, als die Jury um Caroline Link den Förderpreis Deutscher Film in den Kategorien Regie und Drehbuch nicht vergeben wollte – aus Mangel an geeigneten Kandidaten und weil sie sich durch eine Vorschlagsliste bevormundet fühlte. Insofern wird diese Sektion 2010 sicher besonders im Fokus stehen, zumal die Jury mit u.a. Christian Petzold erneut mit Köpfen besetzt wurde, von denen nicht zu erwarten ist, alles unkritisch abzuwinken, was ihnen in der Reihe so vorgesetzt wird.

Mit dem frisch aus Cannes kommenden UNTER DIR DIE STADT von Christoph Hochhäusler, DER LETZTE SCHÖNE TAG von Ralf Westhoff und DER LETZTE ANGESTELLTE von Alexander Adolph sind schon mal drei Hochkaräter im Programm, die allerdings alle nicht für den „Förderpreis Deutscher Film“ in Frage kommen dürften, da es sich bei allen dreien um relativ erfahrene Regisseure handelt.

Ein möglicher Kandidat für den Preis wäre dagegen DAS LETZTE SCHWEIGEN des HFF München-Absolventen Baran bo Odar, mit dessen Nominierung den Kuratoren der „Neuen Deutschen Kinofilme“ durchaus ein kleiner Coup gelungen sein könnte.

Odars 60-minütiger, in Cinemascope gedrehter Debütfilm UNTER DER SONNE, dessen stylischen Trailer man sich auf der offiziellen Homepage des Regisseurs anschauen kann, war ein Festivaldauerbrenner von Max Ophüls über Sao Paolo bis Slamdance und erhielt hymnische Kritiken der deutschen wie ausländischen Presse (ebenfalls nachzulesen auf der offiziellen Homepage). Ein bißchen wirkt er wie der abgründigere kleine Bruder von Hendrik Handloetgens 80er-Kindheitserinnerung und Beatles-Hommage PAUL IS DEAD. UNTER DER SONNE wurde in Erlangen, dem Ort Odars Kindheit, gedreht.



Im Presseheft schreibt Odar dazu:

„Ich bin in einer typischen, deutschen Kleinstadt in den 80er Jahren aufgewachsen. Ein Ort, der überall in Deutschland wieder zu finden ist: Endlose Reihenhaussiedlungen, spießige Kleingärten, die dicht an dicht gereiht sind, heiße Asphaltstrassen, Steintischtennisplatten, leere Garagenhöfe, schreiende Kinder in Schwimmbädern aus Beton, Schürfwunden am Knie, Lakritzschnecken in weißen Papiertüten, Puffreis… Kindheitserinnerungen, die diese Zeit prägen und das Gefühl des Wohlbehüteten und des Sicheren wiedergeben. Aber auch für die Leere und Langeweile, die für diese Zeit steht. Allen geht es eigentlich gut und dennoch stimmt etwas in dieser heilen“ Welt nicht.

Diese Banalität lag wie eine kuschelige Decke über uns, beschütze uns und lag doch schwer auf unseren Schultern. Tauchte man erst einmal unter ihre Oberfläche, entdeckte man ihre erschreckende und gähnende Tiefe und Leere.

Die Entscheidung in meiner Heimatstadt zu drehen, fiel relativ schnell. Schon beim Schreiben des Drehbuches hatte ich ganz bestimmte Orte und Plätze im Kopf, die mir in meiner Jugend über den Weg liefen. So drehten wir die Reihenhaussiedlung und ihre Häuser, dort wo ich selber gewohnt habe: bei meinen Eltern und bei meiner früheren Nachbarin. Auch das Schwimmbad und die darum liegenden Wälder waren Orte, an denen ich meine Kindheit verbrachte.“

