Zeitnah gesehen: The Mule (2018)





Als einer hinter seiner nüchternen – mit dem Auge auf Regisseur Eastwood, sein Alter, seinen Hintergrund als Filmemacher würde mancher sicherlich eher zu dem verschämten Lobwort „klassisch“ tendieren – Fassade eventuell filmarchitektonisch ausgeklügeltster Film des vergangenen Jahres gibt „The Mule“ schon mit seiner zeitlich versetzten Einleitung den Takt vor für das, was ihn in den kommenden so gut wie zwei Stunden antreiben wird: Eine Dekonstruktion fast des gemeinhin mit visueller Opulenz assoziierten Scopeformates, spezifischer jedoch dessen, was zwischen den dazugehörigen Kaschierungen der Leinwand so gerne verhandelt wird. Träume, Freiheit, insbesondere auch räumlich gedachte Sehnsüchte. Die Weite des so oft in diesem Seitenverhältnis sortierten amerikanischen Westens, sie ist schlicht und speziell in Erwartung des zu Beginn von zartesten Auslösereizen angetäuschten Vorstadtcowboyaufrührertums aus dem letzten „großen Abgesang“ des Eastwoodschen Werkes – „Gran Torino“ (2008) – nicht hier. Aneinandergereiht an ihrer statt: Unzählige Möglichkeiten der baulichen Obstruktion. Sich von dem anziehenden Rechteck des Bartresens, an dem Earl Stone (Eastwood) der Tochters Hochzeit auslassend versumpft, wegbewegend zu den in indirekter fotografischer Analogie vertraut wirkenden Flachbauten ein jeder amerikanischen Vorstadthölle, zwischen denen nun die Enkeltochter zwölf Jahre später ihr Hochzeitsbesäufnis begehen darf.

Abgefrühstückt in den ersten zehn Minuten ist diese Grundsituation so indikativ für Eastwoods nach wie vor atemberaubendes Verständnis einer visuellen Erzählökonomie wie das simplizistische Motiv hinter Earls rasch eingerückter Karriere als Drogenkurier. Mit ausreichender Distanz zum großen Mann von ihnen gerahmt steht er dann da zwischen seinen Mitmenschen, als edler Spender der Hochzeitstränke oder Retter der ansässigen Veteranenkneipe mit stolzem Lächeln im Gesicht. Im Grunde ist es ganz einfach: Das Gefühl einmal etwas Besonderes sein zu wollen, das Drängen hin zur überragenden Brillianz des Vertikalen wirkt nachvollziehbar in einer Welt, in der alles eben wirkt, in der dieses Ebene schon beginnt die Dimension der mannigfach durchfahrenen Ebene einzugrenzen. Ein auffälliger Mangel an dem Kino der Weite eigenen, das Bild in zwei distinktive, potentiell in zwei endlose Ausdehnungen aufspaltende Aufnahmen aus der Vogelperspektive durch die Landschaft verfolgter Autos tritt ans Tageslicht. Präferiert werden mit ausgestellter Methodik Seitenaufnahmen nur einer Straßenseite, selten weiter von ihrem Bezugsobjekt entfernt als in der Halbtotalen, nah am Boden gebaut und selbst wenn von erhöhter Position aus vorgenommen zuverlässig gesprengselt mit die Unendlichkeit der Traumlandschaften ausbremsenden Hindernissen. Anzeigetafeln im Wüstensand, akkurate, nicht entgegen der vorgeschriebenen Laufrichtung zu durchschreitende Schneisen in Feldern, wieder und wieder Fensterscheiben außen wie innen, Rückspiegel, Nummernschilder präzis in die Kadrage eingelassen. Anderswo die feinsäuberlich ausgestellten Zertifikats- wie Bilderreihen der schmucklosen DEA-Büros mit ihren in die Decke gefrästen Lampen und Glasfronten, die drohend aus dem Garagentor hervorstechenden Guckschlitze, durch die seine späteren Partner Eastwood beim ersten Aufeinandertreffen beäugen. Abschließend die schiere Schönheit des letzen Bildes in all seiner nach der Hetzjagd des Lebens fast ernüchternden Pracht. Unterm Horizont das hässlich-kastenartige Gefängnis hinter den die nie gefundene Altersruhe nachliefernden Blumenbeeten hinter dem Innenzaun hinter der gepflegten Kleinstrasenfläche hinter dem Außenzaun.

