Tonino Guerras Amerika – Anmerkungen zu „L’Uomo Parallelo“



LUOMOPARALLELO

„Antonioni announced plans in Rome to do a technicolor movie concerning the riots. It would involve one man’s agony in trying to decide whether to throw a brick at the police and the entire movie would take place in a kitchenette apartment. Marcello Mastroianni would play the lead in blackface.“

Sam Greenlee
„The Spook who sat by the Door“

Als Tonino Guerra und Michelangelo Antonioni sich das erste Mal trafen, wussten sie wahrscheinlich nicht, dass sie einander den Durchbruch verdanken würden. Vor ihrer ersten Zusammenarbeit war Guerra mehr oder weniger über die Runden gekommen, schrieb Gedichte und Drehbücher, unter anderem mit Elio Petri. Nach 1960, nach „L’Avventura“ war alles anders. Der nicht unumstrittene Festivalerfolg öffnete Türen, Antonioni durfte mit Carlo Ponti und größeren Budgets hantieren, und Guerra arbeitete fortan mit den größten Regisseuren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen.
Guerra hatte Antonioni geholfen, sich selbst zu finden, und seitdem schrieben sie fast jeden Film gemeinsam. Wie groß Guerras Anteil an einem Antonioni-Film wirklich ist, bleibt letztendlich Geheimnis, einiges jedoch kann man erahnen, wie zum Beispiel die elliptische Erzählstruktur. „Eine Struktur kann eine starke Struktur der Unordnung sein. […] Ich suche letztendlich die Anti-Struktur“, so Guerra. Fernab von Aristoteles oder Syd Field entwickelte er eine individuelle Struktur, die zu der jeweiligen Geschichte passte.
In „L’Avventura“ verschwindet ein Mädchen, und taucht nicht wieder auf. Eine Kriminalhandlung wird angedeutet, und verblasst wieder. Und doch ist sie wichtiger Auslöser für das Handeln der Protagonisten. Was Guerra einem Film gibt, ist meist ein poetisches Element, sei es auf die Narration oder einen simplen Einfall bezogen: in Francesco Rosis „Dimenticare Palermo“ gibt es eine Episode mit Vittorio Gassman, der einen alternden Adeligen spielt, der unter einem von der Mafia aufgezwungenen Hausarrest leidet. Die Idee formulierte Guerra bereits in seiner Kurzgeschichte „Die Tür, die zugeht“. Sie wirkt im Film auf seltsame Art entrückt, und doch ist dieser exzentrische „Film im Film“ auf seine Weise der Kern von Rosis Film.
Manchmal schreibt Guerra noch nicht mal eine einzige Drehbuchzeile, wie bei Angelopoulos, sondern ist bloßer Zuhörer: Angelopoulos erzählt ihm seine Ideen, und er gibt seine Meinung dazu ab, und steuert vielleicht ein Gedicht bei oder eine Idee, die, sei sie noch so klein, den Film mitformt.

1969 unternahm Guerra seinen ersten und einzigen Amerikaaufenthalt im Zuge der Arbeit an Antonionis psychedelischem „Zabriskie Point“. Der Film hatte leider keinen Mastroianni mit schwarz angemaltem Gesicht zu bieten, wie das obige Zitat andeutete. Greenlees Buch erschien 1969, als der Film sich noch in der Vorbereitungsphase befand. Ob die Idee ernsthaft in Betracht gezogen wurde oder bloß als satirische Finte des Autors zu verstehen ist, weiß ich leider nicht. In Guerras im gleichen Jahr erschienenen Roman „L’Uomo Parallelo“ („Der Parallelmensch“) taucht sie jedenfalls wieder auf.