Insofern wirkt DAS LETZTE SCHWEIGEN erstmal wie die verlängerte Version von Odars Erstling. Wieder Nikolaus Summerer als Kameramann, wieder Cinemascope, wieder Erlangen und Umgebung als Drehort (siehe Making Of-Bericht hier), wieder die 80er als Ausgangspunkt, wieder die Provinz, ihre Oberflächen und ihre Abgründe. Diesmal aber mit einer ungeheuer prominenten Besetzung: Ulrich Thomsen, Burghart Klaußner, Kathrin Saß, Wotan Wielke Möhring. Der viel versprechende Trailer ist schon seit Monaten online:



DAS LETZTE SCHWEIGEN basiert auf dem Kriminalroman DAS SCHWEIGEN von Jan Costin Wagner, der Teil einer Trilogie um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa ist (also tatsächlich Skandinavien-Krimis von einem deutschen Autor).

Das Breitwandformat, die erfolgreiche Romanvorlage, die internationale Besetzung (wieder mit einem Dänen) wecken Erinnerungen an Anno Sauls unterschätzten, an der Kinokasse leider völlig untergegangenen Thriller DIE TÜR (der in München zufälligerweise im Rahmen der Hommage an Mads Mikkelsen ebenfalls zu sehen sein wird). Zudem war Baran bo Odar Regieassistent bei Maren Ades knallharter Provinzstudie DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN. Diese Kombination in der Verbindung mit Urbildern deutscher Kinogeschichte (von M bis zu ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG) lässt auf jeden Fall hoffen, dass hier ein außergewöhnlicher deutscher Genrefilm entstanden sein könnte.

Links:

DAS LETZTE SCHWEIGEN beim Filmfest München
DAS LETZTE SCHWEIGEN – Filmhomepage
Baran bo Odar
Nikolaus Summerer
Movies & Sports

Vollständige Ulrich Seidl-Werkschau beim Filmfest München


Die erste Retrospektive (mit dem/der CineMerit-Award-Preisträger/in wird noch eine weitere, vermutlich etwas kleinere folgen) des diesjährigen Münchner Filmfest steht fest: Ulrich Seidl. Und zwar mit allen Kurz- und TV-Filmen. Zitat:

Das FILMFEST MÜNCHEN präsentiert in der Retrospektive erstmalig alle Filme von Ulrich Seidl – eine Werkschau, die 30 Jahre umfasst: Von EINSVIERZIG, Seidls erstem Kurzfilm auf der Wiener Filmakademie, und DER BALL, „der Grund, warum man mich aus der Filmakademie rauswarf“ – bis hin zu aktuellen Projekten. Neben den Kinofilmen werden auch seine für das Fernsehen produzierten Filme (SPASS OHNE GRENZEN, DER BUSENFREUND, DIE LETZTEN MÄNNER u.a.) sowie einige kaum bekannte Kurzfilme zu sehen sein.

Mehr Informationen hier.

Zur Steigerung der Vorfreude schonmal: Romuald Karmakar über Seidls GOOD NEWS.

Da Cannes-Gewinner UNCLE BOONMEE WHO CAN RECALL HIS PAST LIVES von Apichatpong Weerasethakul eine Co-Produktion des Münchners „Haus der Kunst“ ist, stehen die Chancen nicht schlecht, dass auch er in München zu sehen sein könnte. Zumindest die letzten drei Jahre waren die Gewinner der Goldenen Palme (4 WOCHEN, 3 MONATE UND 2 TAGE, ENTRE LES MURS, DAS WEISSE BAND) auch immer beim Filmfest verteten.

100 Deutsche Lieblingsfilme #13: Die Sieger (1994)


Ein Politthriller als Geistergeschichte. Die Figuren sind Schatten in einem unübersichtlichen Geflecht aus Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen. Sie treten unvermittelt aus dem Dunkeln ins Bild und verschwinden dort wieder ebenso gleitend, sie sprechen aus dem Off, nachdem die Kamera sie nur flüchtig erhascht hat, flüstern, raunen sich im Vorbeigehen Vertrauliches zu, sind nur verrauschte Stimmen aus Funkgeräten, Telefonen oder von Tonbändern. Ein knallroter Regenmantel…

Es ist Zwischenkriegszeit. Der Kalte Krieg ist vorbei, BRD und DDR sind untergegangen, aber die „Berliner Republik“ hat noch nicht wirklich begonnen. In dieser Übergangsphase hält das organisierte Verbechen Einzug in die Politik, werden hinter Glasscheiben in den Konferenzzimmern die Anteile am neuen Land verkauft. Ein Trümmerfilm aus dem Jahr 1994.