Rechtecke kennen viele Erscheinungsformen in diesem Film, allein einen Zweck allerdings: Verknappung des frei beschreitbaren Raumes. Assoziativ gleitend erzählt er nahtlos, sonderbar frei der Mühe zwischen ihnen durch. Der Bartresen morpht zum Flachdach, die getönte Seitenscheibe, durch die wir den netten Earl seinen mexikanischen Dealpartner fürsorglich wachklopfen sehen, wird durch die Montage im nächsten Augenblick zur einseitig verspiegelten Glasabtrennung im Verhörraum sowie als imponierende Krönung dieser Übergänge: die exakte Bestimmung seines Blickverlaufes als Daumenkino wenn Clint zum ersten Mal seiner geheimnisvollen Fracht auf den Grund geht: Frontscheibe, Refokussierung auf Innenspiegel, Umschnitt zur Heckscheibe und dem durch sie hinweg die Neugier schürenden Kofferraumdeckel, plötzlicher trunk shot mit fragilsten Randfilamenten, die die Grenzen der Kadrage aber eben nicht nur dieser feingliedrig vorgeben. Nur einmal bricht „The Mule“ aus diesem formativen Konzept aus … um umso unerbittlicher zuzuschlagen. Aus dem starren Zeitplan einmal zu oft unplanmäßig entflohen wird Eastwood von neuen, härteren Kartellmitgliedern durch den gleichen Waldabschnitt gefahren, den er nur kurz zuvor tatsächlich einmal von oben gefilmt durchschneiden durfte. Um ihn hinzurichten möchte man meinen und erhält doch, wie der ältliche Kurier auf der Leinwand, nur eine eindringliche Lektion in Formenlehre. Dieses Mal von unten zu den schwindelerregenden Höhen der Baumkronen aufblickend eingefangen wird die neue Enge im Alten allzu harsch klar, wie der verstohlen zwischen dem Vorhangsschlitz auf eine nächtliche Drogenkontrolle lugende Earl fängt sie exakt jenen Moment ein, an welchem die auch in ihr tadellos funktionierenden Grenzen der Gesellschaft den Glanz der Vertikalen wieder aufzufressen zu beginnen. Gibt es eine Lehre aus Eastwoods wertungsfreier Nachschilderung, so ist es vielleicht diese: Den amerikanischen Traum seziert am gründlichsten, wer ihn gelebt, verinnerlicht, auch selbst geträumt hat; es möglicherweise immer noch tut. Ein knöchriger Konservativer wie Eastwood, ganz auf der Höhe der Zeit legt er frei, was heute zumeist vergessen scheint: Scharfsinnige Bestandsaufnahmen können auch aus unerwarteter Richtung anrauschen.


The Mule – USA 2018 – 116 Minuten – Regie: Clint Eastwood – Produktion: Clint Eastwood, Dan Friedkin, Jessica Meier, Tim Moore, Kristina Rivera, Bradley Thomas – Drehbuch: Nick Schenk, nach einem Artikel von Sam Dolnick – Kamera: Yves Bélanger – Schnitt: Joel Cox – Musik: Arturo Sandoval – Darsteller: Clint Eastwood, Bradley Cooper, Dianne Wiest, Alison Eastwood, Michael Peña u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, März 24th, 2019 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Zeitnah gesehen: The Mule (2018)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (25-03-19) on März 25th, 2019 at 17:31

    […] – André Malberg schreibt auf Eskalierende Träume über Clint Eastwoods Spätwerk „The Mule“. […]

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