„Dann sehe ich am ende des demonstrationszugs hände, die einen sack hochhalten, und der sack kommt bis zu uns. Jemand macht ihn auf. Mehl. Die schwarzen laufen hinzu, bestäuben sich das gesicht mit mehl. Aber da kommen noch andere säcke mit ruß, und so schmieren die weißen sich schwarz an. Jetzt weiß man nicht mehr, wer ein weißer und wer ein schwarzer ist.“

Guerras Arbeit an „Zabriskie Point“ fiel zusammen mit einer emotionalen Krise, die für ihn in einem Nervenzusammenbruch endete. „L’Uomo Parallelo“ ist ein Zeugnis dieser verhängnisvollen Amerikareise und eine Art Nachtrag zu „Zabriskie Point“.
Ein italienischer Bildhauer hat einen Brunnen für eine amerikanische Bank entworfen, dieser verschwindet jedoch spurlos. Die Suche nach dem Brunnen führt ihn von Manhattan unter anderem nach Phoenix, Arizona, ins Death Valley.

Schon zu Beginn des Buches befindet sich der Bildhauer in einem fragilen Zustand. Allein die schiere Größe des Landes macht ihm zu schaffen. Man kann sich gut den bäuerlichen Guerra vorstellen (der schon mit Mailand und Rom schlecht zurechtkam), einer Flut von Bildern und Eindrücken ausgesetzt, die ihn niederdrücken. Die riesigen Hochhäuser mit all den Fremden darin, die anonymen Menschenmassen, der Fischgestank auf dem Fulton Market, die Demonstrationen auf der Straße. Dazu das Chaos im Kopf.
Interessant sind vor allem die kleinen Momente, die Guerra einfängt. Szenen, wie aus einem Antonioni-Film:

„Unversehens richtet sich meine aufmerksamkeit auf eine streichholzschachtel, die ich zu füßen einer roten mauer bemerke. Ich hebe sie auf. Ich öffne sie, als suchte ich in ihrem leeren innern einen teil meines brunnens. Ich schiebe die schachtel wieder zu. Ich lehne mich an diese rote mauer, die ich vorher staunend betrachtet hatte: eine backsteinmauer, die nie aufhört.“

Irgendwann hört der Körper des Bildhauers auf, auf ihn zu hören. Hände und Füße machen, was sie wollen. Er lässt es mit sich geschehen.

„Es ist offensichtlich, daß die menschen ihre natürlichkeit verloren haben und sich mit nachahmenden gesten bewegen, die suggeriert sind von der rotationspresse, dem fernsehen, der reklame und so weiter. Unsere eigenen bewegungen besitzen wir nicht mehr, und so sind wir sklaven des körpers, weil die gesten und ticks keinen inneren ursprung mehr haben.“

Guerra beschreibt die große Entfremdung. Es sind letztendlich nicht nur die Stadt, die Sprache, die Menschen – am Ende ist man selbst sich fremd geworden. Das haben er und Antonioni von „L’Avventura“ bis „Il Deserto Rosso“ beinahe manisch durchexerziert. Doch während Antonioni euphorisiert war von Amerika und der Aufbruchsstimmung, die die Studentenrevolten nach sich zogen, zeichnete Guerra ein sehr persönliches Bild einer Reise ins Innere. Amerika ist nur die Spielwiese, auf der er seine Erinnerungen und seine Geschichten ausbreitet. Assoziativ bewegt er sich von einem Thema zum anderen. Die Streichholzschachtel, die er findet erinnert ihn an seinen Vater, der ebenfalls die Staaten besuchte, um seinen Bruder zu finden, was ihn wiederum an den Krieg denken lässt:

„Und da gab es granaten, die zerrissen die luft in tausend stücke, zerrissen die sonne, zerrissen alles, und wenn sie nichts zerrissen, schüttelten sie die bäume, bis alle birnen herunterfielen und auch alle äpfel.“