Beschützt werden die Gespenster hinter den Glasscheiben vom SEK. Die Männer sind selbst Phantome, sie tragen Decknamen und Sturmhauben, bei denen nur die Augen als letztes Zeichen von Persönlichkeit hervorblitzen. Die Welt dieser Männer, ihre Rituale, ihr (brüchiger) Zusammenhalt sind wichtiger Teil von DIE SIEGER. Einer von ihnen, Heinz Schaefer ist ein Phantom aus der Vergangenheit – vor vier Jahren soll er sich umgebracht haben, doch Karl Simon erkennt ihn bei einem Einsatz gegen Geldfälscher wieder. Simon und Schaefer arbeiten beide für den Staat und sind doch Gegner in einem Dickicht aus V-Männern und machtpolitischen Grauzonen, sind Gehetzte, Zerrissene. Gesellschaftliches, Berufliches und Privates sind untrennbar, der Riss durch die Männer reicht tief in die Familien.

Oft wird DIE SIEGER als deutscher Actionfilm verkauft, dabei steht er eher in der Tradition der Polizeifilme von Lumet und den Mafiafilmen von Damiani. Doch Deutschland ist nicht Italien – die Mechanismen der Korruption laufen subtiler ab, vielleicht kann man ihnen nur mit Fantasie beikommen. Selten hat Grafs visueller Stil so gut zu einem Sujet gepasst, die unruhigen Kamerafahrten, die hektischen Zooms auf die Figuren, als ob er nach ihnen greifen, ihre Undurchsichtigkeit erfassen wollte. Genre heißt hier im Gegensatz zu vielen deutschen Filmen der 90er auch nicht der Wunsch möglichst amerikanisch auszusehen. Materiell ist der Film tief in der Bundesrepublik verhaftet: den Autobahnen und Raststätten, dem ICE und den Einkaufsmeilen, den Düsseldorfer Reihensiedlungen und den Vorstadtvillen. Hinter dieser materiellen Gegenwart lauern unterirdisch die Gespenster der Vergangenheit, der Terrorismus und sein politischer Mißbrauch. Sehnsüchte werden wach, nach DIE MACHT DES GELDES, dem Film den Graf nach dem Buch von Christoph Fromm über die Herrhausen-Entführung drehen wollte.

Das Ende des Traums vom deutschen Genrekino soll DIE SIEGER gewesen sein. Dass der Film gescheitert ist, darin schienen und scheinen sich fast alle einig zu sein: das Publikum, das ihn mied, die Kritik, die ihn nie bedingungslos liebte und auch Graf selbst – nach vielen Eingriffen ins Drehbuch.

Aber das Schöne am Kino ist, dass die Produktionsgeschichte irgendwann zurücktritt und es kein „hätte, könnte, sollte“ mehr gibt. Und der Film beginnt ein Eigenleben in den Köpfen der Zuschauer zu entwickeln, das weder der Regisseur mit seiner Vision noch die Filmbürokraten mit ihrem Kommerzstreben so vorhersehen können. Es ist wie bei Ciminos HEAVEN’S GATE, wo die Träume zu groß werden fürs Kino, wo nur noch Spuren, Bruchstücke, Ahnungen davon auf dem Zelluloid zurückbleiben. Doch Unvollkommenheit heißt auch immer Unabgeschlossenheit und damit: Offenheit. Eine Einladung mitzuträumen.

