Zeitnah gesehen: Luz (2018)





Es liegt in der Natur der Sache, dass es einigermaßen schwer fällt, über die narrative Ebene eines Filmes zu schreiben, dessen Figuren sich allem Anschein nach erfolglos mit Versuchen der Rekonstruktion eines für sie schlüsselhaften Ereignisses beschäftigen. Lassen wir dies also und richten an dessen Statt den Blick auf das, was sich an Tilman Singers Langfilmdebüt „Luz“ ganz und gar nicht geheimniskrämerisch, sondern vielmehr auf größtmöglichste Weise präzis und ausgereift gibt – die fabelhafte Inszenierung, die snobistischere Gemüter mit ziemlicher Sicherheit nicht aus dem Umfeld von Abschlussarbeiten deutscher Filmhochschüler erwarten dürften.

Luz beginnt mit zwei Menschen, der eine Empfangsherr einer Polizeiwache, die andere titelgebende Hauptfigur und Taxifahrerin Luz, die sich von den entgegengesetzten Randpolen der Scopekompositionen zu belauern scheinen. Sie schlurft wie in Trance mit herabbaumelden Gliedern umher, wird nicht beachtet, scheint sich in der weiten Leere der Kadrage zu verlieren und überschreitet doch nie auch nur versehentlich die Demarkationslinie zwischen den gegenüberliegenden Revieren. Der Ämtergang alter, der Wirtschaft überflüssig gewordener Menschen durchexerziert am Körper einer jungen Frau – so möchte man fast meinen. Alles weit entfernt, alles seltsam alterslos. Selbst ihr fragender Vorwurf, ob der Andere den Rest seines Lebens so verbringen wollte, bahnt sich aus in geradezu respektvoller Distanz vor der Empfangstheke aufgebahrten Lippen seinen Weg. Es ist diese Reserviertheit bei gleichzeitiger Akuität des Tonfalles, die in den rasch herbeigeschnittenen, eher assoziativ verknüpften weiteren Handlungsorten künstlich-krass in alle erdenklichen Richtungen überdehnt werden soll. In einer außerweltlichen Bar lässt der stetig eskalierende Rhythmus eingeschnittener Totalen von begierig Kokain aufsaugenden Nasen und Drinks zusammenrührenden Händen zwei Menschen aneinanders Mundwerk kleben, die sich doch nur Nichtiges, kaum Erfassbares zuspielen, dabei immerzu gehemmt durch Trennwende, exaltierte Sitzdistanzen, dann wiederum enthemmt durch nahtlose Übergänge zu keinerlei Intimsphäre würdigenden Gesichtsinvasionen. Es ist ein rücksichtsloses Ausquetschen nach Information, nach Einordungsmöglichkeiten in einer fragmentarischen, jedweden Halt negierenden Welt, in höchster Vollendung auf den Punkt gebracht durch sich mehrmals im wahrsten Sinne des Wortes gegenseitig aussaugende Menschen. In gewisser Weise ist „Luz“ der ungewöhnlich kodierteste Vampirfilm der letzen Jahre.

Dieser auf Affektwirkung bedachte, blitzartig auf den Zuschauer übergreifende sowie durch Simon Waskows famos zwischen zittrig-nervös und elegisch-krautrockig oszillierenden Score ins Unermessliche gesteigerte Sog wird gebrochen durch die abseits narrationsbedingter Eruptionen fast distinguierte Ruhe ausstrahlende Mise en Scène. Paul Faltz‘ beeindruckendes Kameraauge vermisst nicht, wie es die in ihren dominant aufgetragenen Tönen klassisches Hollywoodmelodram herbeibeschwörende Farbdramaturgie nahelegt, verspielt die bedrohlich kargen Räume, wird vielmehr von tiefbrauner Holztäfelung oder dem klinischen Weiß der Bäder erdrückt, in besonders fotogene statische Aufnahmen wie Raumecken zurückgeprügelt den Seheindruck des überrumpelten Zuschauers imitierend. Wechselwirkungen zwischen dem Erleben der Menschen auf und vor der Leinwand wie diese machen einen beträchtlichen Teil der Faszination aus. Und doch bleibt alles virtuell, die Rückschauversuche im das Gros der Spielzeit ausmachenden Polizeiverhör der Hauptfigur trotz ausgeklügelter Wahrnehmungsebenen letztlich undurchdringbar. Die Plastizität der Erinnerung ist unzureichend, alles – Alter, Lebenszeit, Vergangenheit, Zukunft, du, ich, die Anderen – so weit weg. Darin, in dieser – wie man meinen will – fast körperlich greifbar werdenden Bebilderung einer flüchtigen, den Menschen und ihren Erlebnissen nie völlig gerecht werdenden Gesellschaft ist „Luz“ dem deutschen Kino dieser Tage, das doch so gerne noch in den Problemen von gestern schwelgt, über und steht allein auf weiter Flur als der wohl gegenwärtigste Film seines Jahrgangs.

Luz – Deutschland 2018 – 70 Minuten – Regie: Tilman Singer – Produktion: Dario Mendez Acosta, Tilman Singer – Drehbuch: Tilman Singer – Kamera: Paul Faltz – Schnitt: Fabian Podeszwa, Tilman Singer – Musik: Simon Waskow – Darsteller: Luana Velis, Jan Bluthardt, Julia Riedler, Nadja Stübiger, Johannes Benecke und Lilli Lorenz

Dieser Beitrag wurde am Montag, November 5th, 2018 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Zeitnah gesehen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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