Eine Szene, die in „La Notte di San Lorenzo“ der Taviani-Brüder wiederauftaucht, und ein gutes Beispiel für die Bildhaftigkeit von Guerras Texten. Seine Bilder sind klar, aber mehrdeutig. Prägnant, ohne dass sie ihr Innerstes ganz offenlegen. Guerra fasst es in „L’Uomo Parallelo“ selbst zusammen: „Früher wußte ich, wenn ein arm oder ein finger auf etwas zeigen, sah man das gezeigte ding oder man setzte dessen vorhandensein voraus. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist nur noch das zeigen da.“
Die Suche des Bildhauers führt ihn, genau wie in „Zabriskie Point“, ins Death Valley, das Guerra neue Bilder der Einsamkeit finden lässt:

„Alles in allem eine urzeitliche und zugleich zukünftige gegend. Zukünftig, weil die erde nach der explosion der atombomben so sein wird. Und ein paar überlebende werden stummen gedächtnislosen menschen begegnen. Mit körpern, die gesten vollführen, nur gesten.“

Diese Gesten sollen eigentlich an die Berufe erinnern, die die Menschen einmal ausgeführt haben, doch in „Zabriskie Point“ ist daraus ein großes, ekstatisches love-in geworden, unterlegt mit der Zeitgeist-Musik von den Bands jener Tage.
Guerra empfand, genau wie Antonioni, dass die Menschen den Bezug zu ihrer Umwelt und zu sich selbst verloren, doch er teilte nicht seinen Glauben an den Fortschritt und die evolutionäre Chance gesellschaftlicher Umwälzungen. In einem Interview, das Godard für die Cahiers du Cinéma mit Antonioni führte, erzählte er über „Il Deserto Rosso“: „Meine Absicht war im Gegenteil […] die Schönheit dieser Welt auszudrücken, in der sogar die Fabriken schön sein können […]. Die Linien, die Formen der Fabriken und ihrer Kamine sind vielleicht schöner als eine Baumreihe, die das Auge schon zu oft gesehen hat. Es ist eine reiche Welt, die lebendig und nützlich ist.“
Sein Glaube an die schöne, neue Welt führte ihn schließlich zu dem euphorischen Exzess von „Zabriskie Point“. Antonioni glaubte an die Zusammenführung, Guerra hingegen an die Heterogenität:

„amerika ist etwas, wo der mensch, wo alle umhergehenden menschen zerstückelt werden, bereits zerstückelt und verstreut sind über die ganze fläche amerikas, das groß ist mit seinen wüsten, aber voll von diesen augen, armen, ungleich zerbrochenen körpern, die mit dem einen bein hier laufen und wer weiß, wer das andere hat.“

Vielleicht ist „L’Uomo Parallelo“ ein mehr oder weniger indirektes Dementi gegenüber dem positiven „Zabriskie Point“. Es ist aber auch eine Ergänzung zu Guerras erstem Roman „L‘Equilibrio“, der sich ähnlichen Themen widmet. Gleichzeitig ist es die einmalige Gelegenheit zu erleben, wie Guerras poetische Sensibilität auf das große, widersprüchliche Amerika trifft:

„In den augen der amerikaner von arizona und auch von texas oder nevada und ebenso von kalifornien sind die wüsten […] und sie tragen die wüste mit sich herum und kilometer von luft, wenn sie einem ins gesicht sehen.“

Quellen:

Greenlee, Sam: The Spook Who Sat By The Door. Detroit, 1990.

Guerra, Tonino: Abandoned Places. Toronto, Buffalo, Lancaster (U.K.), 1999 (Essential Poets Series; 74).

Guerra, Tonino: Der Parallelmensch. Olten und Freiburg im Breisgau, 1972.

Guerra, Tonino u. Roland Günter: Aufbruch in Troisdorf. Am Rhein begann das Werk des Dichters und Drehbuch-Autors Tonino Guerra. Essen, 1992.

Michelangelo Antonioni. Hg. v. Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte. München, Wien: Carl Hanser Verlag, 1984 (Reihe Film; 31).

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Juli 10th, 2013 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Sven Safarow, Verschiedenes veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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