Der Traum vom deutschen Genrekino, so viel zu groß er manchmal auch scheinen mag, ist jedenfalls noch lange nicht ausgeträumt.


Die Sieger – Deutschland 1994 – 130 Minuten – Regie: Dominik Graf – Drehbuch: Günter Schütter – Produktion: Günter Rohrbach, Christoph Holch – Kamera: Diethard Prengel – Musik: Dominik Graf, Helmut Spanner, Loy Wesselburg – Darsteller: Herbert Knaup, Katja Flint, Hannes Jaenicke, Heinz Hoenig, Meret Becker, Natalia Wörner, Thomas Schücke.

Screenshots: © Eurovideo

Cannes aus der Ferne #2

Das Wichtigste zuerst: James Grays Abenteuerepos THE LOST CITY OF Z, sein erster Ausflug außerhalb der New Yorker milieus, nimmt immer konkretere Formen an. Wie Screen berichtet ist Inferno Entertainement in das Projekt eingestiegen, was zur Folge haben könnte, dass die Dreharbeiten demnächst beginnen können, sobald Brad Pitt das vormalige Soderbergh-Projekt (jetzt: Bennett Miller) MONEYBALL abgedreht hat. An der Stelle sei nochmal auf das mittlerweile schon fast ein Jahr alte Interview mit Gray bei collider.com hingewiesen, in dem Gray über den Film, die Hauptfigur Percy Fawcett und Werner Herzog spricht.

Screen weiß auch das Neueste über ALLELUIA, ein Serienkillerroadmovie und das neue Projekt von Fabrice du Welz (VINYAN, CALVAIRE).

Der Wettbewerb in Cannes scheint unterdessen weiter vor sich hinzudümpeln, weder größere Totalausfälle noch Meisterwerke sind bisher von der Kritik entdeckt worden. Die Langeweile scheint einige Kritiker schon so übermannt zu haben, dass sie sich die kleinen Skandale selber zusammen dichten. Der ausgebuhte (oder auch nicht) Kiarostami interessiert mich nach dem meiner Meinung nach völlig fehgeschlagenen SHIRIN eigentlich nicht besonders, aber es scheint neben Mike Leighs ANOTHER YEAR der Film zu sein, der mit am Wohlwollendsten aufgenommen wurde.

Spannender klingt da schon OUTRAGE von Takeshi Kitano. Schon im ersten Satz seiner Kritik bei Screen schafft Dan Fainaru es, mir sehr klar zu machen, warum es ein schlimmer Fehler war, die letzten Kitanos bei Festivals immer auszulassen (ich hätte da natürlich auch einfach auf Andreas hören können):

„After eight years of soul-searching filmic experiments, using himself, his art and everything he did in the past for metaphorical purposes, Takeshi Kitano is back at what obviously comes easiest for him, another Yakuza picture (…)“.

Auch wie Jan Schulze-Ojala den Film in der ZEIT beschreibt, klingt das alles sehr vielversprechend: kompromisslose Gewaltdarstellung trifft kompromisslose Gesellschaftskritik.

Bleibt noch der Geheimtipp, den Blickpunkt: Film ausgemacht und den auch Movies & Sports aufgegriffen hat: LES AMOURS IMAGINAIRES des sehr jungen Québécois Xavier Dolan. Wirklich jeder scheint begeistert vom Talent des 21-Jährigen zu sein, auch wenn einige noch einen wirklich eigenen Stil vermissen. Sein Debüt J’AI TUÉ MA MÈRE war seinerzeit ein Riesenhype in Montréal, auch hier hat wirklich jeder davon geschwärmt (was wiederum durchaus verdächtig war, ich selbst habe ihn leider verpasst). Sein Debüt hatte der 21-Jährige selbst geschrieben, selbst produziert, selbst die Hauptrolle übernommen, selbst Regie geführt und sogar die Poster selbst entworfen und es damit schon bis zur Quinzaine 2009 nach Cannes geschafft. Auch bei seinem neuen Film scheint Dolan wieder ähnlich viele Aufgaben übernommen zu haben. Der Trailer zu LES AMOURS IMAGINAIRES sieht in der Tat nach einer Mischung aus Nouvelle Vague und Wong Kar-Wai aus, fast schon zu sehr, so als hätte man beides mit einem Regieprogramm am PC zusammen geworfen. Aber allein schon weil der Film im Montrealer Viertel Mile End gedreht wurde, muss ich ihn unbedingt sehen. Bitte liebes Filmfest München, nutzt eure Québec-Connection und holt ihn im Juni zu euch!

Update: BLUE VALENTINE von Derek Cianfrance, mit Michelle Williams und Ryan Gosling in den Hauptrollen, hatte (scheinbar heute?) seine erste Aufführung in der Un certain regard-Reihe. Seine Premiere hatte der Film schon in Sundance und bekam fast durchweg enthusiastische Kritiken, siehe hier, hier oder hier. Mir genügt diese Inhaltsangabe und dieser kurze Filmausschnitt, um zu wissen, dass ich den Film sehen will. Sieht aus wie eine Mischung aus Cassavetes und Maren Ade, vielleicht ist es sogar der Film, als den ich mir ALLE ANDEREN (der trotzdem toll war) gewünscht hätte. Nur eben mit Michelle Williams, die gerade in MAMMOTH gezeigt hat, dass sie mit ihrer Performance auch einen eher mißglückten Film ganz allein tragen kann

Update 2: Variety liebt PICCO von Philip Koch, der in der Quinzaine des Réalisateurs läuft und beim Max-Ophüls-Preis schon die deutsche Filmkritik beeindruckte.

Cannes aus der Ferne #1


Cannes, dritter Tag, was bisher aus der Berichterstattung hängen geblieben ist:

– Am Interessantesten im Market: Jean-Claude Van Dammes zweiter Film als Regisseur THE EAGLE PATH (der nicht sein Debüt ist, wie Jordan Mintzer von Variety behauptet, das war THE QUEST). Mintzer zerreißt den Film in der Luft, aber was er über die freudianische Montage und van Dammes Versuche sich als europäischer Auteur à la Godard zu gerieren schreibt, klingt ultraspannend. Den Trailer gibt es auch schon, könnte in der Tat experimentelles Actionkino zwischen Trash und Avantgarde werden.

– Was das Autorenkino angeht wäre auch MARTI, DUPA CRACIUN (TUESDAY, AFTER CHRISTMAS) von Radu Muntean zu nennen, der in Un Certain Regard läuft. Für Besucher des diesjährigen Filmfests München vielleicht besonders interessant, da schon Munteans Vorgängerfilm BOOGIE in München 2008 im Internationalen Programm gezeigt wurde (der seinerzeit in Cannes in der Quinzaine des Réalisateurs lief). Und da sich letztes Jahr ein verstärkter Fokus auf Rumänien in München ausmachen ließ (mit, ich glaube, drei oder vier Filmen), besteht eventuell berechtigte Hoffnung TUESDAY, AFTER CHRISTMAS dieses Jahr auch auf dem Filmfest sehen zu können.

Steven Zeitchik von der L.A. Times ist der Film jedenfalls Anlass darüber zu spekulieren, ob es in Rumänien illegal sei, schlechte Filme zu drehen. Barbara Schweizerhof von epd Film hat ihn als ihren Lieblingsfilm der ersten anderthalb Tage in Cannes entdeckt. Und auch Variety zeigt sich angetan. Einig scheinen sich alle in ihrer Begeisterung über Munteans reduzierten, minimalistischen Stil (aber eben doch „distinctly stylized“ wie Zeitchik schreibt) zu sein, der sich ganz auf seine Figuren konzentriert.

– Von den Wettbewerbsfilmen finde ich CHONGQING BLUES von Wang Xiaoshuai am Interessantesten. Die Tatsache, dass hier wie in CHUNGKING EXPRESS von Wong Kar-Wai die Stadt CHONGQING als schmerzlich-melancholischer Sehnsuchtsort im Mittelpunkt zu stehen scheint, genügt mir, um mich auf den Film zu freuen. Die Presseschau, die David Hudson bei Mubi (vormals The Auteurs) zusammenfasst, klingt auch vielversprechend.

AKTUALISIERT: Links zu Cannes



Ein paar Links zum Filmfestival in Cannes, auf die Schnelle zusammengestellt, laufend aktualisiert:

    15. Mai:

  • Rüdiger Suchsland schreibt auch ein Cannes-Tagebuch für critic.de!
  • ———————————————————————————————————————————–

    14. Mai:

    #8

  • Über die Filme der Semaine de la critique berichtet der Blog der ganz jungen Kritik bei critic.de. Da zu den Filmen der Semaine immer mehrere Kritiken (auf deutsch und französisch) gepostet werden, ergibt sich jeweils ein schönes Stimmungsbild. Neben 24 Schülern sind auch zwei Redakteure von critic.de vor Ort, die beide auch über den offiziellen Wettbewerb und Reihen wie Un certain regard schreiben. Das Programm der Semaine klingt fast vielversprechender als die Filme, die um die Goldene Palme konkurrieren.
  • ———————————————————————————————————————————–

    13. Mai:

    #7

  • Wer sich selbst ein kurzes Bild machen möchte: Auf der offiziellen Homepage des Filmfestivals gibt es die Trailer zu 14 der 18 Wettbewerbsbeiträge, dazu auch noch zu vielen Filmen aus den Nebenreihen.
  • #6

  • Der Schweizer Filmjournalist Michael Sennhauser schreibt in seinem Blog aus Cannes, in bemerkenswerter Aktualität. Während die deutschen Medien, evtl. auch feiertagsbedingt, sich noch über den Eröffnungsfilm ROBIN HOOD mokieren, bespricht er bereits die ersten Wettbewerbsbeiträge: TOURNÉE von Mathieu Amalric und RIZHAO CHONGQING von Wang Xiaoshuai.
  • #5

  • Der von Variety entlassene Todd McCarthy berichtet jetzt für indieWIRE aus Cannes. Die Seite hat auch einen Minute-für-Minute-Service, mal abwarten was der taugt.
  • #4

  • Noch nicht so viel tut sich dagegen in den Blogs der deutschen Filmzeitschriften. CARGO bietet auch dieses Jahr wieder seinen SMS-Service mit Kurznachrichten aus Cannes an. Die beiden Filmzeitschriften aus dem kirchlichen Umfeld epd Film und film-dienst haben zwei eigene Blogs eingerichtet, auf denen sich bisher aber nur Vorberichtserstattung und noch keine aktuellen Beiträge zu Filmen finden. Bei artechock wird Rüdiger Suchsland wohl wieder regelmäßig seine Notizen posten, Nummer Eins ist bereits erschienen.
  • #3

  • Den Cannes-Ticker mit Zusammenfassungen der Online-Berichterstattung bietet Movies & Sports.
  • #2

  • Für The Auteurs berichtet David Hudson aus Cannes.
  • #1

  • Ansonsten natürlich die üblichen Verdächtigen für Reviews zu fast allem: Variety, Hollywood Reporter, Screen Daily und Total Film.

Im Kino: Les herbes folles (Vorsicht Sehnsucht)

„Wenn man aus dem Kino kommt, kann einen nichts mehr überraschen. Alles kann mit größter Selbstverständlichkeit passieren“, sagt der Off-Erzähler in LES HERBES FOLLES, kurz bevor Georges aus dem Kino kommt, in dem er sich gerade THE BRIDGES AT TOKO-RI mit William Holden und Grace Kelly angesehen hat. Wenn man selbst abends aus LES HERBES FOLLES aus dem Kino kommt und in die Nacht mit ihren bunten Leuchtreklamen tritt, weiß man vielleicht für ein paar Sekunden nicht, ob man sich nicht doch noch im Film befindet – so intensiv strahlen die Farben aus Resnais’ neuem Film nach. Und wenn man langsam merkt, dass der Film jetzt wirklich zu Ende ist, dann ist man vielleicht ein bisschen enttäuscht, weil die Realität so nüchtern gegenüber der farbenfrohen Verspieltheit des Filmes wirkt.

Georges hat das Portemonnaie von Marguerite gefunden und war fasziniert von den zwei Fotos, die er darin entdeckt hat: auf dem einen, dem auf dem Ausweis, schaut sie so ernst und auf dem zweiten, dem auf dem Flugschein, so lustig, sie hat sogar ihre Fliegerbrille dafür hochgeschoben. Weil Georges das Fliegen liebt, vielleicht aber auch weil er von ihrer knallroten Mähnenfrisur fasziniert ist, fängt er an Marguerite nachzustellen: erst mit Anrufen, dann mit Briefen, schließlich schlitzt er – weil sie ihn immer noch nicht beachten will – ihre Reifen auf. Eine ganze Weile ist nicht so ganz klar, ob LES HERBES FOLLES ein Liebesfilm oder ein Film über einen Stalker ist, ob Marguerite nur die Verliebtheit eines Verehrers nicht sieht oder ob sie in tödlicher Gefahr schwebt. Auch Georges scheint sich nicht ganz sicher zu sein, seine Gedanken, in die man als Zuschauer immer mal wieder kurze Einblicke erhält, schweifen manchmal in aggressive Tötungsphantasien ab und auch der Off-Kommentator deutet einmal etwas an, will es dann nicht weiter ausführen. Resnais löst das schließlich – mehr oder weniger – auf, aber er hätte jederzeit auch den anderen Weg einschlagen können, im Film liegt das Reich der Möglichkeiten immer nur einen Schnitt oder einen Kameraschwenk weit entfernt und jede Szene setzt den Ton einer Erzählung neu. Ein bißchen funktioniert LES HERBES FOLLES wie ein Kaleidoskop: Am Ende ergeben das Magische und das Reale, das Dramatische und das Absurde, das Traurige und das Farbenfrohe eine bunte Mischung, die sich im Kopf des Zuschauers zu einem Muster zusammensetzt – und das nach jedem Drehen immer wieder neu.

Der Kommentator, den man nie selbst zu Gesicht bekommt, erzählt in manchen Szenen, das was gerade eben schon zu sehen war, dann schweigt er lange Zeit wieder – auch die Handlung von THE BRIDGES AT TOKO-RI erzählt er dem Zuschauer nach, aber wenn man wirklich wissen will, was passiert, sollte man den Film wohl selbst noch einmal sehen, denn zuverlässig ist der Erzähler nicht. Als der Film dann zu Ende sein sollte (so würde es zumindest das Genre wollen) und der „FIN“-Schriftzug eingeblendet wird, geht er dann doch einfach weiter, und als er dann aufhört, hat er kein wirkliches Ende. Es ist eben alles möglich in dieser federleichten Meditation über die Variationen einer Erzählung und die Freiheit des Kinos, die so ungezähmt daher kommt wie wilde Gräser, die aus einer Asphaltdecke hervorbrechen.

VORSICHT SEHNSUCHT ist am 22. April in den deutschen Kinos angelaufen.

Bild: Schwarz-Weiß Filmverleih

100 Deutsche Lieblingsfilme #9: Sylvie (1973)

SYLVIE von Klaus Lemke ist eine Liebeskomödie voll verschmitzter Ironie und sanfter Melancholie. Eine ziemlich waghalsige Mischung aus direct cinema-Doku über den Alltag des Fotomodells Sylvie Winter und fiktiver Liebesgeschichte zwischen Sylvie und ihrem Taxifahrer Paul. Heimlich und leise ist es auch ein Film über das Nord-Süd-Gefälle in Deutschland, und über den großen Sehnsuchtsort Amerika, an dem man doch nie bleiben kann. Und vielleicht ist SYLVIE auch die Verfilmung des Liedes „Backstreet Girl“ von den Rolling Stones, dessen wehmütiges Akkordeon-Solo den Soundtrack liefert.

Paul ist Sylvies Taxifahrer, aber eigentlich ein Seemann und lebt in München bei seiner Mutter. „Er ist ein bisschen schwer von Begriff“, meint sie einmal über ihn und wirklich etwas anfangen kann er mit ihrer Zuneigung dann auch nicht. Obwohl er sie zuerst geküsst und in einem wahren Redeschwall von seinen Seemannsabenteuern in New York erzählt hat. Er will lieber wieder aufs Meer fahren und als sie ihn abends mit zu sich nehmen will, fährt er heim zu Mama. Für ihn ist sie das, was er an Land erlebt hat, das Pin-Up-Girl für einsame Nächte auf See. Eine Sehnsucht, der man besser nicht zu nah kommt. Eine kurze Liebe, ein großes Missverständnis.

Lemke hat wunderbar trockene Dialoge geschrieben, aber es ist vor allem eine Geschichte der Blicke. Die professionellen Blicke, die Sylvie in die Fotokameras und von den Magazincovern wirft, und die zärtlichen, herausfordernden Blicke, mit denen sie Paul anschaut. Die begehrlichen Blicke der älteren Herren und der neugierige, distanzierte Blick von Paul. Vermutlich ist es gerade seine Begriffsstutzigkeit, die Sylvie so an ihm mag, denn ihre Welt ist eine ganz andere: Reiche Männer. Exzentrische Photographen (einer davon gespielt von Werner Bokelberg, dem Society-Fotograf der Sechziger). Champagner. New York.

Bei Lemke in den Siebzigern schreiben immer alle über den Schnitt von Peter Przygodda, zu Recht, aber ich will die knappen Zeilen lieber nutzen um von Lothar Stickelbrucks Kamera zu schwärmen. Als Sylvie in New York ist, gibt es eine unglaubliche Hubschrauberfahrt, um das World Trade Center schwingt die Kamera sich herum bis hoch zum Dach, auf dem gerade die Fotosession stattfindet. Wie er in der Stadt ihre Sehnsucht filmt, wenn sie mit dem groben Fotografen auf die U-Bahn wartet, er unscharf im Vordergrund und sie hinten in die Ferne blickend. Und dann gibt es auch eine Szene in einem New Yorker U-Bahn-Waggon, die damals noch richtig heruntergekommen waren, die Kamera schaut sich neugierig um, den anderen Fahrgästen direkt ins Gesicht. Es ist an diesem Ort, als Sylvie entdeckt, dass sie in Paul verliebt ist, und seinen Namen zu den anderen Graffitis an die Wand schreibt.

Später, wenn er zurück nach Hamburg muss, läuft sie seinem Zug hinterher, aber er besäuft sich lieber als Zeit mit ihr zu verbringen. Er liegt dann betrunken brabbelnd da und sie schaut ihn verliebt an und wirft ihm Schlaftabletten in die Bierdose, in der Hoffnung, er würde die Endstation verschlafen. Das sind vielleicht die schönsten und traurigsten Momente des ganzen Films, denn so schauen wie Sylvie Winter konnte keine Zweite.


Sylvie – Deutschland 1973 – Regie & Drehbuch: Klaus Lemke – Produktion: Harald Müller, Willi Segler – Schnitt: Peter Przygodda – Kamera: Lothar Elias Stickelbrucks – Darsteller: Sylvie Winter, Paul Lys, Ivan Desny, Guido Mangold, Werner Bokelberg, Peter Böhlke, Heinz Badewitz

– SYLVIE ist als selbst gemachte DVD in großartiger Bildqualität bei Hanseplatte erschienen. –